Volker Ippig hütete seine gesamte Profikarriere das Tor des FC St. Pauli. Bis heute muss er als Projektionsfläche für das linke Rebellen-Image des Kiezklubs herhalten. Ein Gespräch über seine Rolle als „Punk im Tor“, einsilbige Auftritte im Sportstudio und Trashtalk am Kickertisch.
Volker Ippig, arbeiten Sie immer noch im Hafen?
Ja. Inzwischen allerdings nicht mehr als Unständiger (Tagelöhner auf Abruf, d. Red.), sondern mit einem Festvertrag. Früher habe ich nebenbei noch eine mobile Torwartschule betrieben. Das ließ sich mit dem Festvertrag allerdings nicht mehr vereinbaren. Ich arbeite mit riesigen Maschinen, da muss ich ausgeschlafen sein. Trotzdem: Ich fahre gern zur Arbeit und schnacke mit meinen Kollegen.
Was ist Ihre Aufgabe am Hafen?
Ich bin als Lascher bei Wind und Wetter für das richtige Verzurren der Schiffsladungen zuständig.
Klingt nach einem Knochenjob. Erinnert Sie in Ihrem Alltag noch etwas an Ihre Vergangenheit als Fußballprofi?
Fußball war zwar immer ein großer Teil meines Lebens, aber heute taucht er nur noch auf, wenn ich mir die Spiele meiner Töchter anschaue. Die spielen beim FC Riepsdorf. Das ist für mich der echte Fußball, das bewegt mich viel mehr als das, was im Profifußball passiert.
1989 haben Sie in einem Interview gesagt, dass Sie davon träumen, ein Haus auf dem Land zu kaufen und eine Familie zu gründen. Ist Ihr Traum in Erfüllung gegangen?
Ich hatte viele Träume, aber es stimmt, dass ich mir von meinem Geld, das ich als Fußballer verdiente, hier in Lensahn (Gemeinde im Kreis Ostholstein, Schleswig-Holstein, d. Red.) ein Haus gekauft habe. Meine Frau und ich haben es selbst ausgebaut und renoviert. Ich bin vom Punk zum Familienmensch geworden.
Der Kabarettist und Autor Rocko Schamoni wuchs 20 Kilometer entfernt von Ihrem Heimatort auf und fasste seine Jugend folgendermaßen zusammen: „Totaler Totentanz…Mein Entschluss war klar: Ich musste Punk werden! Ohne eigentlich etwas darüber zu wissen.“ War es bei Ihnen ähnlich?
In meiner Jugend gab es nicht anderes als Fußball. Zum Punk wurde ich erst in Hamburg. Dort gab es viel mehr geistige Inspiration als auf dem Land. Meine Kindheit in Lensahn war zwar wunderschön, mein Umzug nach Hamburg aber veränderte meine Sicht auf die Welt.
Mit 18 Jahren sind Sie in das Haus des St. Pauli-Vize-Präsidenten Otto Paulick eingezogen. Wie kam es dazu?
In meiner Anfangszeit bei St. Pauli wohnte ich noch in Lensahn. Dreimal die Woche fuhr ich eineinhalb Stunden zum Training und zurück. Nach einem halben Jahr Pendeln sagte Otto Paulick zu mir: „Du musst dich entscheiden: Entweder du ziehst komplett nach Hamburg, nutzt dein Talent als Fußballtorwart oder du bleibst auf deinem Level in Lensahn!“ Dieses Ultimatum ging mit dem großzügigen Angebot der Familie Paulick einher, bei ihr einzuziehen.
Sie nahmen das Angebot an. Aber wie wurden Sie dort zum Punk?
Abends am Essenstisch schnackte man bei Familie Paulick über Gott und die Welt. Von Zuhause war ich das nicht unbedingt gewohnt. Vor mir taten sich komplett neue Horizonte auf. Otto Paulick war Kunstliebhaber – seine Lieblingskünstler: Pablo Picasso und Alfred Kubin. Ich begriff, dass es noch andere Dinge im Leben gibt als Fußball. Ich kam zum ersten Mal in Kontakt mit persönlicher Freiheit.
