18. Sep­tember 1991
Wer­ders Reise durch Europa beginnt am 18. Sep­tember 1991 in Bacau im Nord­osten Rumä­niens. Nach einer 1:2‑Niederlage gegen die Stutt­garter Kickers reisen die Bremer als 13. der Bun­des­liga nach Ost­eu­ropa. Wer­ders Profis erleben eine Stadt am Rande des Zusam­men­bruchs. Weil kein Hotel in Bacau in der Lage ist, die Fuß­baller auf­zu­nehmen, werden sie in einer Bet­ten­burg vom Deut­schen Roten Kreuz“ unter­ge­bracht. Als Abwehr­spieler Manni Bocken­feld einen kurzen Spa­zier­gang durch die Straßen Bacaus wagt, fängt es an zu regnen. Bocken­feld: Der Regen schmeckte nach Benzin!“ Die voll­kommen her­un­ter­ge­wirt­schaf­teten Chemie-Fabriken der Stadt haben die Wolken über Bacau mit saurem Regen ver­giftet. Werder gewinnt mit 6:0, das Rück­spiel knapp zwei Wochen später endet mit 5:0 für die Bremer. Übri­gens mit dem wohl schönsten Tor in der Kar­riere von Stefan Kohn.

23. Oktober/​6. November 1991
Werder gewinnt das Ach­tel­final-Hin­spiel gegen Feren­cvaros Buda­pest mit 3:2. In Buda­pest reicht ein Tor von Marco Bode kurz nach der Pause zum Wei­ter­kommen. In der Bun­des­liga steht der Deut­sche Meister von 1988 erneut auf Rang 13. Das 0:2 am 16. Spieltag gegen den 1. FC Kai­sers­lau­tern sehen gerade einmal 17.000 Zuschauer.

Februar 1992
Im grie­chi­schen Restau­rant San­to­rini“ in Del­men­horst nahe Bremen sitzen Uli Borowka, Jonny Otten, Oliver Reck, Günter Herr­mann, Manni Bocken­feld und Klaus Allofs samt Anhang beim Ouzo danach. In der Bun­des­liga hat sich Werder im Nie­mands­land der Tabelle ver­loren, im Euro­pa­pokal der Pokal­sieger emp­fangen die Bremer in wenigen Tagen Gala­ta­saray Istanbul zum Vier­tel­final-Hin­spiel. Manni Bocken­feld denkt laut nach: Was machen wir eigent­lich, wenn wir den Cup gewinnen?“ Stille. Uli Borowka hat schließ­lich die Idee: Dann lassen wir uns alle eine Glatze schneiden!“ Die Frauen sind ent­setzt, die Kol­legen in der Klemme. Schließ­lich einigt man sich: Sollte der Euro­pa­pokal tat­säch­lich gewonnen werden, kommen die Haare ab. Ras­pel­kurz zwar nur, aber immerhin. Einzig Uli Borowka besteht auf Nass­rasur. Klaus Allofs ent­hält sich.

4. März 1992
Schieds­richter Mist­kie­wicz aus Polen pfeift das Spiel zwi­schen Werder Bremen und Gala­ta­saray Istanbul an. Das Weser­sta­dion ist mit 30.000 Zuschauer bis auf den letzten Platz gefüllt. Mehr als die Hälfte der Fans trägt die Farben des tür­ki­schen Gastes. Stadt und Verein haben vor dem Spiel ein deutsch-tür­ki­sches Völ­ker­fest ver­an­staltet. Die Stim­mung ist trotzdem auf­ge­laden. Als Roman Kos­ecki Gala­ta­saray nach 33 Minuten in Füh­rung schießt, ist der Lärm ohren­be­täu­bend. Otto Reh­hagel bringt Stefan Kohn und Marinus Bester, beide schießen jeweils ein Tor. Werder gewinnt mit 2:1.

