In der aktuellen Ausgabe von 11FREUNDE gedenken wir dem Jahr 1992, einer Zeit der großen Veränderungen im deutschen Fußball. 1992, das war aber auch das Jahr des größten Triumphes in der Geschichte von Werder Bremen. Die wahre Krönung von König Otto Rehhagel geschah im Europapokal der Pokalsieger. Chronik einer märchenhaften Saison.
18. September 1991
Werders Reise durch Europa beginnt am 18. September 1991 in Bacau im Nordosten Rumäniens. Nach einer 1:2‑Niederlage gegen die Stuttgarter Kickers reisen die Bremer als 13. der Bundesliga nach Osteuropa. Werders Profis erleben eine Stadt am Rande des Zusammenbruchs. Weil kein Hotel in Bacau in der Lage ist, die Fußballer aufzunehmen, werden sie in einer Bettenburg vom „Deutschen Roten Kreuz“ untergebracht. Als Abwehrspieler Manni Bockenfeld einen kurzen Spaziergang durch die Straßen Bacaus wagt, fängt es an zu regnen. Bockenfeld: „Der Regen schmeckte nach Benzin!“ Die vollkommen heruntergewirtschafteten Chemie-Fabriken der Stadt haben die Wolken über Bacau mit saurem Regen vergiftet. Werder gewinnt mit 6:0, das Rückspiel knapp zwei Wochen später endet mit 5:0 für die Bremer. Übrigens mit dem wohl schönsten Tor in der Karriere von Stefan Kohn.
23. Oktober/6. November 1991
Werder gewinnt das Achtelfinal-Hinspiel gegen Ferencvaros Budapest mit 3:2. In Budapest reicht ein Tor von Marco Bode kurz nach der Pause zum Weiterkommen. In der Bundesliga steht der Deutsche Meister von 1988 erneut auf Rang 13. Das 0:2 am 16. Spieltag gegen den 1. FC Kaiserslautern sehen gerade einmal 17.000 Zuschauer.
Februar 1992
Im griechischen Restaurant „Santorini“ in Delmenhorst nahe Bremen sitzen Uli Borowka, Jonny Otten, Oliver Reck, Günter Herrmann, Manni Bockenfeld und Klaus Allofs samt Anhang beim Ouzo danach. In der Bundesliga hat sich Werder im Niemandsland der Tabelle verloren, im Europapokal der Pokalsieger empfangen die Bremer in wenigen Tagen Galatasaray Istanbul zum Viertelfinal-Hinspiel. Manni Bockenfeld denkt laut nach: „Was machen wir eigentlich, wenn wir den Cup gewinnen?“ Stille. Uli Borowka hat schließlich die Idee: „Dann lassen wir uns alle eine Glatze schneiden!“ Die Frauen sind entsetzt, die Kollegen in der Klemme. Schließlich einigt man sich: Sollte der Europapokal tatsächlich gewonnen werden, kommen die Haare ab. Raspelkurz zwar nur, aber immerhin. Einzig Uli Borowka besteht auf Nassrasur. Klaus Allofs enthält sich.
4. März 1992
Schiedsrichter Mistkiewicz aus Polen pfeift das Spiel zwischen Werder Bremen und Galatasaray Istanbul an. Das Weserstadion ist mit 30.000 Zuschauer bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als die Hälfte der Fans trägt die Farben des türkischen Gastes. Stadt und Verein haben vor dem Spiel ein deutsch-türkisches Völkerfest veranstaltet. Die Stimmung ist trotzdem aufgeladen. Als Roman Kosecki Galatasaray nach 33 Minuten in Führung schießt, ist der Lärm ohrenbetäubend. Otto Rehhagel bringt Stefan Kohn und Marinus Bester, beide schießen jeweils ein Tor. Werder gewinnt mit 2:1.