Als 18-Jähriger bestritten Sie auch ein denkwürdiges Testspiel. Erinnern Sie sich?
Ja, ich machte mein erstes Spiel mit St. Paulis erster Mannschaft gegen den TSV Plön und ich fing mir nach einem Rückpass ein absolut kurioses Eigentor. Unser Libero Karl-Heinz Noldt, ein alter Haudegen, verpasste mir den Anschiss meines Lebens. Ich kam mir vor wie eine kleine Wurst.
Eigentlich meinte ich Ihr Testspiel 1981 mit St. Pauli gegen die deutsche Nationalmannschaft. Wie war es gegen Rummenigge, Briegel, Breitner, Stielike, Förster und Co. zu spielen?
(lacht) Ach so! Das Spiel beim TSV Plön war natürlich viel denkwürdiger. An die Partie gegen die Nationalmannschaft kann ich mich auch gut erinnern. Es war mein erstes Spiel vor völlig überfüllten Stehplätzen des ausverkauften Millerntors. Die Nationalspieler gaben zwar nicht Vollgas, wir verloren aber trotzdem mit 0:6.
Damals trugen Sie eine Irokesenfrisur. Der Hamburger Boulevard interessierte sich nach dem Spiel für nichts anderes mehr als den „der Punker im Tor“. Haben Sie sich an diesem Stereotyp gestört?
Ach ja, meine erste „Home-Story“. Die „Bild“ besuchte mich zu Hause und beklebte mich mit der Etikette „Punk“ – ein Riesenaufreger. Bloß weil ich mir die Haare mit der Nagelschere kurz geschnippelt hatte. Dabei wusste eigentlich niemand, was ein Punk wirklich ist. Damit war Rocko Schamoni nicht alleine.
Haben Sie unter Ihrem Ruf gelitten?
Nein. Vielleicht hat er mich sogar zu besonderen Leistungen angespornt. In der grauen Masse konnte ich danach jedenfalls nicht mehr untertauchen.
Mit Anfang 20 hatten Sie allerdings zunächst anderes im Sinn. Nach Ihrem Abitur kehrten Sie dem Fußball den Rücken zu. Warum?
Der Fußball hat mich angewidert. Ich hatte keine Lust mehr, meine Zeit beim Kicken zu verplempern. Ich wollte Lebenserfahrung sammeln und machte ein Praktikum in einem Kindergarten für behinderte Kinder.
Was am Fußball hat Sie angewidert?
Fußball war einfach miefig: Scheinbare Kameradschaft, ewig gestrige Saufsprüche und eine feste Hackordnung. „Political Correctness“ war damals noch nicht so angesagt. Das ganze Metier war sehr prollig und dumm. Unmögliches Verhalten wurde einfach von der Mehrheit akzeptiert. Warum sollte ich mir das weiter geben? Es war ja nicht so, dass ich damals besonders viel verdient habe – St. Pauli war immer nur eine Aussicht.
Wie reagierte Ihr Umfeld auf Ihre Entscheidung?
Die Leute dachten, ich sei total verrückt, meine einmalige Chance bei St. Pauli wegzuwerfen. Nicht einmal meine neuen Kollegen im Kindergarten konnten das nachvollziehen.
Nach dem Praktikum gingen Sie als Aufbauhelfer ins sandinistische Nicaragua. Wie kam es dazu?
Das lief über meine Schule: Ich machte mein Abitur auf einem sehr liberalen Wirtschaftsgymnasium in St. Pauli, direkt hinter der alten Haupttribüne vom Millerntor. Mein ehemaliger Klassenlehrer organisierte die Aufbauhilfe. An einer Schule in Schleswig-Holstein wäre so etwas undenkbar gewesen, dort liefen noch jede Menge Altnazis herum.
Zwischenzeitlich spielten Sie wieder für St. Paulis zweite Mannschaft. Was hat der Verein zu Ihrem Entschluss gesagt, den Klub erneut zu verlassen?
Ich bat um eine Auszeit. Die Verantwortlichen haben mir das glücklicherweise gegönnt. Wir vereinbarten, dass ich nach der Arbeitsbrigade in Nicaragua zurück zu St. Pauli komme.
