Wir bauen unsere Seite für dich um. Klicke hier für mehr Informationen.

Rekorde Spezial

Diese Repor­tage erschien erst­mals in unserem neuen 11FREUNDE-Spe­zial Rekorde“. Das Heft gibt’s hier im Shop.

Für einen aller­letzten Sprint reicht die Luft noch. 90 Minuten hat Sascha Rösler schon in den Kno­chen, da rennt er noch einmal von Sech­zehner zu Sech­zehner. Das Spiel ist unter­bro­chen, er muss die Mög­lich­keit nutzen, um Schieds­richter Her­bert Fandel etwas ent­ge­gen­zu­blöken, das keinen Auf­schub duldet. Augen­blicke zuvor hat Fandel näm­lich Innen­ver­tei­diger Janos Radoki und damit den vierten Spieler des SSV Ulm mit Rot vom Platz gestellt. Beim Schieds­richter ange­kommen, baut sich der 21-jäh­rige Rösler vor ihm auf, blickt dem Mann im knall­roten Trikot ent­gegen und schimpft wie der berühmt-berüch­tigte Rohr­spatz. Für einen Moment scheinen sich ihre Nasen zu berühren. 

Fandel tritt einen Schritt zurück, ein Ros­to­cker Spieler schiebt Rösler bei­seite, wenige Sekunden später ist das Spiel vorbei. Es soll der Schlussakt eines Bun­des­li­ga­spiels sein, an dessen Ende ein bis heute uner­reichter Rekord steht: Her­bert Fandel hat vier Spieler ein und des­selben Teams vom Feld gestellt – und noch einige Platz­verweise mehr ­aus­ge­spro­chen. Er über­trifft damit Schieds­richter Man­fred Schmidt, der in der Saison 1993/94 in einem Spiel drei Spieler von Dynamo Dresden (und zwei vom BVB) run­ter­stellte.

Inhalt aus Datenschutzgründen blockiert

(Bei Anzeige erfolgt möglicherweise Tracking durch Drittanbieter)

Stolz sei er nicht darauf, was sich am 10. Sep­tember 1999 zwi­schen Hansa Ros­tock und dem SSV Ulm zuge­tragen hat, sagt Fandel heute. Und geht unver­mit­telt in die Ana­lyse: Die Ulmer Spieler gingen aggressiv in die Zwei­kämpfe, das Spiel war nicht auf son­der­lich hohem Niveau.“ Der 58-Jäh­rige spricht streng und klar, mit pfäl­zi­schem Dia­lekt, kor­rekte Wort­wahl. Ein Mann, der keine Zweifel auf­kommen lassen will: Ich ent­schied, wie ich es für richtig hielt.“

Die Signal­wir­kung bleibt aus

Für die ein­zelnen Szenen, die zu den Roten Karten führten, muss er in seinem Gedächtnis kramen, vor Augen hat er sie kaum noch. Trotzdem lie­fert er zu jedem Platz­ver­weis einen prä­zisen Kom­mentar: Den ersten erteilt Fandel kurz vor dem Halb­zeit­pfiff, Ulms Stürmer Hans van de Haar hat den Ros­to­cker Radwan Yasser an der Mit­tel­linie plump umge­senst und muss, weil er zuvor schon einmal zu spät gekommen ist, den Platz folg­lich mit Gelb-Rot ver­lassen. Eine harte Ent­schei­dung? Fandel weiß, wie wichtig es für einen Schieds­richter ist, Situa­tionen auch nach abge­lau­fener Spiel­zeit zu bewerten. Der Ein­stieg in die per­sön­li­chen Strafen – sprich die erste Gelbe, die erste Rote Karte – sollte wohl­über­legt sein“, sagt er. Sie hat eine Signal­wir­kung und gibt die ­Linie der ­Spiel­lei­tung vor.“

An jenem Frei­tag­abend, dem 4. Spieltag der Saison, scheint diese Signal­wir­kung aller­dings aus­zu­bleiben. Wie die Ber­serker keilen die Ulmer durch das Ost­see­sta­dion, rennen an, ständig einen Schritt zu spät. Nach 60 Minuten ist Schieds­richter Fandel gezwungen, mit Uwe Grauer auch den zweiten Ulmer vom Platz zu stellen. Der Ver­tei­diger ist aber­mals so unge­schickt in den Zwei­kampf gegangen, dass er längst nicht mehr den Ball, son­dern nur noch Victor Agalis Sprung­ge­lenk treffen kann. Eine Nie­der­lage der Lang­sam­keit“, heißt es in der Fern­seh­über­tra­gung auf Sat.1. Der Gefoulte selbst sagt nach dem Spiel: If you want to play rugby, we play rugby. If you want to play foot­ball, we play foot­ball.“ Es scheint, als wüssten die Ulmer wirk­lich nicht, welche Sportart sie an diesem Abend aus­üben wollten.