13. März 1992
Werder verliert vor 10.210 Zuschauern im Weserstadion mit 1:3 gegen die Stuttgarter Kickers. Kurz vor dem Schlusspfiff brüllen die letzten im Stadion verbliebenen Zuschauer „Rehhagel raus!“ und: „Reinders! Reinders!“. Uwe Reinders, der ehemalige Bremer, ist eine Woche zuvor bei Hansa Rostock entlassen worden. Mittelfeldmann Thomas Wolter ist geschockt: „Ich spielte seit 1984 für Werder, aber das war das erste Mal, dass wir solche Rufe hörten.“ Nach dem Spiel sitzt Wolter in der Kabine und schielt zu seinem Trainer. Haben ihn die Rufe seiner Fans getroffen? „Er war ganz entspannt. Heute bin ich mir sicher, dass ihn dieser Gegenwind nur noch stärker gemacht hat.“
17. März 1992
Einen Tag vor dem Rückspiel im Viertelfinale des Europapokals der Pokalsieger hebt in Bremen eine Maschine mit Fußballern, Funktionären und Fußballergattinnen Richtung Istanbul ab. Mit viel Geschick landet der Pilot drei Stunden später auf dem Rollfeld des Istanbuler Flughafens. Die Stadt am Bosporus versinkt im Schneechaos. Ein historischer Wetterumschwung, mitten im März. Am Nachmittag bittet Otto Rehhagel zum Abschlusstraining im Ali-Sami-Yen-Stadion. Seine Spieler sinken auf dem vom Schneematsch ramponierten Rasen bis zu den Knöcheln ein, ein ein vernünftiges Training ist nicht zu denken.
Es ist 23 Uhr, als im Hotelflur auf der Etage, auf der die Gäste aus Deutschland untergebracht sind, eine Glastür zerschlagen wird. Der Krach lockt die Fußballer aus ihren Zimmern, ratlos stehen Werders Profis im Pyjama in ihren Türen und suchen nach der Ursache für die nächtliche Störung. Otto Rehhagel schickt seine Schützlinge wieder in die Betten. Eine halbe Stunde später schrillt der Feueralarm, die Hotelbesucher eilen in den Innenhof. Fehlalarm. An Schlaf ist weiterhin nicht zu denken: Eine Horde türkischer Fans kurvt hupend über den Hotelparkplatz und kann erst nach einer Stunde verscheucht werden.
18. März 1992
Istanbul ist immer noch Winterwunderland. Die Bremer Delegation ist sich sicher: Ein Fußballspiel kann heute nicht stattfinden. Stunden später, kurz vor dem Spiel, werden die Deutschen eines besseren belehrt. Der Schiedsrichter lässt die Partie stattfinden. Jetzt hat Werder ein Problem: Weil auch der Zeugwart die Wetterlage in Istanbul falsch eingeschätzt hat, fehlt es den Bremern an passendem Schuhwerk, der Koffer mit den langen Alustollen ist in Bremen geblieben! Die Rettung kommt aus der Luft: Ein Vereinsmitarbeiter bekommt noch einen Platz in einem Flieger voller Werder-Fans, mit dabei: Ein Satz Alustollen und Handschuhe gegen die Kälte.
Das Spiel beginnt. „Mit Fußball hatte das nichts mehr zu tun“, erinnert sich Uli Borowka. Kommt der Ball in die Nähe eines Bremers, lupft der das Spielgerät leicht an und schlägt es so weit wie möglich in die gegnerische Hälfte. Immer wieder fliegen Steine und Feuerzeuge auf den Platz und verfehlen die Spieler nur knapp. Immerhin können sich die Deutschen über einen taktischen Vorteil freuen: Während Istanbuls Spieler lange Unterhosen gegen die Kälte tragen, hat sich die Rehhagel-Elf für nackte Oberschenkel entschieden. Borowka: „Wir froren zwar wie die Schneider, aber sobald einer der türkischen Spieler auf den Rasen klatschte, sogen sich die Baumwollhosen mit Wasser voll.“
Die reguläre Spielzeit ist vorbei. Es steht 0:0, bleibt es dabei, ist Werder im Halbfinale. Doch Schiedsrichter Gitte Nielsen lässt lange nachspielen. Sehr lange. In der 95. Minute fliegt Dieter Eilts mit Rot vom Platz. Eine Minute später segelt eine letzte Flanke in den Bremer Strafraum. Ein Istanbuler erwischt den Pass mit dem Kopf, ein Aufsetzer. Schon mehrmals ist der Ball in diesem Spiel bei solchen Aktionen unkontrolliert weggesprungen. Roman Kosecki steht an der Grenze des Fünf-Meter-Raums und spekuliert genau darauf. Doch der Ball klatscht in den Matsch und bleibt liegen, Oliver Reck stürzt sich auf das Spielgerät. Das Spiel ist beendet. Die Fans aus Istanbul verabschieden den Bremer Mannschaftsbus mit einer Salve aus Steinen. Werder steht im Halbfinale des Europapokals der Pokalsieger.