Wie haben Ihnen die sechs Monate bei den linken Revolutionären in Nicaragua gefallen?
Das waren sehr sympathische Zeitgenossen. Die Sandinisten haben dort eine 43 Jahre andauernde Diktatur beendet und waren 1985 im Begriff, viel Neues aufzubauen. Wir halfen beim Aufbau eines Krankenhauses. Kurz: Es gefiel mir dort sehr gut.
Wie schwer war der Weg zurück in den Fußball nach sechs Monaten Arbeitsbrigade?
Enorm schwierig. Nicaragua hatte mich verändert. Ich hatte gesehen, wie die Menschen dort mit wenig Geld über die Runden kommen und trotzdem glücklicher und gelassener waren als wir Mitteleuropäer. Nach meiner Rückkehr bekam ich die zwei Welten nicht mehr überein. Es gab immer viel Streit beim Training. Ich passte nicht mehr in das System Fußball.
Zu dieser Zeit wohnten Sie auch in der besetzten Hafenstraße. Hat das die Ankunft in der Welt des Fußballs zusätzlich erschwert?
Nein. Ich war einfach zu lange weg vom Fußball. Nach einem Jahr Praktikum und den sechs Monaten in Nicaragua hatte mich daran gewöhnt, mir meine Zeit frei einzuteilen und unabhängig zu sein. Es war befremdlich, sich dann wieder mit einer Horde von Fußballern abzugeben, die meinten, alles besser zu wissen.
Wie ging es weiter?
Ich bin bei St. Pauli rausgeflogen und landete wieder bei meinen Eltern in Lensahn. Es ging mir sehr schlecht. Ich verstand die Welt und mich selbst nicht mehr, alles war widersprüchlich. Ich wurde depressiv. Nach einer Weile dachte ich: „Bevor ich komplett Schluss mache, versuche ich es noch einmal mit Fußball.“
Sie riefen noch einmal bei St. Pauli an.
Willi Reimann war gerade neuer Trainer beim FC St. Pauli geworden und sagte, ich könne wieder anfangen. Ich entschloss mich, mein Gehirn auf Durchzug zu stellen und wieder Fußball zu spielen. Das war der Hype: Fußball hat mich gerettet!
Nachdem Sie sich wieder ins Team gespielt hatten, wurden Sie für die Fans am Millerntor aufgrund Ihrer Hafenstraßen-Vergangenheit so etwas wie die linke Projektionsfläche des entstehenden alternativen Klubimages. Sehen Sie das ähnlich?
Hätte ich nicht besser sagen können.
Besitzen Sie selbst ein „Volker hört die Signale“-T-Shirt?
Ja, aber diese Dinge wurden von den Medien oft größer gemacht, als sie waren.
Sind Sie nicht vor jedem Spiel mit der erhobenen Arbeiterfaust aufgelaufen?
Nicht immer. Aber jedes Mal, wenn mich die Medien als Querulant darstellten, hat mein Opa mich ermahnt. Wenn ich mich rechtfertigen wollte, sagte er: „Aber es steht doch in der Zeitung!“ Ich hab ihm geantwortet: „Mensch Opa, in der Zeitung stand zu deinem 50. Geburtstag auch, dass du Kaninchenzüchter bist, obwohl du Kanarienvögel züchtest!“
Im November 1988 wollte auch Sportstudio-Moderator Bernd Heller Sie in die Rebellenschublade stecken. Er fragte: „Fußball und Nicaragua, wie passt das zusammen?“ Was erwiderten Sie?
Ich sagte: „Geht.“ Vielmehr habe ich dann nicht gesagt. In meinem Leben gab es schließlich beides. Das Einzige, womit es nicht zusammen gepasst hat, war Bernd Hellers Weltbild. Selbst schuld.
Was war Ihre schönste Zeit im Fußball? Die Zeit, nachdem Sie 1987 in die zweite Liga aufgestiegen waren und auf einmal doppelt so viele Leute kamen?
