In den Achtzigern revolutionierte Arrigo Sacchi mit dem AC Mailand den Fußball. Für Ausgabe 135 trafen wir den Fußball-Weisen und sprachen mit ihm über Neckermann, Silvio Berlusconi und den hohen Wert des schönen Spiels. Vor dem Mailänder Derby AC gegen Inter veröffentlichen wir das Interview erstmals auch online.
Arrigo Sacchi, Sie waren als Trainer des AC Milan Weltpokalsieger, Vizeweltmeister mit der Nationalelf und schließlich Sportdirektor von Real Madrid. Was hat Sie einst bewogen, Trainer zu werden?
Es gefiel mir immer schon, anderen etwas beizubringen. Schon als Kind hatte ich nur drei Berufswünsche: Dirigent, Regisseur oder Fußballtrainer.
Und Letzteres wurde es.
Ich hatte einen guten Lehrer, der mir erklärte, dass es der Trainer ist, der einer Mannschaft ihr Spiel gibt, so wie ein Autor, der eine Idee hat und daraus eine Geschichte schreibt. Der Gedanke, elf Menschen beizubringen, sich wie eine einzige Person zu bewegen, macht mir immer noch Gänsehaut.
Zunächst mussten Sie aber Schuhe verkaufen.
Mein Vater hatte eine Schuhfabrik. Die meisten Schuhe verkauften wir nach Deutschland, an Neckermann, Karstadt, Kaufhalle und Kaufhof. Deshalb war ich viel mit meinem Vater unterwegs.
Welcher Fußball hat Sie damals inspiriert?
Ich sah die Spiele des FC Bayern, beobachtete später auch Trainer wie Otto Rehhagel, Roy Hodgson oder Johan Cruyff. In den siebziger Jahren begeisterten mich aber vor allem Ajax Amsterdam und die holländische Nationalmannschaft.
Was genau faszinierte Sie an deren Spiel?
Mir gefielen immer schon Mannschaften, die ein Spiel dominierten, den Ball besitzen wollten und Emotionen bei den Zuschauern weckten. Man konnte im Fernsehen gar nicht erkennen, wie dieses Kollektiv funktionierte. Die Einzelspieler waren auf einmal nicht mehr so wichtig. In Italien waren die Teams defensiv eingestellt, obwohl sie oft gewannen. Aber für mich waren nicht so sehr die Erfolge wichtig als vielmehr die Art, wie diese zustande kamen.
Sie begannen als Trainer in der Kreisklasse in ihrem Heimatverein Fusignano bei Rimini. Haben Sie dort den „Totaalvoetbal“ bereits ausprobiert?
Ich hatte damals noch nicht das Selbstbewusstsein, aber ich war ein fleißiger Arbeiter. Zunächst einmal habe ich eine tägliche Trainingseinheit eingeführt. Die Jungs trainierten vorher nur einmal pro Woche.
Über die Stationen Cesena, Rimini und Parma wechselten Sie 1987 praktisch als Nobody auf die Trainerbank des AC Mailand.
Wir waren mit dem AC Parma gerade in die zweite Liga aufgestiegen und hatten den AC Mailand überraschend zweimal im Pokal mit 1:0 besiegt. Nach unserem ersten Sieg sagte Silvio Berlusconi zu mir, er werde meinen Weg aufmerksam verfolgen. Nach dem zweiten Sieg gab er mir einen Vertrag.
Wie war es, plötzlich vor dem Starensemble mit Marco van Basten, Ruud Gullit, Frank Rijkaard und Franco Baresi zu stehen und Anweisungen zu geben?
Die Spieler waren skeptisch. Vor allem Van Basten hat uns Italiener insgesamt ein wenig unterschätzt. Ich wies ihn darauf hin, dass wir bereits dreimal Weltmeister geworden seien – und seine Holländer noch nie. Dabei war es gar nicht meine Absicht, den italienischen Fußball zu verteidigen, da er mir im Grunde nicht gefiel. Aber ich verlangte Respekt. Van Basten war lange verletzt und spielte anfangs nur wenige Spiele von Beginn an, doch schließlich wurden wir gleich im ersten Jahr Meister. Da kam er zu mir und sagte: „Ich hätte nie gedacht, dass es Ihnen in wenigen Monaten gelingt, die Mannschaft so zu verändern.“
Was hatten Sie verändert?
Meine Methoden waren viel anstrengender als das, was die Spieler bis dato kannten. Zunächst suchte ich Profis, die genau zu dem technischen Projekt passten, das ich im Kopf hatte. Auf die Spieler musste in erster Linie Verlass sein. Sie sollten sich im Training genauso anstrengen wie im Spiel. Das war damals neu. Van Basten war fraglos mein begabtester Fußballer, aber nicht der Spieler, auf den ich am wenigsten verzichten konnte.
Können Sie das genauer erklären?
