Nach seiner schweren Verletzung war Sami Khedira wie in einem schwarzen Loch verschwunden. Jetzt spricht er offen über Eilanrufe aus dem Krankenwagen, seinen Traum von Brasilien und die neue Balance aus Härte und Gelassenheit.
Sami Khedira, am 15. November 2013, beim Länderspiel Italien gegen Deutschland, blieben Sie im Platz hängen und verdrehten sich dabei das Knie. Wussten Sie sofort, dass etwas Schlimmes passiert war?
Nein, nicht in dem Ausmaß. Es war eine unkontrollierte Aktion und ich habe sofort gemerkt, dass im Knie etwas nicht stimmt. Dr. Müller-Wohlfahrt hat schon auf dem Platz den Innenbandabriss diagnostiziert. Eine Stunde später, als die Verkrampfung etwas aus dem Körper raus und ich ein bisschen entspannter war, haben wir den Kreuzbandriss noch vor der Computertomografie festgestellt. Man konnte das Knie bewegen, wie man wollte, da war alles klar.
Sie sind dann nach der Rückkehr vom Krankenhaus ins Mannschaftshotel „Principe die Savoia“ in Mailand noch mit dem Rollstuhl durch eine kleine Feier anlässlich von Jogi Löws 100. Länderspiel gefahren worden. Eine Situation wie in einem schlechten Film?
Nein, meine erste Reaktion war die, gleich alles Nötige in die Wege zu leiten. Bereits vom Krankenwagen aus haben wir Dr. Boenisch in Augsburg angerufen, der mich früher schon behandelt hatte, und für den nächsten Tag einen Operationstermin ausgemacht. Ich habe außerdem mit dem Management von Real Madrid telefoniert und die Vereinsärzte gebeten, dass sie am nächsten Tag nach Deutschland kommen.
Das klingt unglaublich sachlich, konnten Sie in einer für Sie derart dramatischen Situation wirklich so schnell umschalten?
Natürlich war ich traurig und stand vermutlich auch unter Schock. Mein Vater etwa ist so mitgenommen gewesen, dass er Tränen in den Augen hatte, als ich wieder im Hotel war. Und mit über vier Monaten Abstand kann ich über diesen Abend sicherlich auch lockerer sprechen, aber ich habe damals sofort in die Zukunft schauen wollen. Deshalb habe ich Doc Müller-Wohlfahrt gefragt, ob ich es in den sieben Monaten bis zur WM schaffen kann. Sein Signal war klar: Es geht, wenn ich gut arbeite und gute Leute um mich herum habe.
So haben Sie dann nur gut 15 Stunden nach der Verletzung auf dem OP-Tisch gelegen?
Genau, samstags um 13 Uhr. Ich bin morgens um neun Uhr nach Augsburg geflogen, wurde erneut untersucht, dann haben wir noch auf die Ärzte von Real Madrid gewartet. Es musste nämlich ein gemeinsamer Nenner gefunden werden, weil es ein größeres Risiko ist, das Kreuzband und das Innenband zusammen zu operieren. Normalerweise operiert man erst das Innenband und zwei Monate später das Kreuzband. Dann wäre aber die WM ausgeschlossen gewesen. Deshalb sind wir das Risiko eingegangen, und Real Madrid als mein Arbeitgeber musste dem selbstverständlich zustimmen.
Mussten Sie darum streiten?
Nein, sie haben allen meinen Wünschen entsprochen, auch danach. Normalerweise will ein Verein den Spieler bei sich und Kontrolle über ihn haben, und dann komme ich mit der Bitte, die Reha nicht in Spanien, sondern in Deutschland zu machen. Die Vereinsärzte hatten zwar ständig Kontakt zu den Therapeuten und Trainern in der Reha, aber ich durfte vier Monate lang wegbleiben. Das zeigt, was für ein riesiges Vertrauen sie in mich gesetzt haben und was für ein großer Klub Real Madrid ist.
Wie lange hat die Operation gedauert?
Genau zwei Stunden und fünf Minuten. Es war eine perfekte Leistung von Dr. Boenisch, was Müller-Wohlfahrt und die Mannschaftsärzte von Real Madrid, die dabei waren, bestätigt haben.
Wer hat sich gemeldet, als Sie nach der OP wach geworden sind?