13. März 1992
Werder ver­liert vor 10.210 Zuschauern im Weser­sta­dion mit 1:3 gegen die Stutt­garter Kickers. Kurz vor dem Schluss­pfiff brüllen die letzten im Sta­dion ver­blie­benen Zuschauer Reh­hagel raus!“ und: Reinders! Reinders!“. Uwe Reinders, der ehe­ma­lige Bremer, ist eine Woche zuvor bei Hansa Ros­tock ent­lassen worden. Mit­tel­feld­mann Thomas Wolter ist geschockt: Ich spielte seit 1984 für Werder, aber das war das erste Mal, dass wir solche Rufe hörten.“ Nach dem Spiel sitzt Wolter in der Kabine und schielt zu seinem Trainer. Haben ihn die Rufe seiner Fans getroffen? Er war ganz ent­spannt. Heute bin ich mir sicher, dass ihn dieser Gegen­wind nur noch stärker gemacht hat.“

17. März 1992
Einen Tag vor dem Rück­spiel im Vier­tel­fi­nale des Euro­pa­po­kals der Pokal­sieger hebt in Bremen eine Maschine mit Fuß­bal­lern, Funk­tio­nären und Fuß­baller­gat­tinnen Rich­tung Istanbul ab. Mit viel Geschick landet der Pilot drei Stunden später auf dem Roll­feld des Istan­buler Flug­ha­fens. Die Stadt am Bos­porus ver­sinkt im Schnee­chaos. Ein his­to­ri­scher Wet­ter­um­schwung, mitten im März. Am Nach­mittag bittet Otto Reh­hagel zum Abschluss­trai­ning im Ali-Sami-Yen-Sta­dion. Seine Spieler sinken auf dem vom Schnee­matsch ram­po­nierten Rasen bis zu den Knö­cheln ein, ein ein ver­nünf­tiges Trai­ning ist nicht zu denken.
Es ist 23 Uhr, als im Hotel­flur auf der Etage, auf der die Gäste aus Deutsch­land unter­ge­bracht sind, eine Glastür zer­schlagen wird. Der Krach lockt die Fuß­baller aus ihren Zim­mern, ratlos stehen Wer­ders Profis im Pyjama in ihren Türen und suchen nach der Ursache für die nächt­liche Stö­rung. Otto Reh­hagel schickt seine Schütz­linge wieder in die Betten. Eine halbe Stunde später schrillt der Feu­er­alarm, die Hotel­be­su­cher eilen in den Innenhof. Fehl­alarm. An Schlaf ist wei­terhin nicht zu denken: Eine Horde tür­ki­scher Fans kurvt hupend über den Hotel­park­platz und kann erst nach einer Stunde ver­scheucht werden.

18. März 1992
Istanbul ist immer noch Win­ter­wun­der­land. Die Bremer Dele­ga­tion ist sich sicher: Ein Fuß­ball­spiel kann heute nicht statt­finden. Stunden später, kurz vor dem Spiel, werden die Deut­schen eines bes­seren belehrt. Der Schieds­richter lässt die Partie statt­finden. Jetzt hat Werder ein Pro­blem: Weil auch der Zeug­wart die Wet­ter­lage in Istanbul falsch ein­ge­schätzt hat, fehlt es den Bre­mern an pas­sendem Schuh­werk, der Koffer mit den langen Alu­st­ollen ist in Bremen geblieben! Die Ret­tung kommt aus der Luft: Ein Ver­eins­mit­ar­beiter bekommt noch einen Platz in einem Flieger voller Werder-Fans, mit dabei: Ein Satz Alu­st­ollen und Hand­schuhe gegen die Kälte.
Das Spiel beginnt. Mit Fuß­ball hatte das nichts mehr zu tun“, erin­nert sich Uli Borowka. Kommt der Ball in die Nähe eines Bre­mers, lupft der das Spiel­gerät leicht an und schlägt es so weit wie mög­lich in die geg­ne­ri­sche Hälfte. Immer wieder fliegen Steine und Feu­er­zeuge auf den Platz und ver­fehlen die Spieler nur knapp. Immerhin können sich die Deut­schen über einen tak­ti­schen Vor­teil freuen: Wäh­rend Istan­buls Spieler lange Unter­hosen gegen die Kälte tragen, hat sich die Reh­hagel-Elf für nackte Ober­schenkel ent­schieden. Borowka: Wir froren zwar wie die Schneider, aber sobald einer der tür­ki­schen Spieler auf den Rasen klatschte, sogen sich die Baum­woll­hosen mit Wasser voll.“
Die regu­läre Spiel­zeit ist vorbei. Es steht 0:0, bleibt es dabei, ist Werder im Halb­fi­nale. Doch Schieds­richter Gitte Nielsen lässt lange nach­spielen. Sehr lange. In der 95. Minute fliegt Dieter Eilts mit Rot vom Platz. Eine Minute später segelt eine letzte Flanke in den Bremer Straf­raum. Ein Istan­buler erwischt den Pass mit dem Kopf, ein Auf­setzer. Schon mehr­mals ist der Ball in diesem Spiel bei sol­chen Aktionen unkon­trol­liert weg­ge­sprungen. Roman Kos­ecki steht an der Grenze des Fünf-Meter-Raums und spe­ku­liert genau darauf. Doch der Ball klatscht in den Matsch und bleibt liegen, Oliver Reck stürzt sich auf das Spiel­gerät. Das Spiel ist beendet. Die Fans aus Istanbul ver­ab­schieden den Bremer Mann­schaftsbus mit einer Salve aus Steinen. Werder steht im Halb­fi­nale des Euro­pa­po­kals der Pokal­sieger.

