Mesut Özil beendet seine Karriere. Vor einiger Zeit hat unser Autor ihn besucht: Am 15. Oktober, zu Özils Geburtstag. Sie sind gemeinsam durch London gefahren. Ein Wahnsinn.
Der folgende Text stammt aus der 11FREUNDE-Ausgabe #181, erschienen im November 2016. Das Heft gibt’s hier im Shop.
Gleich geht der Wahnsinn los. Mesut Özil lenkt sein Auto aus der Tiefgarage des Emirates. Er blickt hinauf zur Ausfahrt. Schweigt. Die letzten Sekunden Stille vor dem Sturm. An der Schranke warten sie bereits, sie stehen nach jedem Arsenal-Heimspiel dort, zahlreiche Fans, viele sehen aus wie er. Jungs mit Mesut-Frisuren, Mesut-Brillis, Mesut-Trikots. In den Händen halten sie Stifte, Programmhefte, Schals und Smartphones. Schon mal über getönte Scheiben nachgedacht? „Sind verboten“, sagt Özil. Aber nervt das nicht? „Ich war doch selbst mal Fan. In Madrid war vieles distanzierter, die Polizei hat alle Straßen um das Stadion abgeriegelt, überall Security.“ Er fährt langsam auf die Ausfahrt zu, kaum schneller als 20 Stundenkilometer. Jetzt geht der Wahnsinn los.
Die Fans laufen neben dem Auto her, klopfen an die Scheiben, immer und immer wieder. Özil, frisch geduscht, Trainingsanzug, Sneaker, dreht die Musik leiser. Tarkan, der Türkpop-Sänger, flüstert nur noch, „Kuzu Kuzu“ heißt das Lied, es handelt von Liebe und Sehnsucht. An der ersten roten Ampel hält er an, lässt das Fenster herunter, und die Kinder drücken sich beinahe kopfüber in sein Auto. „Mesut! Mesut!“, japsen sie, vollkommen erschöpft vom Gerenne. Sie rufen: „Great Goal!“ Oder: „Please stay at Arsenal! Pleeeease!“ Ein älterer Herr streckt ihm ein Kleinkind entgegen, wohl in der Hoffnung, dass er, der Zauberer von Oz, seinen Filius in einen Wunderspieler verwandelt. Özil unterschreibt ihre Mitbringsel, er lässt sich fotografieren, nimmt ihre Smartphones entgegen, ein paar Selfies, pleeeease, er macht alles mit, was sie von ihm verlangen. Nach etwa fünf Minuten sagt er: „Be careful“ und fährt weiter, die nächste Ampel bereits in Sichtweite.
„Wer Özils Spiel nicht liebt, liebt den Fußball nicht“
Jetzt aber schnell, eine Einstiegsfrage. Vielleicht zur aktuellen Form. Neulich konnte man von einer Ernährungsumstellung lesen, grüner Tee, weniger Brot. Was ist dran? „Ich habe ein paar Kleinigkeiten geändert, ich bin definitiv auf einem guten Weg“, sagt er. Auf einem guten Weg? Der „Guardian“ hat Özil zuletzt mal wieder mit Arsenal-Legende Dennis Bergkamp verglichen, der TV-Sender Sky belegte anhand seiner Passstatistik, dass er der kreativste Spieler in der Geschichte der Premier League ist. Auch in Deutschland werden gerade Hymnen auf ihn verfasst. Die „Süddeutsche Zeitung“ befand nach dem Länderspiel gegen Tschechien etwa, dass wir gerade den „besten Mesut seit der Olgastraße“ erleben, also den besten Özil, seit er auf dem Bolzplatz in Gelsenkirchen-Bismarck die älteren Jungs beim Dribbling stehenließ wie Tischkickerfiguren. Also, Mesut: Mal ehrlich, Sie sind doch in der Form Ihres Lebens! Özil, immer noch etwas unsicher, wer da auf dem Sitz neben ihm Platz genommen hat, mag Eigenlob nicht, und das ist ja eigentlich eine gute Eigenschaft. Er bleibt erst mal bei den unverbindlichen Profisätzen, wie man sie von ihm kennt: „Die Saison ist noch jung, und ich muss weiter an mir arbeiten.
Mesut Özil hat über 80 Länderspiele gemacht. Er ist deutscher Pokalsieger geworden, englischer Pokalsieger, spanischer Meister und Weltmeister. José Mourinho sagt über ihn: „Es gibt keine Kopie von Özil, nicht mal eine schlechte.“ Arsène Wenger sagt: „Wer Özils Spiel nicht liebt, liebt den Fußball nicht.“ Er spielt Pässe aus dem Fußballgelenk, die Denksportaufgaben für Physiker sein könnten. Er ist seit zehn Jahren Fußballprofi. Er stand immer da, wo auch die Mikrofone waren, trotzdem war es nie leicht, ihm nahe zu kommen.