27. März 1992
Nach einem 1:0‑Erfolg gegen Wattenscheid 09 am 21. Februar gelingt Werder gegen Fortuna Düsseldorf endlich wieder ein Sieg in der Bundesliga.
1. April 1992
Das Auswärtsspiel im Europapokal gegen den FC Brügge wird für Werder zum Spießrutenlauf. Als Wynton Rufer zum Aufwärmen auf den Rasen des Olympiastadions läuft, traut er seinen Augen und Ohren nicht. „Das ganze Stadion brüllte uns seinen Hass entgegen, es war der pure Hass. So etwas Schlimmes hatte ich zuvor noch nie erlebt.“ Wütend recken die Massen hunderte Plakate in die Höhe. Darauf steht: „Nazis!“ und „Nazis raus!“. Wynton Rufer, der Neuseeländern, wünscht sich in diesen Minuten zurück auf seine friedliche Insel: „Ich hätte mir am liebsten selbst ein Schild gemalt: ›Leute, ich bin aus Neuseeland, nicht aus Deutschland!‹“ Als Oliver Reck das Tornetz überprüft, wird er mit einer ersten Ladung Wurfgeschosse begrüßt. Feuerzeuge, Steine, sogar ein Messer landet neben Reck auf dem Rasen. Dieses gruselige Schauspiel wird sich im Spiel mehrfach wiederholen. Brügges bulliger Stürmer Daniel Amokachi überrascht die verunsicherten Bremer und trifft bereits in der 5. Minute zum 1:0.
Nach 69 Minuten verletzt sich Oliver Reck an der Schulter. Otto Rehhagel, der sich ebenfalls gegen Beschimpfungen und Wurfgeschosse von der Tribüne wehren muss, schickt Ersatzmann Jürgen Rollmann auf den Platz. Es bleibt beim 0:1. Als der Werder-Bus das Stadiongelände verlässt, hocken Spieler, Trainer und Offizielle im Gang, noch immer sind die Brügger nicht zu beruhigen. Endlich verstummt das düstere Trommeln des Steinhagels.
8. April 1992
Werder fliegt im DFB-Pokal-Halbfinale gegen Hannover 96 raus. Den letzten Versuch im Elfmeterschießen versenkt 96-Torwart Jörg Sievers gegen seinen Kollegen Jürgen Rollmann sicher.
11. April 1992
Noch vier Tage bis zum Halbfinal-Rückspiel gegen Brügge. Oliver Reck ist wieder gesund. Im Heimspiel gegen Dynamo Dresden steht trotzdem Jürgen Rollmann im Tor. Das Weserstadion ist mit 11.000 Zuschauern nur zu einem Drittel gefüllt. In der 56. Minute stößt Rollmann mit Dresdens Uwe Rösler zusammen, verletzt sich und muss ausgewechselt werden. Werder gewinnt durch Tore von Bode und Eilts mit 2:0.