27. März 1992
Nach einem 1:0‑Erfolg gegen Wat­ten­scheid 09 am 21. Februar gelingt Werder gegen For­tuna Düs­sel­dorf end­lich wieder ein Sieg in der Bun­des­liga.

1. April 1992
Das Aus­wärts­spiel im Euro­pa­pokal gegen den FC Brügge wird für Werder zum Spieß­ru­ten­lauf. Als Wynton Rufer zum Auf­wärmen auf den Rasen des Olym­pia­sta­dions läuft, traut er seinen Augen und Ohren nicht. Das ganze Sta­dion brüllte uns seinen Hass ent­gegen, es war der pure Hass. So etwas Schlimmes hatte ich zuvor noch nie erlebt.“ Wütend recken die Massen hun­derte Pla­kate in die Höhe. Darauf steht: Nazis!“ und Nazis raus!“. Wynton Rufer, der Neu­see­län­dern, wünscht sich in diesen Minuten zurück auf seine fried­liche Insel: Ich hätte mir am liebsten selbst ein Schild gemalt: ›Leute, ich bin aus Neu­see­land, nicht aus Deutsch­land!‹“ Als Oliver Reck das Tor­netz über­prüft, wird er mit einer ersten Ladung Wurf­ge­schosse begrüßt. Feu­er­zeuge, Steine, sogar ein Messer landet neben Reck auf dem Rasen. Dieses gru­se­lige Schau­spiel wird sich im Spiel mehr­fach wie­der­holen. Brügges bul­liger Stürmer Daniel Amokachi über­rascht die ver­un­si­cherten Bremer und trifft bereits in der 5. Minute zum 1:0.
Nach 69 Minuten ver­letzt sich Oliver Reck an der Schulter. Otto Reh­hagel, der sich eben­falls gegen Beschimp­fungen und Wurf­ge­schosse von der Tri­büne wehren muss, schickt Ersatz­mann Jürgen Roll­mann auf den Platz. Es bleibt beim 0:1. Als der Werder-Bus das Sta­di­on­ge­lände ver­lässt, hocken Spieler, Trainer und Offi­zi­elle im Gang, noch immer sind die Brügger nicht zu beru­higen. End­lich ver­stummt das düs­tere Trom­meln des Stein­ha­gels.

8. April 1992
Werder fliegt im DFB-Pokal-Halb­fi­nale gegen Han­nover 96 raus. Den letzten Ver­such im Elf­me­ter­schießen ver­senkt 96-Tor­wart Jörg Sie­vers gegen seinen Kol­legen Jürgen Roll­mann sicher.

11. April 1992
Noch vier Tage bis zum Halb­final-Rück­spiel gegen Brügge. Oliver Reck ist wieder gesund. Im Heim­spiel gegen Dynamo Dresden steht trotzdem Jürgen Roll­mann im Tor. Das Weser­sta­dion ist mit 11.000 Zuschauern nur zu einem Drittel gefüllt. In der 56. Minute stößt Roll­mann mit Dres­dens Uwe Rösler zusammen, ver­letzt sich und muss aus­ge­wech­selt werden. Werder gewinnt durch Tore von Bode und Eilts mit 2:0.