Fandel 100 PRO IMAGO SPORT 1 147729 High Res WEB
imago images
Fandel 100 PRO IMAGO SPORT 1 147735 High Res WEB

Wäh­rend Sascha Rösler auf dem Feld bleiben darf (oben), muss Trainer Martin Ander­matt seinen Platz ver­lassen.

imago images

Mit Grauers Her­un­ter­stel­lung richtet sich der Blick an die Sei­ten­linie. Wo sich Ulms Trainer Martin Ander­matt langsam, aber sicher zu kräu­seln beginnt. Anders als Her­bert Fandel ver­mischt er die Szenen nicht, wenn er sich an das Spiel erin­nert. Wie ein Archivar, der nicht ver­gisst, erin­nert sich der 61-Jäh­rige. In meiner Schweizer Ruhe bin ich auf­ge­standen, um Lini­en­richter Detlef Schütz etwas zu fragen“, erzählt Ander­matt gleich­mütig. Er habe bloß wissen wollen, ob die zweite Rote Karte wirk­lich berech­tigt gewesen sei. Da sagte der nur, ich solle die Fresse halten.“ Ander­matt sei dar­aufhin sehr nah an ihn her­an­ge­treten und habe gesagt: Schauen Sie, Sie müssen ein­fach schön anständig bleiben.“ In höf­li­cher Absicht selbst­ver­ständ­lich. Dann hat der Lini­en­richter dem Herrn Fandel gesagt, er müsse mich auf die ­Tri­büne schi­cken.“

Ein schriller Pfiff ertönt, Fandel blickt an den Spiel­feld­rand, hebt den Zei­ge­finger, deutet ent­schieden gen Tri­büne und macht kehrt. Martin Ander­matt ver­gräbt seine Hände in den Hosen­ta­schen, tut wie ihm befohlen und schlen­dert mit einer fast schon beun­ru­hi­genden Gelas­sen­heit in Rich­tung der Zuschau­er­ränge. Zu ihm gesellt sich kurz darauf sein Manager Erich Steer. Auch er legt sich mit Assis­tent Schütz an und wird auf die Tra­versen ver­bannt. Wenig später sehen Trainer und Manager neben­ein­ander ste­hend auch die dritte, voll­kommen berech­tigte Rote Karte mit an. Der gerade ein­ge­wech­selte Evans Wise ist seinem Gegen­spieler in die Stelzen gesprungen.

Dort, wo ein Schieds­richter nie sein möchte

Im Nach­gang an die Fehde mit dem Kol­legen Schütz zieht Martin Ander­matt vor das Sport­ge­richt. Der Lini­en­richter hat zu Pro­to­koll gegeben, er habe zum Trainer nicht Halt die Fresse“ gesagt, son­dern Gehen Sie auf Ihren Sessel“. Diese Unwahr­heit konnte ich nicht auf mir sitzen lassen“, sagt der Schweizer. Und bekommt recht. Schütz wird im Nach­gang für drei Wochen gesperrt. Ein Urteil, das Martin Ander­matt und seinem SSV Ulm im Spiel gegen Ros­tock ­natür­lich herz­lich wenig nützt.

Spä­tes­tens nach der dritten Roten Karte rückt Schieds­richter Her­bert Fandel wieder in den Mit­tel­punkt des Gesche­hens. Dort, wo ein Schieds­richter nie­mals ver­ortet sein möchte. Die Spieler des SSV Ulm beginnen nun härter zu pro­tes­tieren, suchen immer wieder das Gespräch mit Fandel, lamen­tieren, als wit­terten sie eine große Ver­schwö­rung gegen sich. Fandel indes lässt kaum mit sich reden. So wie sein akkurat gelegtes Haar keinen Zen­ti­meter aus der vor­ge­ge­benen For­ma­tion aus­zu­bre­chen droht, bleibt er bei seiner Linie. Begleitet von einem eisigen Gestus.