Zum Glück war zunächst einmal meine komplette Familie bei mir. Ich habe aber wirklich extrem viele Anrufe und Nachrichten bekommen. Teilweise sogar von Leuten, die ich nicht einmal persönlich kannte. Auch von den handelnden Personen war der Zuspruch enorm groß: vom Bundestrainer, von Oliver Bierhoff, meinem Vereinstrainer Carlo Ancelotti oder Real-Präsident Florentino Perez. Besonders Ancelotti hat in der ersten Woche täglich im Krankenhaus angerufen und sich informiert, wie es mir geht oder ob er was tun kann. Der Trainer eines so großen Vereins hat sicher viele andere Dinge zu tun, aber trotzdem hat er sich jeden Tag Zeit genommen.
Ist es für einen Topathleten noch viel schlimmer als für einen Normalbürger, wenn der Körper vom einen Moment auf den nächsten nicht mehr wie gewohnt funktioniert?
Absolut! Man spielt jeden dritten Tag, trainiert jeden Tag. Und auf einmal kann man nicht einmal mehr 30 Meter am Stück gehen. Sowohl der Körper als auch der Kopf brauchen Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Das ist unheimlich schwer und nagt auch am Ego. Für alltägliche Dinge wie Duschen oder Anziehen habe ich anfangs mehr als eine halbe Stunde gebraucht. Ich konnte kaum etwas alleine machen und war ständig auf andere angewiesen. Ich habe mich machtlos und einfach schlecht gefühlt, ständig meine Mitmenschen herumkommandieren zu müssen, wenn ein Teller abgeräumt werden musste oder das Handy nicht in Griffweite lag. Das war sehr deprimierend, zumal man auch im Trainingsraum zunächst extrem limitiert ist. In den ersten drei, vier Wochen bekam ich extrem viele Behandlungen und konnte selber bestenfalls noch ein paar Oberkörperübungen machen.
War es richtig, in der Abgeschiedenheit von Donaustauf am Rand des Bayrischen Waldes zu sein? Oder wären Sie nicht doch lieber in einer großen Stadt gewesen, wo man sich leichter ablenken kann?
Mit Ablenkung wäre es mir eher noch schlechter gegangen. Viele Freunde wollten mich besuchen, aber selbst das habe ich nicht zugelassen. Ich wollte nur meinen engsten Kreis von Menschen um mich haben, bei denen ich mich hundertprozentig wohl fühle und zudem absolutes Vertrauen habe.
Haben Sie in der Reha mal darüber nachgedacht, warum gerade Ihnen diese Verletzung passiert ist? Wird Spitzenspielern wie Ihnen inzwischen einfach zu viel zugemutet?
Das glaube ich nicht. Ich weiß, dass die Spielbelastung nicht zu hoch ist. Und sowohl José Mourinho als auch Carlo Ancelotti haben bei Real Madrid unheimlich viel Wert darauf gelegt, den Spielern genügend Pausen und Regenerationszeiten zu geben. Außerdem war ich vor der Verletzung richtig gut in Form, mein Körper war im Einklang und privat lief alles topp. Es war eigentlich alles perfekt. Wo will ich da nach Gründen suchen? Es war Ungeschick, oder ich bin mit zu viel Emotionalität in den Zweikampf gegangen. Aber so was passiert im Fußball einfach.
Haben Sie mit anderen Spielern gesprochen, die in einer ähnlichen Situation waren?
Eigentlich nicht, abgesehen von Holger Badstuber. Wir waren bei Klaus Eder im gleichen Trainingsraum und hatten den gleichen Reha-Trainer. Bei Holger war die Situation mit zwei Kreuzbandrissen in Folge noch extremer, trotzdem habe ich ihn als unheimlich stabil empfunden, als sehr klar, sehr fokussiert und überhaupt nicht ungeduldig. Mich hat sehr beeindruckt, wie cool er trotz seiner Jugend damit umgegangen ist. Holger hat mir auch gesagt: „WM ist schön und gut. Aber du solltest das ein Stück weit gelassener sehen.“
Haben Sie den Eindruck, dass diese Verletzung Sie persönlich verändern wird?
Das hat sie schon. Man lernt sich in so einer Zeit besser kennen.
Was haben Sie über sich herausgefunden?