15. April 1992
Jürgen Rollmann sitzt nur auf der Bank, Oliver Reck, der im Rückspiel gegen Galatasaray Istanbul eine gelbe Karte erhalten hatte und deshalb vorbelastet ist, steht in der Startelf. Das Spiel wird zu einer Geduldsprobe. Marco Bode gelingt nach einer halben Stunde das 1:0. Gegen die schnellen Booy, van der Elst und Amokachi müssen Rune Bratseth, Uli Borowka, Thomas Wolter und Manni Bockenfeld Schwerstarbeit verrichten.
Aus dem Auswärtsblock wird eine Leuchtkugel abgefeuert. Das flackernde Geschoss stürzt in die Bremer Kurve, trifft einen 38-Jährigen in die Brust und zerreißt dem Mann vor den Augen seiner Familie den Brustmuskel. Nur eine Not-OP rettet dem Mann das Leben.
59. Minute. Auf der rechten Außenbahn erkämpft sich Thomas Wolter den Ball, zieht zehn Meter vor dem Strafraum nach innen, macht einen großen Schritt und spielt den Ball dann mit links genau in den Lauf von Manni Bockenfeld. „Schönes Anspiel auf Bockenfeld!“, ruft Sat1-Kommentator Reinhold Beckmann. Bockenfeld lässt den Ball an seiner rechten Körperseite vorbei rollen, dreht sich und schießt. Der Ball schlägt knapp unter der Latte im Tor ein. 2:0. 20 Jahre später gibt Bockenfeld zu: „Ich wusste gar nicht mehr, wo das Tor steht. Ich habe einfach draufgehalten.“ Reinhold Beckmann jubelt: „Der Bockenfeld schießt für den SV Werder das 2:0. Das hätte auch niemand prophezeit!“ Werder rettet das Ergebnis über die Zeit – und steht erstmals in der Geschichte des Vereins in einem Europapokalfinale. Bitter: Oliver Reck hat seine zweite gelbe Karte im laufenden Wettbewerb erhalten. Für das Endspiel von Lissabon ist er gesperrt.
5. Mai 1992
Noch einen Tag bis zum Finale in Lissabon. Im korsischen Bastia findet an diesem Tag das französische Pokal-Halbfinale zwischen dem SSC Bastia und Olympique Marseille statt. Während des Spiels stürzt eine der Tribünen im Stade Armand Cesari ein. 18 Menschen sterben, 2357 werden verletzt. Werders Profis sind bereits in ihrem Hotel im Lissaboner Stadtteil Estoril, nahe der Formel-1-Rennstrecke, als die Nachricht die Runde macht. Werders Zeugwart organisiert für das Spiel am nächsten Tag schwarze Armbinden.
Otto Rehhagel bittet seine Mannschaft zu einer späten Sondersitzung. Und gibt bekannt, dass statt Stefan Kohn Routinier Klaus Allofs gegen den AS Monaco in der Startformation stehen wird. Wynton Rufer ist schockiert. „Ich hatte für das Spiel extra meinen Vater aus Neuseeland einfliegen lassen. Er war schon immer mein größer Kritiker. Um seine Erwartungen etwas zu dämpfen, hatte ich ihm bereits Tage vor dem Spiel gesagt: ›Monaco ist Favorit, wir werden dieses Spiel nicht gewinnen. Aber wir stehen im Finale und das ist doch auch was!‹ Nach der Sitzung rief ich ihn an: ›Dad, Rehhagel stellt Allofs auf! Jetzt verlieren wir auf jeden Fall…‹“