15. April 1992
Jürgen Roll­mann sitzt nur auf der Bank, Oliver Reck, der im Rück­spiel gegen Gala­ta­saray Istanbul eine gelbe Karte erhalten hatte und des­halb vor­be­lastet ist, steht in der Startelf. Das Spiel wird zu einer Gedulds­probe. Marco Bode gelingt nach einer halben Stunde das 1:0. Gegen die schnellen Booy, van der Elst und Amokachi müssen Rune Bratseth, Uli Borowka, Thomas Wolter und Manni Bocken­feld Schwerst­ar­beit ver­richten.
Aus dem Aus­wärts­block wird eine Leucht­kugel abge­feuert. Das fla­ckernde Geschoss stürzt in die Bremer Kurve, trifft einen 38-Jäh­rigen in die Brust und zer­reißt dem Mann vor den Augen seiner Familie den Brust­muskel. Nur eine Not-OP rettet dem Mann das Leben.
59. Minute. Auf der rechten Außen­bahn erkämpft sich Thomas Wolter den Ball, zieht zehn Meter vor dem Straf­raum nach innen, macht einen großen Schritt und spielt den Ball dann mit links genau in den Lauf von Manni Bocken­feld. Schönes Anspiel auf Bocken­feld!“, ruft Sat1-Kom­men­tator Rein­hold Beck­mann. Bocken­feld lässt den Ball an seiner rechten Kör­per­seite vorbei rollen, dreht sich und schießt. Der Ball schlägt knapp unter der Latte im Tor ein. 2:0. 20 Jahre später gibt Bocken­feld zu: Ich wusste gar nicht mehr, wo das Tor steht. Ich habe ein­fach drauf­ge­halten.“ Rein­hold Beck­mann jubelt: Der Bocken­feld schießt für den SV Werder das 2:0. Das hätte auch nie­mand pro­phe­zeit!“ Werder rettet das Ergebnis über die Zeit – und steht erst­mals in der Geschichte des Ver­eins in einem Euro­pa­po­kal­fi­nale. Bitter: Oliver Reck hat seine zweite gelbe Karte im lau­fenden Wett­be­werb erhalten. Für das End­spiel von Lis­sabon ist er gesperrt.

5. Mai 1992
Noch einen Tag bis zum Finale in Lis­sabon. Im kor­si­schen Bastia findet an diesem Tag das fran­zö­si­sche Pokal-Halb­fi­nale zwi­schen dem SSC Bastia und Olym­pique Mar­seille statt. Wäh­rend des Spiels stürzt eine der Tri­bünen im Stade Armand Cesari ein. 18 Men­schen sterben, 2357 werden ver­letzt. Wer­ders Profis sind bereits in ihrem Hotel im Lis­sa­boner Stadt­teil Estoril, nahe der Formel-1-Renn­strecke, als die Nach­richt die Runde macht. Wer­ders Zeug­wart orga­ni­siert für das Spiel am nächsten Tag schwarze Arm­binden.
Otto Reh­hagel bittet seine Mann­schaft zu einer späten Son­der­sit­zung. Und gibt bekannt, dass statt Stefan Kohn Rou­ti­nier Klaus Allofs gegen den AS Monaco in der Start­for­ma­tion stehen wird. Wynton Rufer ist scho­ckiert. Ich hatte für das Spiel extra meinen Vater aus Neu­see­land ein­fliegen lassen. Er war schon immer mein größer Kri­tiker. Um seine Erwar­tungen etwas zu dämpfen, hatte ich ihm bereits Tage vor dem Spiel gesagt: ›Monaco ist Favorit, wir werden dieses Spiel nicht gewinnen. Aber wir stehen im Finale und das ist doch auch was!‹ Nach der Sit­zung rief ich ihn an: ›Dad, Reh­hagel stellt Allofs auf! Jetzt ver­lieren wir auf jeden Fall…‹“
Rufers Angst ist nicht unbe­gründet, wegen ver­schie­dener Weh­weh­chen hat der inzwi­schen 35-jäh­rige Allofs zuletzt nur wenige Spiele von Beginn an bestreiten können und in der Erin­ne­rung von Wynton Rufer quasi kein Knie­ge­lenk mehr, nach jedem Trai­ning waren seine Knie voll mit Wasser!“ Der Kom­mentar von Klaus Allofs 20 Jahre danach: Fuß­baller sind gute Mär­chen­er­zähler. Mit jedem Jahr ist mehr Wasser in meinen Knien, bin ich schwerer ver­letzt. Aber das war Quatsch. Wenn ich wirk­lich so gehan­di­capt gewesen wäre, hätte mich Otto nie­mals auf­ge­stellt. Ich war am 6. Mai 1992 durchaus ein voll­wer­tiger Fuß­ball­spieler.“
Trotzdem ist Reh­ha­gels Ent­schei­dung eine Über­ra­schung, mit der wohl nie­mand gerechnet hatte. Thomas Wolter meint dazu: Große Trainer treffen eben große Ent­schei­dungen. Das war so eine Ent­schei­dung.“ Selbst Wynton Rufer sagt heute: Es war ein Kniff! Klaus hatte in drei Jahren für Olym­pique Mar­seille und Giron­dins Bor­deaux 34 Tore in 90 Spielen erzielt. Die Fran­zosen hatten Respekt vor ihm.“