Man erkennt Stärken, wie die mentale Kraft und ein gutes Durchsetzungsvermögen. Aber es werden einem auch Schwächen deutlicher.
Sie wirken offener, freundlicher und verbindlicher als in der Vergangenheit, wo Sie in der Öffentlichkeit oft eine fast schon humorlose Ernsthaftigkeit ausgestrahlt haben.
Meine Verbissenheit hat mich nach oben gebracht, ohne sie wäre meine Karriere nicht fast schon märchenhaft verlaufen. Aber irgendwo gibt es einen Punkt, an dem es um die Kombination aus konzentrierter, harter Arbeit mit einer gewissen Lockerheit oder Entspanntheit geht. Ich will das mal an einem Beispiel erklären: In den ersten vier, fünf Wochen bin ich über eine gewisse Beugung des Knies nicht hinausgekommen, und das hat mich verrückt gemacht. Ich wollte es unbedingt erzwingen mit noch einer Behandlung und noch mehr Anstrengung, aber es ging nicht voran. Im Gegenteil – das Knie ist angeschwollen. Über Weihnachten bin ich dann eine Woche mit der kompletten Familie in Urlaub gefahren, und als ich wieder in die Reha zurückkam, konnte ich das Knie um 30 Prozent mehr beugen. Das war für mich der Wendepunkt, nicht immer zu sagen: „Ich will, ich muss zur Weltmeisterschaft.“
Sie wollen es aber noch?
Natürlich! Für einen Athleten ist es in so einer Situation unheimlich wichtig, ein klares Ziel zu formulieren. Meines ist: Ich will bei der Weltmeisterschaft spielen. Aber ich sehe es inzwischen trotzdem entspannt. Wenn es mit der WM nicht klappen sollte, geht für mich die Welt nicht unter. Denn sollte alles gut laufen, habe ich noch sieben oder acht Jahre, in denen ich wunderbaren Fußball erleben kann. Ich bin bei einem tollen Klub, spiele mit großartigen Spielern und habe jedes Jahr die Chance, die größten Trophäen zu gewinnen. Das alles ist doch unheimlich viel wert.
Glauben Sie, dass Sie souverän und ehrlich genug wären, Joachim Löw gegenüber zuzugeben, wenn Sie dieses Niveau nicht rechtzeitig erreichen?
Ich bin mit ihm in einem sehr direkten, offenen Austausch. Er weiß, dass ich bis zur letzten Sekunde besessen arbeiten werde, aber ich weiß auch, dass es nichts bringt, sich selbst zu belügen. Das habe ich nämlich in der Reha gelernt: Man sollte nicht laufen wollen, wenn man weiß, dass man noch nicht so weit ist. Um mit Deutschland nach Brasilien zu fahren, reicht es außerdem nicht, einfach nur gesund zu werden. Ich muss dem Trainer sagen können: Ich gehe ohne Probleme und ohne Angst in jeden Zweikampf. Ich bin fit und handlungsschnell genug, um Spitzenleistungen gegen die Besten der Welt zu bringen.
Wie ist es eigentlich, wenn man frisch nach einer Verletzung eine Geschichte liest, wie sie im „Spiegel“ stand, wo Ihre Verletzung als Befreiung der Nationalmannschaft interpretiert wurde? „Seine Rolle war zu groß geworden“, hieß es da, oder: „Gemessen an der Qualität war er zu wichtig.“
Das ist Meinungsfreiheit. Aber ich war von der Öffentlichkeit sowieso fast nie in der Stammelf eingeplant und habe trotzdem überall gespielt. Und das mittlerweile seit acht Jahren bei zwei Vereinen und einer ganzen Reihe von Trainern.
Für viele verletzte Spieler ist es ein großes Problem, nicht mehr zur Gemeinschaft ihres Teams zu gehören. Wie belastend war das für Sie?
Anfang Januar habe ich meine Mannschaft vor einem Spiel in Madrid besucht, im Februar war ich auf Schalke zur Champions League, und beide Besuche haben mir enorm viel Kraft gegeben. Ich hatte innerhalb von wenigen Sekunden das Gefühl, dass ich nie weg war. Jeder hat sich Zeit für mich genommen und wollte kurz mit mir reden, obwohl drei Stunden später ein Champions-League-Spiel stattfand. Die Kollegen haben sich gefreut, dass es mir gut geht, und mir signalisiert, dass sie mich brauchen.
