Heute wird Herbert Fandel 60 Jahre alt. Im September 1999 schickte der Schiedsrichter vier Ulmer Spieler vom Platz, dazu den Trainer und den Manager. Ein Skandal?
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Für einen allerletzten Sprint reicht die Luft noch. 90 Minuten hat Sascha Rösler schon in den Knochen, da rennt er noch einmal von Sechzehner zu Sechzehner. Das Spiel ist unterbrochen, er muss die Möglichkeit nutzen, um Schiedsrichter Herbert Fandel etwas entgegenzublöken, das keinen Aufschub duldet. Augenblicke zuvor hat Fandel nämlich Innenverteidiger Janos Radoki und damit den vierten Spieler des SSV Ulm mit Rot vom Platz gestellt. Beim Schiedsrichter angekommen, baut sich der 21-jährige Rösler vor ihm auf, blickt dem Mann im knallroten Trikot entgegen und schimpft wie der berühmt-berüchtigte Rohrspatz. Für einen Moment scheinen sich ihre Nasen zu berühren.
Fandel tritt einen Schritt zurück, ein Rostocker Spieler schiebt Rösler beiseite, wenige Sekunden später ist das Spiel vorbei. Es soll der Schlussakt eines Bundesligaspiels sein, an dessen Ende ein bis heute unerreichter Rekord steht: Herbert Fandel hat vier Spieler ein und desselben Teams vom Feld gestellt – und noch einige Platzverweise mehr ausgesprochen. Er übertrifft damit Schiedsrichter Manfred Schmidt, der in der Saison 1993/94 in einem Spiel drei Spieler von Dynamo Dresden (und zwei vom BVB) runterstellte.
Stolz sei er nicht darauf, was sich am 10. September 1999 zwischen Hansa Rostock und dem SSV Ulm zugetragen hat, sagt Fandel heute. Und geht unvermittelt in die Analyse: „Die Ulmer Spieler gingen aggressiv in die Zweikämpfe, das Spiel war nicht auf sonderlich hohem Niveau.“ Der 58-Jährige spricht streng und klar, mit pfälzischem Dialekt, korrekte Wortwahl. Ein Mann, der keine Zweifel aufkommen lassen will: „Ich entschied, wie ich es für richtig hielt.“
Für die einzelnen Szenen, die zu den Roten Karten führten, muss er in seinem Gedächtnis kramen, vor Augen hat er sie kaum noch. Trotzdem liefert er zu jedem Platzverweis einen präzisen Kommentar: Den ersten erteilt Fandel kurz vor dem Halbzeitpfiff, Ulms Stürmer Hans van de Haar hat den Rostocker Radwan Yasser an der Mittellinie plump umgesenst und muss, weil er zuvor schon einmal zu spät gekommen ist, den Platz folglich mit Gelb-Rot verlassen. Eine harte Entscheidung? Fandel weiß, wie wichtig es für einen Schiedsrichter ist, Situationen auch nach abgelaufener Spielzeit zu bewerten. „Der Einstieg in die persönlichen Strafen – sprich die erste Gelbe, die erste Rote Karte – sollte wohlüberlegt sein“, sagt er. „Sie hat eine Signalwirkung und gibt die Linie der Spielleitung vor.“
An jenem Freitagabend, dem 4. Spieltag der Saison, scheint diese Signalwirkung allerdings auszubleiben. Wie die Berserker keilen die Ulmer durch das Ostseestadion, rennen an, ständig einen Schritt zu spät. Nach 60 Minuten ist Schiedsrichter Fandel gezwungen, mit Uwe Grauer auch den zweiten Ulmer vom Platz zu stellen. Der Verteidiger ist abermals so ungeschickt in den Zweikampf gegangen, dass er längst nicht mehr den Ball, sondern nur noch Victor Agalis Sprunggelenk treffen kann. „Eine Niederlage der Langsamkeit“, heißt es in der Fernsehübertragung auf Sat.1. Der Gefoulte selbst sagt nach dem Spiel: „If you want to play rugby, we play rugby. If you want to play football, we play football.“ Es scheint, als wüssten die Ulmer wirklich nicht, welche Sportart sie an diesem Abend ausüben wollten.
Mit Grauers Herunterstellung richtet sich der Blick an die Seitenlinie. Wo sich Ulms Trainer Martin Andermatt langsam, aber sicher zu kräuseln beginnt. Anders als Herbert Fandel vermischt er die Szenen nicht, wenn er sich an das Spiel erinnert. Wie ein Archivar, der nicht vergisst, erinnert sich der 61-Jährige. „In meiner Schweizer Ruhe bin ich aufgestanden, um Linienrichter Detlef Schütz etwas zu fragen“, erzählt Andermatt gleichmütig. Er habe bloß wissen wollen, ob die zweite Rote Karte wirklich berechtigt gewesen sei. „Da sagte der nur, ich solle die Fresse halten.“ Andermatt sei daraufhin sehr nah an ihn herangetreten und habe gesagt: „Schauen Sie, Sie müssen einfach schön anständig bleiben.“ In höflicher Absicht selbstverständlich. „Dann hat der Linienrichter dem Herrn Fandel gesagt, er müsse mich auf die Tribüne schicken.“
Ein schriller Pfiff ertönt, Fandel blickt an den Spielfeldrand, hebt den Zeigefinger, deutet entschieden gen Tribüne und macht kehrt. Martin Andermatt vergräbt seine Hände in den Hosentaschen, tut wie ihm befohlen und schlendert mit einer fast schon beunruhigenden Gelassenheit in Richtung der Zuschauerränge. Zu ihm gesellt sich kurz darauf sein Manager Erich Steer. Auch er legt sich mit Assistent Schütz an und wird auf die Traversen verbannt. Wenig später sehen Trainer und Manager nebeneinander stehend auch die dritte, vollkommen berechtigte Rote Karte mit an. Der gerade eingewechselte Evans Wise ist seinem Gegenspieler in die Stelzen gesprungen.
Im Nachgang an die Fehde mit dem Kollegen Schütz zieht Martin Andermatt vor das Sportgericht. Der Linienrichter hat zu Protokoll gegeben, er habe zum Trainer nicht „Halt die Fresse“ gesagt, sondern „Gehen Sie auf Ihren Sessel“. „Diese Unwahrheit konnte ich nicht auf mir sitzen lassen“, sagt der Schweizer. Und bekommt recht. Schütz wird im Nachgang für drei Wochen gesperrt. Ein Urteil, das Martin Andermatt und seinem SSV Ulm im Spiel gegen Rostock natürlich herzlich wenig nützt.
Spätestens nach der dritten Roten Karte rückt Schiedsrichter Herbert Fandel wieder in den Mittelpunkt des Geschehens. Dort, wo ein Schiedsrichter niemals verortet sein möchte. Die Spieler des SSV Ulm beginnen nun härter zu protestieren, suchen immer wieder das Gespräch mit Fandel, lamentieren, als witterten sie eine große Verschwörung gegen sich. Fandel indes lässt kaum mit sich reden. So wie sein akkurat gelegtes Haar keinen Zentimeter aus der vorgegebenen Formation auszubrechen droht, bleibt er bei seiner Linie. Begleitet von einem eisigen Gestus.