Für meine Auffassung von Fußball brauchten wir eine neue Kultur der Arbeit. Wir schufteten die ganze Woche, um am Sonntag in der Lage zu sein, dem Gegner so schnell wie möglich den Ball abzunehmen. Wir sollten diejenigen sein, die das Spiel beherrschten. Vor allem in Italien war so ein Gedanke völlig neu. Folglich waren die Spieler zunächst eher unzufrieden, weil sie die Belastung nicht verstanden.
Ihr Name wird mit mehreren Innovationen assoziiert: Raumdeckung, Pressing und dem 4 – 4‑2-System.
Wir entschieden von Fall zu Fall, ob es geschickter war, einen Spieler in Manndeckung zu nehmen oder den Raum zu verteidigen. Das Team war so flexibel. Wir trainierten, um die Bewegungen aller elf Spieler zu synchronisieren. Der Grundgedanke war, ein Bewusstsein für die Zusammenhänge dieses Spiels zu schaffen. Alle elf Spieler sollten immer in einer aktiven Position sein, mit oder ohne Ball. Dieser Gedanke hat den Fußball verändert.
Und deshalb waren Ballkünstler wie Van Basten und Gullit bei Milan oder auch später Roberto Baggio in der Nationalelf gar nicht so wichtig für Ihr System?
Das Talent war zweitrangig. Wichtiger waren Professionalität und Einsatzbereitschaft. Wenn die Spieler auch noch Talent hatten, umso besser. Denn Talent kann das Produkt, das man im Kopf hat, noch veredeln. Aber es kann die Idee nicht ersetzen. Robert De Niro ist ein ausgezeichneter Schauspieler. Aber er kann nicht so spielen, wie es ihm gefällt, sondern er muss dem folgen, was im Drehbuch steht. Ich war derjenige mit dem Drehbuch und erkannte im Training, ob ein Spieler eine Sekunde zu früh oder zu spät loslief, ob er zu nah oder zu weit vom Nebenmann stand, ob er den Ball nach vorne oder nach hinten spielen sollte. Wir simulierten ständig den Ernstfall und probten, was am Sonntag passierte.
Gelten Ihre Ideen im modernen Fußball bis heute?
Durchaus. Fußball ist ein Mannschaftssport. Ich setzte nicht auf elf Einzelspieler, der eigentliche Leader war das Spiel selbst. Und das ist eine Lehre für die Zukunft: Kein Scheich wird jemals das Zusammenspiel einer Mannschaft kaufen können. Er kann die besten Individualisten und erfolgreichsten Spieler versammeln, aber eine Spielidee kann nur durch Inspiration, Konzentration und Fleiß entwickelt werden. Das Spiel ist nicht käuflich.
Also werden Trainer in Zukunft immer wichtiger?
Ich denke schon. Das Spiel ist natürlich von den Akteuren und ihren Fähigkeiten abhängig. Aber es ist vor allem das Ergebnis der Genialität, der Sensibilität und der Intuition eines Trainers. Und natürlich seiner didaktischen Kompetenz.
Welchen Weg müssen Mannschaften gehen, wenn Sie in Zukunft Erfolg haben wollen?
Drei Mannschaften haben den Fußball vorangebracht: Ajax Amsterdam, der AC Mailand und heute der FC Barcelona. Alle drei sind festgelegt auf Ballbesitz und schnelle Rückeroberung des Balles. Das wird so bleiben. Es hat jeweils etwa 20 Jahre gedauert, bis eine neue Entwicklungsstufe des Ballbesitzfußballs erreicht wurde. Möglicherweise wird es bis zur nächsten Stufe wieder so lange dauern.
Wie wird diese Entwicklung weitergehen? Wie sieht der Fußball in 20 Jahren aus?
Der Fußball wird weiter perfektioniert sein, die elf Spieler werden sich immer mehr als Einheit bewegen. Und das Spiel wird noch schneller sein.
Mit Milan haben Sie innerhalb von drei Jahren eine Meisterschaft, zwei Landesmeister-Cups und den Weltpokal gewonnen. Paolo Maldini sagt, die Spieler seien am Ende extrem gestresst gewesen, die Rede war von „Taliban-Methoden“.
Ich gab alles und forderte auch alles. Nach dem dritten Jahr war ich ausgelaugt. Die italienische Fußballszene sah in mir einen Umstürzler. Ich musste gegen alles kämpfen, auch gegen weite Teile der Presse. Das war ein großer Druck. Ich habe 16 Stunden am Tag gearbeitet und nur an Fußball gedacht. Wie ein Besessener. Ich war überzeugt, dass man immer noch mehr und alles besser machen konnte.
Welche Rolle spielte Milan-Eigentümer Silvio Berlusconi damals für Sie?
Mein Glück war, dass Berlusconi meinen Methoden absolut vertraute. Das kommt im Fußball selten vor.
Versteht Berlusconi etwas von Fußball?
Wir hatten völlig unterschiedliche Vorstellungen. Er dachte, es handelte sich um ein Spektakel mit lauter Solisten. Ich hatte einen kollektiven Sport vor Augen, der seine Harmonie aus dem Zusammenspiel der Akteure bezog.