Rufers Angst ist nicht unbegründet, wegen verschiedener Wehwehchen hat der inzwischen 35-jährige Allofs zuletzt nur wenige Spiele von Beginn an bestreiten können und in der Erinnerung von Wynton Rufer „quasi kein Kniegelenk mehr, nach jedem Training waren seine Knie voll mit Wasser!“ Der Kommentar von Klaus Allofs 20 Jahre danach: „Fußballer sind gute Märchenerzähler. Mit jedem Jahr ist mehr Wasser in meinen Knien, bin ich schwerer verletzt. Aber das war Quatsch. Wenn ich wirklich so gehandicapt gewesen wäre, hätte mich Otto niemals aufgestellt. Ich war am 6. Mai 1992 durchaus ein vollwertiger Fußballspieler.“
Trotzdem ist Rehhagels Entscheidung eine Überraschung, mit der wohl niemand gerechnet hatte. Thomas Wolter meint dazu: „Große Trainer treffen eben große Entscheidungen. Das war so eine Entscheidung.“ Selbst Wynton Rufer sagt heute: „Es war ein Kniff! Klaus hatte in drei Jahren für Olympique Marseille und Girondins Bordeaux 34 Tore in 90 Spielen erzielt. Die Franzosen hatten Respekt vor ihm.“
6. Mai 1992 – Morgens
Die mitgereisten Pressevertreter haben noch einige Fragen an Otto Rehhagel. Als das Thema Klaus Allofs abgehakt ist, geht es um Torwart Jürgen Rollmann. Ist der Ersatzmann von Oliver Reck dem Druck gewachsen, und vor allem: Genügt er den Ansprüchen eines Europapokalendspiels? Rehhagels Antwort: „Wenn ich alle Torhüter der Welt zusammen hole und ihnen sage: Wer sich für den Besten hält, bitte zwei Meter vortreten, steht Rollmann schon da!“ Am Selbstvertrauen von Jürgen Rollmann muss bei Werder Bremen wirklich niemand zweifeln.
6. Mai 1992 – noch eine Stunde bis zum Anpfiff
Als Thomas Wolter das Stadion des Lichts von Lissabon betritt, um sich aufzuwärmen, ist er entsetzt: Nur 13.000 Zuschauer verteilen sich in der 130.000-Zuschauer-Schüssel. Ein trauriger Anblick. „Ich fand das schlimm. Wir spielten in einem Finale, da wollte ich auch Final-Atmosphäre! Immerhin haben die paar Tausend Werder-Fans ordentlich Rabatz gemacht. Trotzdem war das eher eine Stimmung wie bei einem Freundschaftsspiel.“
6. Mai 1992 – noch 15 Minuten bis zum Anpfiff
Otto Rehhagel kritzelt ein letztes Mal die Aufstellung an die Tafel: Rollmann, Bratseth, Wolter, Borowka, Bockenfeld, Votava, Eilts, Neubarth, Bode, Rufer, Allofs. Werder ist gegen Monaco, das mit George Weah, Emmanuel Petit, Youri Djorkaeff und Rui Barros über herausragende Fußballer verfügt, nur Außenseiter.
Es wird still in der Bremer Kabine. Uli Borowka erinnert sich: „Ich schloss die Augen und versuchte, mich zu konzentrieren, mich einzig und allein auf dieses Spiel zu fokussieren. Zwei Minuten lang war es mucksmäuschenstill in unserer Kabine. Wie Mitglieder einer Sekte fühlten wir uns alle irgendwie auf übersinnliche Art und Weise miteinander verbunden. Solch einen Moment der höchsten Konzentration habe ich nur dieses eine Mal in meinem Leben erlebt, an diesem 6. Mai 1992 in den Katakomben des Lissaboner Stadion des Lichts.“
6. Mai 1992 – Anpfiff
Nur wenige Sekunden sind gespielt, da schießt Uli Borowka seinen Gegenspieler an, der Gegenangriff führt zur ersten Ecke für Monaco. Die Aufregung jst deutlich zu spüren. Jürgen Rollmann faustet den Eckball genau in die Mitte, kann den Nachschuss aber unter seinen Armen begraben.