6. Mai 1992 – Mor­gens
Die mit­ge­reisten Pres­se­ver­treter haben noch einige Fragen an Otto Reh­hagel. Als das Thema Klaus Allofs abge­hakt ist, geht es um Tor­wart Jürgen Roll­mann. Ist der Ersatz­mann von Oliver Reck dem Druck gewachsen, und vor allem: Genügt er den Ansprü­chen eines Euro­pa­po­kal­end­spiels? Reh­ha­gels Ant­wort: Wenn ich alle Tor­hüter der Welt zusammen hole und ihnen sage: Wer sich für den Besten hält, bitte zwei Meter vor­treten, steht Roll­mann schon da!“ Am Selbst­ver­trauen von Jürgen Roll­mann muss bei Werder Bremen wirk­lich nie­mand zwei­feln.

6. Mai 1992 – noch eine Stunde bis zum Anpfiff
Als Thomas Wolter das Sta­dion des Lichts von Lis­sabon betritt, um sich auf­zu­wärmen, ist er ent­setzt: Nur 13.000 Zuschauer ver­teilen sich in der 130.000-Zuschauer-Schüssel. Ein trau­riger Anblick. Ich fand das schlimm. Wir spielten in einem Finale, da wollte ich auch Final-Atmo­sphäre! Immerhin haben die paar Tau­send Werder-Fans ordent­lich Rabatz gemacht. Trotzdem war das eher eine Stim­mung wie bei einem Freund­schafts­spiel.“

6. Mai 1992 – noch 15 Minuten bis zum Anpfiff
Otto Reh­hagel krit­zelt ein letztes Mal die Auf­stel­lung an die Tafel: Roll­mann, Bratseth, Wolter, Borowka, Bocken­feld, Votava, Eilts, Neu­barth, Bode, Rufer, Allofs. Werder ist gegen Monaco, das mit George Weah, Emma­nuel Petit, Youri Djor­kaeff und Rui Barros über her­aus­ra­gende Fuß­baller ver­fügt, nur Außen­seiter.
Es wird still in der Bremer Kabine. Uli Borowka erin­nert sich: Ich schloss die Augen und ver­suchte, mich zu kon­zen­trieren, mich einzig und allein auf dieses Spiel zu fokus­sieren. Zwei Minuten lang war es mucks­mäus­chen­still in unserer Kabine. Wie Mit­glieder einer Sekte fühlten wir uns alle irgendwie auf über­sinn­liche Art und Weise mit­ein­ander ver­bunden. Solch einen Moment der höchsten Kon­zen­tra­tion habe ich nur dieses eine Mal in meinem Leben erlebt, an diesem 6. Mai 1992 in den Kata­komben des Lis­sa­boner Sta­dion des Lichts.“

