„Alles, was ich über Moral und Verpflichtungen weiß, verdanke ich dem Fußball.“ Dieses Zitat machte Albert Camus im Stadion bekannt. Der Schriftsteller war ein passabler Torwart und passionierter Fan. Seine Liebe zum Spiel beschrieb er 1957 für das Magazin „France Football“.
Schmerz, Ekstase, Pathos, Leiden. Ja, Camus wusste wirklich, wie ein guter Text über Fußball funktioniert. Und er wusste, wie der Fußball funktioniert, aus eigener Erfahrung. Der Literat und Philosoph, der Résistancler und Nobelpreisträger, er war durch den Strafraum geflogen und hatte Stollentritte kassiert. 1957 bat die französische Fußballbibel „France Football“ den gerade in Stockholm Prämierten um einen Beitrag. Weil sich in Camus‘ Kalender die Termine drängten, schickte er einen Artikel nach Paris, der schon 1953 für die Verbandszeitung seiner algerischen Mannschaft RUA entstanden war. Die Zeilen sind eine Offenbarung. Sie nehmen, wenn man so will, vieles vorweg, was vierzig Jahre später „Fever Pitch“ wiederkäuen sollte. „Ab Sonntag fieberte ich dem Donnerstag entgegen, wenn wir Training hatten, und ab Donnerstag dem Sonntag, wenn wir Spiel hatten“, dichtet Camus. Das Bonmot hätte ohne Weiteres auch aus Hornbys Feder stammen können.
Spuren im literarischen Nachlass
1928 trat Camus in der ASM gegen den Ball. Die Association Sportive Montpensier wurde zum ersten Verein, dabei wohnte der pubertäre Albert eigentlich in Belcourt. Er war einem Kumpel gefolgt, „einem Behaarten, mit dem ich oft im Hafen schwimmen ging“, und lernte: Seinen Klub kann man sich nicht aussuchen. Dass Camus dem Fußball schon viel früher, als Kind, verfiel, offenbart „Der erste Mensch“, der posthum publizierte Roman mit autobiografischen Zügen.
Hier muss Held Jacques im Klassenzimmer den Spott der Kollegen ertragen, wegen des zu großen, gebauschten Regenmantels, den er trägt. Unter freiem Himmel aber ist er der King, „auf dem Pausenhof, wo der Fußball sein Reich war.“ Er spielt, bis seine Schuhsohlen vor Löchern klaffen. Er lügt, um seiner Großmutter die Löcher zu erklären. Er klaut, um live im Stadion zu feiern. Jacques Cormery, der erste Mensch. Albert Camus, der erste Fan.
Mit dem ASM kickte Camus auf dem Champ de Manoeuvres. Ein schorfiges, schrammiges Feld: „Ich begriff sofort, dass der Ball nie so auf einen zukommt, wie man es erwartet. Das war eine Lektion fürs Leben.“ Camus erkannte im Fußball den Zufall, der auch den Alltag lenkt. Da sind Roteiro, Jabulani und Torfabrik noch gar nicht erfunden. Als Torwart nahm er die Kunst der Skurrilität auf besondere Weise wahr. Den abgefälschten Schuss, die Unberechenbarkeit, das spontane Moment des Spiels.
Was würde Camus wohl zum Fußball des 21. Jahrhunderts sagen, den bedeutungsschwangere Vokabeln wie Matchplan, Systemik, Scouting und Computeranalyse prägen? Wäre er kein Fan mehr oder wäre er gerade deshalb Fan? Immerhin gibt es auch im Löw-Zeitalter högschter Planung einen Champions-League-Sieger FC Chelsea, der mit einem Kopfball und dem Pfosten das ganze Mia-san-Finale partycrasht, es gibt walisische Underdogs, die durch die mächtige Premier League wirbeln und manchmal wird sogar Griechenland Europameister. Bis heute hat sich der Fußball also ein Stück seiner Unlogik bewahrt. Mit anderen Worten: Er ist ein bisschen absurd geblieben. Albert Camus, dem Großmeister des Absurden, könnte das gefallen.
„Das dämlichste Herzklopfen“
Nach seinem Wechsel zum RUA stand Camus wöchentlich im Tor. Sein Text für „France Football“ erzählt von den überharten Duellen gegen Olympique d’Hussein und davon, wie er vom Spieler zum Fan wurde. Als ihn die Tuberkulose zum Zuschauen verdammt, danach noch, als er längst berühmt ist und mit Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir verkehrt, hält er Racing Universitaire d’Alger die Treue: „Ich ahnte nicht, dass mich noch zwanzig Jahre später in den Straßen von Paris oder Buenos Aires das dämlichste Herzklopfen überkommen würde, wenn ein Freund oder Bekannter das Wort RUA aussprach.“.
Dabei war der Verein eine notorische Plage, ständig verloren die Jungs in den blau-weißen Streifen, „selbst die Spiele, die sie nun wirklich gewinnen müssten.“ Camus störte sich daran nicht. „Genau dafür habe ich schließlich meine Mannschaft so geliebt: nicht nur wegen des Siegestaumels, der umso herrlicher ist, wenn man die Erschöpfung nach der ganzen Anstrengung spürt, sondern auch wegen dieser Abende nach einer Niederlage, wenn einem zum Heulen zumute war.“ In ihrer Trotzigkeit erinnert die Beschreibung an ein anderes Werk von Camus, an eine andere Figur: Sisyphos.
Auch Oliver Kahn wusste: Weiter, immer weiter
So weit auseinander liegt der RUA nicht mit dem revoluzzenden Steinewälzer vom Hadesberg. Die Niederlage als aussichtsreichste Chance, der ständige Neuanfang unter Schweiß und Kraft, das Immerwieder, Immerweiter, eine absurde Aufgabe in Dauerschleife, der Fatalismus – diese Dinge finden wir im Fußball wieder. Spieltag für Spieltag, Saison für Saison. Camus, der große Radikale, der Grübler und Raser und Poser, passt in die Kurve.
Wahrscheinlich war alles, was er über Moral und Verpflichtungen wusste, wirklich dem runden Leder zu verdanken. Wahrscheinlich reifte seine berühmte Theorie des Absurden tatsächlich zwischen den Pfosten heran. Dann müssen wir uns Albert Camus als glücklichen Fan vorstellen.