41 Minuten sind vorbei. Uli Borowka schlägt einen Freistoß in der eigenen Hälfte weit nach vorne und findet an der rechten Strafraumkante den Kopf von Wynton Rufer. Der Neuseeländer befördert den Ball instinktiv in Richtung des Elfmeterpunktes. Von der linken Seite sprintet Klaus Allofs heran. Der Ball titscht einmal, zweimal auf, Allofs ist schneller als sein Gegenspieler und schießt den Ball mit rechts ins Tor. 1:0, Werder führt! „Mit seinem rechten Führhaken hat er den gemacht! Den hatte er doch sonst nur, damit er nicht umfiel“, erinnert sich Allofs Zimmernachbar Manni Bockenfeld. „Märchenerzähler!“, sagt Linksfuß Allofs, „ich habe die Hälfte meiner Tore in diesen Jahren mit rechts erzielt.“
Nach der Halbzeit setzt Monaco Werder mit wütenden Angriffen unter Druck. Doch Jürgen Rollmann hält seinen Kasten sauber.
59. Minute. Einem Franzosen springt der Ball bei der Annahme zu weit weg, Mirko Votava geht rechtzeitig dazwischen und spitzelt den Ball zu Klaus Allofs. Allofs nimmt den Ball an, dreht sich und spielt einen herrlichen Pass in den Lauf von Wynton Rufer. Gut 40 Meter sind es jetzt noch bis zum Tor von Jean-Luc Ettori, Rufer läuft vollkommen umbedrängt auf ihn zu. Behält er jetzt die Nerven?
„Hau doch drauf“, denkt Uli Borowka. „Geh einfach am Keeper vorbei und schieb ein“, denkt Klaus Allofs. Und Rufer? „Mein großes Vorbild ist Pelé. Ich dachte an sein schönstes Beinahe-Tor gegen Uruguay während der WM 1970, als er einen Pass einfach am Torwart vorbeirollen ließ und dann das Tor nur knapp verfehlte. Ich wollte es wie Pelé machen – nur besser!“ Doch der Ball von Klaus Allofs ist dafür nicht schnell genug, im letzten Moment spitzelt Rufer das Spielgerät rechts an Ettori vorbei, umkurvt ihn links und hat nun nur noch das leere Tor vor sich. Das sichere 2:0! Aber warum wird der pfeilschnelle Neuseeländer plötzlich immer langsamer? Von hinten rasen zwei Monegassen heran, doch im allerletzten Moment schießt Rufer ein und springt gerade noch so über die Grätsche. „Instinkt“, erklärt er 20 Jahre später. Werder führt mit 2:0. 30 Minuten später ist das Spiel vorbei. Werder hat den Europapokal der Pokalsieger 1992 gewonnen.
6. Mai 1992 – kurz nach der Siegerehrung
In der Kabine droht die gute Stimmung umzukippen. Grund: Manager Willi Lemke hat es versäumt, entsprechende Alkoholvorräte einzukaufen. Eine Entscheidung mit Kalkül: Schon einmal hatte der Manager vor einem möglichen Titelgewinn die Kühlschränke mit Jubelsekt bestückt: 1986, im legendären Meisterschaftsfinale gegen den FC Bayern. Michael Kutzop und der Pfosten verhinderten damals die große Party. Aus Aberglaube hat Lemke diesmal also auf Alkohol verzichtet. Die Laune der Spieler hebt sich erst, als Manni Bockenfeld und Klaus Allofs doch noch ein paar Kisten Bier auftreiben können.
Draußen auf dem Rasen läuft Wynton Rufer noch immer Ehrenrunden mit dem Pokal. Der Abstinenzler genießt den wohl größten Triumph seiner Karriere. Hinter dem Zaun sucht und findet Rufer seinen Vater. Er will seinem alten Herren den silbernen Pokal präsentieren. Was zur Folge hat, das 300 Werderfans plötzlich ebenfalls die Nähe zum Cup suchen. Rufer: „Wenn ich nicht rechtzeitig wieder auf den Rasen gesprintet wäre, hätten die meinen Vater vor lauter Begeisterung wahrscheinlich erdrückt!“
6. Mai 1992 – Nacht
Die offiziellen Feierlichkeiten sind vorbei, zu später Stunde werden die Frauen und Freundinnen in ihr Hotel in der Lissaboner Innenstadt gefahren. Die Fußballer sind jetzt unter sich, die Party kann beginnen. Gemeinsam mit einigen Fans leeren die Spieler die Thekenbestände im Hotel. Wynton Rufer steht im Flur und telefoniert auf Vereinskosten „mit meinen Freunden auf der ganzen Welt“. Selbst Sparfuchs Willi Lemke denkt heute nicht an etwaige Nebenkosten. Rufer: „Das habe ich natürlich ausgenutzt und mir am nächsten Morgen noch einen sündhaft teuren Freizeitmantel aus dem Hotel geklaut.“
Gegen zwei Uhr morgens denkt Uli Borowka plötzlich an die Glatzen-Wette aus dem „Santorini“. Vergeblich versucht er seine Kollegen zur Vollglatze zu überreden. Stattdessen sitzt er bald auf einem Stuhl, umgeben von johlenden Mitspielern, und lässt sich das Haupthaar von Dieter Eilts scheren. Die nötige Nassrasur übernimmt er selbst.