Gibt es eigentlich Übungen in der Reha, die richtig nerven?
Nein, an dem Punkt bin ich noch nicht angekommen. Ich mache jede Übung gerne, weil ich dankbar dafür bin, dass ich sie überhaupt ausführen kann. Außerdem merkt man, dass alles immer ein bisschen besser geht.
Teil der Reha ist inzwischen auch neurologisches Training. Was passiert da genau?
Das sind oft ganz einfache Übungen: Man muss den Kopf stillhalten und nur mit den Augen den Bewegungen eines Fingers folgen. Oder man setzt eine Augenklappe auf und versucht, mit Tennisbällen zu jonglieren. Anfangs habe ich mir schon die Frage gestellt, was das soll, aber dann habe ich gemerkt, wie anstrengend das ist, und das Gefühl entwickelt, dass es die Wahrnehmung wirklich schult. Generell bin ich sowieso sehr offen für neue Dinge und glaube, dass es viele Bausteine gibt, um wieder gesund zu werden.
Könnte es sein, dass Sie durch solche Übungen sogar besser werden als vor der Verletzung?
Die individuelle Technik im Fußball ist sehr weit vorangeschritten, die Taktik ist fast perfekt, die Ausdauer und die Schnelligkeit der Sprints sind fast ausgereizt. Was also kann noch verbessert werden? Vielleicht ist es wirklich die Wahrnehmung. Also noch besser vorausschauen zu können, was man mit dem Ball machen wird, wenn man ihn bekommt. Ich habe jedenfalls bei dem Training gemerkt, dass bei mir noch viel Potential ist. Man kann aus Übungen, die ganz banal wirken, einen hohen Ertrag ziehen.
Sie haben sogar an ihrer Atmung gearbeitet. Was kann das bringen?
Niemand atmet bewusst, aber wenn man es tut, merkt man, wie viel Speicher man hat. Das festzustellen war sehr beeindruckend. Oder mal zehn Minuten zu joggen und dabei nur durch die Nase zu atmen – danach geht nichts mehr. Es gibt zwischen richtigem Atmen und einem guten Laufstil auch einen Zusammenhang, und wer weiß, ob man dadurch in den letzten zehn Minuten eines entscheidenden Spiels nicht noch etwas konzentrierter sein kann.
Sie haben sich in den letzten Monaten ausschließlich um Ihren Körper gekümmert, was ist dabei die wichtigste Erkenntnis gewesen?
Dass das Selbstverständliche nicht selbstverständlich ist: die Straße hinaufzulaufen oder eine Treppe raufzusteigen. Es ist das Tollste auf der Welt, sich beschwerdefrei bewegen zu können. Und es hat mir die Augen dafür geöffnet, dass wir, wenn wir gesund sind, den besten Job der Welt haben.
Schauen Sie manchmal auf den Terminplan von Real Madrid und sagen: An dem Wochenende möchte ich wieder auf dem Platz stehen?
Ich kenne den Terminplan und weiß, wann das spanische Pokalfinale ist, wann das Halbfinale und das Finale der Champions League. Wir haben zu Beginn auch einen Plan aufgestellt, wann ich realistisch wieder am Mannschaftstraining teilnehmen kann, aber daran krallen wir uns nicht fest. Denn ich habe inzwischen gelernt, immer nur den nächsten Schritt zu gehen. Es gibt Tage, die fühlen sich perfekt an, und am Tag danach fühlt man sich nicht gut. Plötzlich fällt alles schwer: das Laufen, die Gewichte bekommt man nicht weggedrückt, man kann sich nicht konzentrieren. Also werde ich auch weiter nur Schritt für Schritt meinen Weg gehen.
Bislang ist Ihre Reha ohne Rückschläge verlaufen, Ihre Trainer und Ihre Mannschaftskameraden haben Sie nicht vergessen, Sie haben etwas Lockerheit und interessante neue Trainingsformen gefunden. War es am Ende sogar eine gute Zeit, oder haben sie aus einer schlimmen Zeit nur das Beste zu machen versucht?
Selbstverständlich war ich am Anfang niedergeschlagen. Aber ich denke, dass ich durch die Erfahrung als Persönlichkeit gereift bin.