6. Mai 1992 – Anpfiff
Nur wenige Sekunden sind gespielt, da schießt Uli Borowka seinen Gegen­spieler an, der Gegen­an­griff führt zur ersten Ecke für Monaco. Die Auf­re­gung jst deut­lich zu spüren. Jürgen Roll­mann faustet den Eck­ball genau in die Mitte, kann den Nach­schuss aber unter seinen Armen begraben.
41 Minuten sind vorbei. Uli Borowka schlägt einen Frei­stoß in der eigenen Hälfte weit nach vorne und findet an der rechten Straf­raum­kante den Kopf von Wynton Rufer. Der Neu­see­länder beför­dert den Ball instinktiv in Rich­tung des Elf­me­ter­punktes. Von der linken Seite sprintet Klaus Allofs heran. Der Ball titscht einmal, zweimal auf, Allofs ist schneller als sein Gegen­spieler und schießt den Ball mit rechts ins Tor. 1:0, Werder führt! Mit seinem rechten Führ­haken hat er den gemacht! Den hatte er doch sonst nur, damit er nicht umfiel“, erin­nert sich Allofs Zim­mer­nachbar Manni Bocken­feld. Mär­chen­er­zähler!“, sagt Linksfuß Allofs, ich habe die Hälfte meiner Tore in diesen Jahren mit rechts erzielt.“
Nach der Halb­zeit setzt Monaco Werder mit wütenden Angriffen unter Druck. Doch Jürgen Roll­mann hält seinen Kasten sauber.
59. Minute. Einem Fran­zosen springt der Ball bei der Annahme zu weit weg, Mirko Votava geht recht­zeitig dazwi­schen und spit­zelt den Ball zu Klaus Allofs. Allofs nimmt den Ball an, dreht sich und spielt einen herr­li­chen Pass in den Lauf von Wynton Rufer. Gut 40 Meter sind es jetzt noch bis zum Tor von Jean-Luc Ettori, Rufer läuft voll­kommen umbe­drängt auf ihn zu. Behält er jetzt die Nerven?
Hau doch drauf“, denkt Uli Borowka. Geh ein­fach am Keeper vorbei und schieb ein“, denkt Klaus Allofs. Und Rufer? Mein großes Vor­bild ist Pelé. Ich dachte an sein schönstes Bei­nahe-Tor gegen Uru­guay wäh­rend der WM 1970, als er einen Pass ein­fach am Tor­wart vor­bei­rollen ließ und dann das Tor nur knapp ver­fehlte. Ich wollte es wie Pelé machen – nur besser!“ Doch der Ball von Klaus Allofs ist dafür nicht schnell genug, im letzten Moment spit­zelt Rufer das Spiel­gerät rechts an Ettori vorbei, umkurvt ihn links und hat nun nur noch das leere Tor vor sich. Das sichere 2:0! Aber warum wird der pfeil­schnelle Neu­see­länder plötz­lich immer lang­samer? Von hinten rasen zwei Mone­gassen heran, doch im aller­letzten Moment schießt Rufer ein und springt gerade noch so über die Grät­sche. Instinkt“, erklärt er 20 Jahre später. Werder führt mit 2:0. 30 Minuten später ist das Spiel vorbei. Werder hat den Euro­pa­pokal der Pokal­sieger 1992 gewonnen.

6. Mai 1992 – kurz nach der Sie­ger­eh­rung
In der Kabine droht die gute Stim­mung umzu­kippen. Grund: Manager Willi Lemke hat es ver­säumt, ent­spre­chende Alko­hol­vor­räte ein­zu­kaufen. Eine Ent­schei­dung mit Kalkül: Schon einmal hatte der Manager vor einem mög­li­chen Titel­ge­winn die Kühl­schränke mit Jubel­sekt bestückt: 1986, im legen­dären Meis­ter­schafts­fi­nale gegen den FC Bayern. Michael Kutzop und der Pfosten ver­hin­derten damals die große Party. Aus Aber­glaube hat Lemke diesmal also auf Alkohol ver­zichtet. Die Laune der Spieler hebt sich erst, als Manni Bocken­feld und Klaus Allofs doch noch ein paar Kisten Bier auf­treiben können.
Draußen auf dem Rasen läuft Wynton Rufer noch immer Ehren­runden mit dem Pokal. Der Abs­ti­nenzler genießt den wohl größten Tri­umph seiner Kar­riere. Hinter dem Zaun sucht und findet Rufer seinen Vater. Er will seinem alten Herren den sil­bernen Pokal prä­sen­tieren. Was zur Folge hat, das 300 Wer­der­fans plötz­lich eben­falls die Nähe zum Cup suchen. Rufer: Wenn ich nicht recht­zeitig wieder auf den Rasen gesprintet wäre, hätten die meinen Vater vor lauter Begeis­te­rung wahr­schein­lich erdrückt!“