Um fünf Uhr morgens spazieren Thomas Schaaf und Thomas Wolter zum Strand. Schaaf hatte seinen Zimmernachbarn und Kumpel Wolter nach 34 Minuten im Finale ersetzen müssen, ein Muskelfaserriss hatte den Abwehrmann mit der Vokuhila-Frisur vorzeitig ausgebremst. Mit einer Pulle Bier in der Hand hocken die Fußballer im Sand und beobachten den Sonnenaufgang. Wolter: „Wir waren in großer Philosophier-Laune und sprachen über den Sieg, die Zeit danach, neue Ziele – es war schon sehr kitschig.“ Währenddessen sitzen Manni Bockenfeld und Klaus Allofs auf ihrem Zimmer am geöffneten Fenster und gönnen sich eine dicke Zigarre. Mit fatalen Folgen. „Die Mischung aus zu viel Alkohol und Zigarre war verheerend“, erinnert sich Klaus Allofs.
9. Mai 1992
Kurz vor der Abreise zum Bundesligaspiel bei Eintracht Frankfurt, treffen sich Uli Borowka, Oliver Reck, Jonny Otten, Günter Herrmann und Manni Bockenfeld bei ihrem Stammfriseur in Bremen. Borowka, mit Fleischmütze, überwacht streng die Einlösung der Wettschuld. Wenig später sehen vier weitere Fußballer aus wie frisch rekrutierte Soldaten. Gegen Frankfurt spielt Werder, sichtlich angeschickert, 2:2. Manni Bockenfeld, der sich morgens noch mit wallendem Haar von seiner Familie verabschiedet hat, sitzt abends gemeinsam mit seinen Mitspielern im „Aktuellen Sportstudio“. „Ich hatte meiner Frau und meinen Kindern nichts von dem Friseurbesuch verraten. Als sie mich mit kurzen Haaren im Fernsehen sahen, rief meine Tochter: ›Das ist Papa! Aber den lassen wir so nicht wieder nach Hause!‹“ Am nächsten Morgen ist Familie Bockenfeld wieder komplett, die Töchter haben ihrem Vater die neue Frisur bereits verziehen.
Herbst 1995
Wynton Rufer spielt inzwischen für JEF United Ichihara in der japanischen J‑League. Gegner am heutigen Tag ist Nagayo Krampus Eight, der Trainer der Mannschaft heißt Arsene Wenger. 1992 stand er an der Außenlinie beim AS Monaco und musste im Finale von Lissabon miterleben, wie ein 35-jähriger Oldie, der doch eigentlich auf der Bank hätte sitzen sollen, sein Konzept mit einem Tor und einer Vorlage auf den Müllhaufen der Geschichte warf. Kurz vor dem Anpfiff wird Wynton Rufer von hinten angetippt. Arsene Wenger. Der spätere Arsenal-Coach schaut Rufer tief in die Augen. „Ich werde nie vergessen, was er mir damals gesagt hat: ›Wynton, ich schlafe noch immer schlecht wegen Lissabon. Otto hat mich ausgetrickst! Er hat mich einfach ausgetrickst…‹“