Am 23. April 1994 erzielte Thomas Helmer einen Treffer, der keiner war. Am Saisonende wurden die Bayern auch deshalb Meister – und Nürnberg stieg ab. Dem Linienrichter Jörg Jablonski kostete das Phantomtor die Karriere.
Dies ist ein Auszug aus unserem 11FREUNDE-Spezial „Tooor“. Alle Treffer, Torjäger und Geschichten zum elementarsten Bestandteil des Fußballspiels findet ihr in diesem Heft, was direkt hier bei uns im 11FREUNDE-Shop erhältlich ist.
Der Verhandlungssaal im Sportgericht Frankfurt am Main ist völlig überfüllt. 100 Journalisten und Fotografen kämpfen mit 15 Kamerateams um die besten Plätze. Es ist der 26. April 1994, ein Dienstag. Auf der Anklagebank sitzen drei Männer. Jörg Jablonski und Carsten Byernetzki, Linienrichter, und Hans-Joachim Osmers, Schiedsrichter.
Die riesigen Objektive der Kameras und Fotoapparate sind nur 20 Zentimeter von den Gesichtern der Unparteiischen entfernt. Es riecht nach Schweiß und Sensationsgier. Osmers dreht sich zu seinen Schiedsrichterkollegen und murmelt: „Haben wir jemanden ermordet?“ Die Gerichtsverhandlung im Fall Phantomtor hat begonnen.
Natürlich hat hier niemand irgendwen umgebracht. Aber drei Tage zuvor, am 32. Spieltag der Saison 1993/94, im Spiel des FC Bayern gegen den 1. FC Nürnberg, hat Hans-Joachim Osmers ein Tor gegeben, das kein Tor war. Bayerns Abwehrmann Thomas Helmer hatte den Ball nach einer Ecke höchst umständlich neben das Tor bugsiert, Linienrichter Jörg Jablonski entschied dennoch auf einen Treffer, und weil sein Chef diese Entscheidung akzeptierte, weil an diesem verrückten Tag noch andere Dinge passierten, die abstiegsbedrohten Nürnberger mit 1:2 verloren und einen Protest gegen die Spielwertung einlegten, sitzen sie jetzt hier und warten auf eine Entscheidung.
Der Fehler beendete seine Karriere
Es geht um die Frage, was eigentlich genau passiert ist. Warum die Schiedsrichter auf Tor entschieden, wo doch jeder Mensch mit funktionierendem Augenlicht sehen konnte, dass der Ball neben den Pfosten ins Aus kullerte. Wer Schuld hatte. Und wer dafür büßen muss.
Noch 24 Jahre später ist das sogenannte Phantomtor ein Mythos der Bundesligageschichte. Auch deshalb, weil diese eine Fehlentscheidung schwerwiegende Folgen für zumindest einen der Beteiligten hatte. Und weil die, die dabei waren, sehr unterschiedliche Erinnerungen haben.
Der Hauptdarsteller dieser Geschichte möchte nicht mehr darüber sprechen, was damals passiert ist. Jörg Jablonski, heute 58, stand an der Seitenlinie und hob die Fahne, als Helmer sein Nicht-Tor erzielte. Er arbeitete damals als Sanitätsfeldwebel, sein Ruf als Unparteiischer war tadellos. Doch dieser eine grobe Fehler beendete seine Laufbahn als Schiedsrichter.
Es gibt noch einiges zu klären
Der Bremer erhielt sogar Morddrohungen, jahrelang rieben ihm die Menschen seinen berühmten Patzer unter die Nase. Inzwischen, sagt Jablonski am Telefon, sei doch alles gesagt, man möge ihm verzeihen, dass er einen Schlussstrich unter die Geschichte gezogen habe. Phantomschmerzen.
Jablonskis Kollegen von damals haben deutlich weniger Schaden genommen und deshalb auch kein Problem damit, sich an den 23. April 1994 zu erinnern. Man solle den Hans-Joachim schön grüßen, sagt Carsten Byernetzki zum Abschied. Byernetzki, damals zweiter Linienrichter, arbeitet heute als Geschäftsführer des Hamburger Fußball-Verbandes und hatte erst kürzlich das Vergnügen, mit Phantomas Helmer bei einer Veranstaltung auf einer Bühne zu stehen, um über eben jenes Tor zu sprechen.
Seine Erinnerungen sind aufgefrischt, er erzählt sie so schnörkellos, als wäre das alles erst vergangene Woche passiert und nicht vor mehr als zwei Jahrzehnten. Er müsse endlich mal wieder mit dem früheren Kollegen Osmers ein Bier trinken. Das sollten sich die beiden Männer in der Tat mal in den Terminkalender schreiben. Es gibt noch einiges zu klären. Zum Beispiel, was damals genau passiert ist. Denn Osmers und Byernetzki erzählen zwar ein und dieselbe Geschichte. Aber mit verschiedenen Handlungssträngen.