Ja, das war sehr beeindruckend. Vor allem, dass unser Rumpelfußball so gut angenommen wurde. Die Stimmung am Millerntor war einmalig: Dort gab es niemals Pfiffe – von der Tribüne kamen nur positive Impulse. Unsere Gegner taten mir teilweise fast leid: Wenn denen bei einem Heimspiel mal der Ball versprang, pfiffen ihre Fans sofort. Ballannahmen sind danach natürlich gleich doppelt so schwer. In dieser Zeit merkte man, wie bei St. Pauli etwas Gutes entsteht. Bis heute zieht das immer größere Kreise. Mit dem Unterschied, dass zu meinen Erstligazeiten Fan-Utensilien noch an Ständen wie auf dem Flohmarkt verkauft wurden.
Was war Ihr schönstes Spiel mit dem FC St. Pauli?
1988: Ein Heimsieg gegen Stuttgart. Wir lagen mit 0:1 hinten und konnten das Spiel noch drehen. Wir gewannen 2:1 und das Millerntor explodierte. Unser Matchplan lief immer nach dem selben Muster ab: Wenn wir irgendwie vorne lagen, mussten wir die Führung auf Biegen und Brechen über die Zeit retten. Jedes Mal wurde es knapp – eine sehr aufreibende Spielweise. Alle, vom Fan bis zum letzten Betreuer waren nach einer Partie mit den Nerven am Ende.
Zum Abschalten sollen Sie nach einem Spiel immer gerne auf den Kiez gegangen sein.
Ich habe immer gern gefeiert, wenn wir gewonnen haben. Bloß nach Niederlagen nicht. Dann schmeckt kein Bier.
Stimmt es, dass Sie nach einem Heimspiel immer Kickern gegangen sind?
Ja, zusammen mit Bernhard Olck. Wir haben uns durch eine Menge Kneipen gekickert. Einmal spielten wir sogar bei einem Turnier mit. Wir waren geniale Dilettanten und haben versucht, die Kickerprofis aufzumischen. Einige haben wir fast zum Weinen gebracht (lacht).
Wie das?
Beim Tischfußball wendeten wir die typische St. Pauli-Taktik an: Attacke, frei von der Leber weg. Wenn man am Tisch ein bisschen Stimmung machte, dann spielten die bierernsten Profis nicht mehr diesen ekligen, kontrollierten Stil. Bei dem Turnier sind wir durch unseren Trashtalk immerhin Dritter geworden.
1988 gelang Ihnen am letzten Spieltag nach einem 1:0 in Ulm der Aufstieg in die erste Liga. Wie war die anschließende Feier?
Wir realisierten den Aufstieg erst, als wir von unseren Anhängern am Flughafen jubelnd empfangen wurden. Die Fans stürmten sogar die Gepäckrückgabe. Die anschließende Heimfahrt war grandios. Hamburgs Straßen waren überfüllt von Partyvolk. Als wir auf einem Balkon standen, konnten wir auf die Straßen blicken. Wir waren ganz beseelt.
Was war das Schlimmste, was Ihnen während Ihrer Karriere widerfahren ist?
Der Abstieg in der Relegation 1991. Wir haben im dritten Relegationsspiel regelrecht verkackt gegen die Stuttgarter Kickers. Wir mussten zwangsläufig absteigen – wir waren alle außer Form.
Ihr Karriereende kam leider viel zu früh. Sie verletzten sich im Winter 1992 schwer an der Schulter, weil der Boden gefroren war. Sie brachen sich einen Halswirbel und mussten Ihre Handschuhe mit 29 Jahren an den Nagel hängen. Haben Sie daran noch zu knapsen?
Inzwischen nicht mehr. Unmittelbar danach fiel ich erneut in ein Loch. Fußball, der größte Teil meines Lebens, war auf einmal weg. Erst als ich als Amateur wieder anfing zu kicken, wurde es besser. Und beim TSV Lensahn konnte ich in der A‑Klasse endlich mal wieder auf dem Feld spielen. Ich hatte keine Lust, auf Grand zu trainieren und kam nur zu den Spielen. Ich habe sogar ein paar Tore gemacht.