6. Mai 1992 – Nacht
Die offi­zi­ellen Fei­er­lich­keiten sind vorbei, zu später Stunde werden die Frauen und Freun­dinnen in ihr Hotel in der Lis­sa­boner Innen­stadt gefahren. Die Fuß­baller sind jetzt unter sich, die Party kann beginnen. Gemeinsam mit einigen Fans leeren die Spieler die The­ken­be­stände im Hotel. Wynton Rufer steht im Flur und tele­fo­niert auf Ver­eins­kosten mit meinen Freunden auf der ganzen Welt“. Selbst Spar­fuchs Willi Lemke denkt heute nicht an etwaige Neben­kosten. Rufer: Das habe ich natür­lich aus­ge­nutzt und mir am nächsten Morgen noch einen sünd­haft teuren Frei­zeit­mantel aus dem Hotel geklaut.“
Gegen zwei Uhr mor­gens denkt Uli Borowka plötz­lich an die Glatzen-Wette aus dem San­to­rini“. Ver­geb­lich ver­sucht er seine Kol­legen zur Voll­glatze zu über­reden. Statt­dessen sitzt er bald auf einem Stuhl, umgeben von joh­lenden Mit­spie­lern, und lässt sich das Haupt­haar von Dieter Eilts scheren. Die nötige Nass­rasur über­nimmt er selbst.
Um fünf Uhr mor­gens spa­zieren Thomas Schaaf und Thomas Wolter zum Strand. Schaaf hatte seinen Zim­mer­nach­barn und Kumpel Wolter nach 34 Minuten im Finale ersetzen müssen, ein Mus­kel­fa­ser­riss hatte den Abwehr­mann mit der Vokuhila-Frisur vor­zeitig aus­ge­bremst. Mit einer Pulle Bier in der Hand hocken die Fuß­baller im Sand und beob­achten den Son­nen­auf­gang. Wolter: Wir waren in großer Phi­lo­so­phier-Laune und spra­chen über den Sieg, die Zeit danach, neue Ziele – es war schon sehr kit­schig.“ Wäh­rend­dessen sitzen Manni Bocken­feld und Klaus Allofs auf ihrem Zimmer am geöff­neten Fenster und gönnen sich eine dicke Zigarre. Mit fatalen Folgen. Die Mischung aus zu viel Alkohol und Zigarre war ver­hee­rend“, erin­nert sich Klaus Allofs.

9. Mai 1992
Kurz vor der Abreise zum Bun­des­li­ga­spiel bei Ein­tracht Frank­furt, treffen sich Uli Borowka, Oliver Reck, Jonny Otten, Günter Herr­mann und Manni Bocken­feld bei ihrem Stamm­fri­seur in Bremen. Borowka, mit Fleisch­mütze, über­wacht streng die Ein­lö­sung der Wett­schuld. Wenig später sehen vier wei­tere Fuß­baller aus wie frisch rekru­tierte Sol­daten. Gegen Frank­furt spielt Werder, sicht­lich ange­schi­ckert, 2:2. Manni Bocken­feld, der sich mor­gens noch mit wal­lendem Haar von seiner Familie ver­ab­schiedet hat, sitzt abends gemeinsam mit seinen Mit­spie­lern im Aktu­ellen Sport­studio“. Ich hatte meiner Frau und meinen Kin­dern nichts von dem Fri­seur­be­such ver­raten. Als sie mich mit kurzen Haaren im Fern­sehen sahen, rief meine Tochter: ›Das ist Papa! Aber den lassen wir so nicht wieder nach Hause!‹“ Am nächsten Morgen ist Familie Bocken­feld wieder kom­plett, die Töchter haben ihrem Vater die neue Frisur bereits ver­ziehen.

Herbst 1995
Wynton Rufer spielt inzwi­schen für JEF United Ichi­hara in der japa­ni­schen J‑League. Gegner am heu­tigen Tag ist Nagayo Krampus Eight, der Trainer der Mann­schaft heißt Arsene Wenger. 1992 stand er an der Außen­linie beim AS Monaco und musste im Finale von Lis­sabon mit­er­leben, wie ein 35-jäh­riger Oldie, der doch eigent­lich auf der Bank hätte sitzen sollen, sein Kon­zept mit einem Tor und einer Vor­lage auf den Müll­haufen der Geschichte warf. Kurz vor dem Anpfiff wird Wynton Rufer von hinten ange­tippt. Arsene Wenger. Der spä­tere Arsenal-Coach schaut Rufer tief in die Augen. Ich werde nie ver­gessen, was er mir damals gesagt hat: ›Wynton, ich schlafe noch immer schlecht wegen Lis­sabon. Otto hat mich aus­ge­trickst! Er hat mich ein­fach aus­ge­trickst…‹“