Berlusconi polarisiert Italien und Europa wieder einmal. Verstehen Sie ihn noch?
Alle Menschen verändern sich im Laufe des Lebens. Für mich war er damals sehr wichtig. Als ich bei Milan nach wenigen Monaten in Schwierigkeiten geriet, hat er mir sehr geholfen. Nach einer Niederlage im UEFA-Cup gegen Espanyol Barcelona schrieb die Presse, dass meine Entlassung kurz bevorstünde. Am folgenden Samstag kam Berlusconi zum Trainingsgelände nach Milanello und nahm sich die Spieler vor. Er sagte: „Diesen Trainer habe ich gewählt und er genießt mein absolutes Vertrauen. Wer seinen Ideen folgt, kann bleiben, alle anderen müssen gehen.“
Berlusconi stellte Ihnen 1994 als Commissario Tecnico der Nationalmannschaft sogar die Nominierung zum Sportminister in Aussicht.
Baresi, Massara und Baggio hätten dazu aber ihre Elfmeter im WM-Finale 1994 nicht verschießen dürfen. Als Berlusconi erstmals Ministerpräsident war, besuchten wir ihn mit der Nationalelf vor der Abreise in die USA. Er sagte: „Wenn Sie als Sieger zurückkommen, mache ich Sie zum Minister.“ Obwohl es so ein Ministerium damals gar nicht gab.
Hat Ihre Besessenheit irgendwann Spuren hinterlassen?
Nach Milan arbeiteten Sie noch zehn Jahre als Coach. Als ich im Jahr 2001 aufhörte, habe ich einen Psychologen aufgesucht. Ich habe ihn gefragt: Ist es normal, dass ich aufhöre? Er sagte mir: Ja, was sie vorher gemacht haben, das war nicht normal.
Warum haben Sie die Hilfe eines Psychologen gesucht?
Es war nicht so einfach, den am besten dotierten Vertrag meiner Karriere beim AC Parma zu kündigen. Aber ich spürte kein Feuer mehr in mir, also hörte ich auf.
Mit Mario Balotelli, Stephan El Shaarawy oder Marco Verratti gibt es wieder einige interessante junge italienische Spieler. Ein Erfolg Ihrer Arbeit als Jugendkoordinator oder Ergebnis der Sparpolitik, weil die Klubs gezwungen sind, auf den Nachwuchs zu setzen?
Ich hoffe, dass die Vereine bestimmte Entscheidungen eher aus kulturellen Gründen treffen, als aus einem Zwang heraus. Die Jugendförderung ist auch für den italienischen Fußball von existentieller Bedeutung, ohne Reformen geht dieser Sport ein. Deutschland hat gezeigt, wie man es macht. Im Jahr 2000 gab es dort mit dem Aufbau der Nachwuchsleistungszentren einen radikalen Wandel, dessen Ergebnisse heute in der Bundesliga und der Nationalmannschaft zu sehen sind. Leider haben wir in Italien finanziell weniger Möglichkeiten, wegen der Wirtschaftskrise wurden auch die Mittel beim Verband gekürzt.
Welchen Ideen verfolgen Sie bei Ihrer Jugendarbeit?
Ich versuche, meinen Stil einzubringen. Von den Jüngsten der U15 bis zur U21 folgen beispielsweise alle Teams ein und derselben Spielphilosophie. Hier wird nach meinen Ideen „totaler Fußball“ gespielt. Das ist jetzt eine Notwendigkeit. Denn wer heute nicht totalen Fußball spielt, ist draußen.
Gibt es Entwicklungen im Weltfußball, die Sie beunruhigen?
Ich hoffe sehr auf das Financial Fairplay. Denn ohne den Zwang zu ausgeglichenen Bilanzen wird dieser Sport kaputtgehen. Solange die Bilanzen nicht in Ordnung sind, haben auch die Organisierte Kriminalität und Wettbetrüger leichtes Spiel. Wenn Verluste in den Bilanzen als normal akzeptiert werden, beginnt man zu betrügen, zu tricksen, zu manipulieren. Außerdem brauchen wir neue Stadien, um wieder mehr Zuschauer anzuziehen. Der Calcio muss zu seinen Wurzeln zurückkehren und wieder ein Spektakel werden. Die Bundesliga ist in dieser Hinsicht ein Vorbild für uns.
Welches Bundesligateam entspricht am ehesten den Ideen von Arrigo Sacchi?
Die Mannschaft von Borussia Dortmund und meinem Freund Jürgen Klopp. Er ist ein großartiger Trainer. Einer meiner Vorgänger auf der Bank des AC Mailand, Nils Liedholm, sagte einst über mich: Ich weiß, dass Sacchi gut ist, denn er hat mein Training beobachtet. Über Klopp kann ich heute sagen: Ich weiß, dass er ein ausgezeichneter Trainer ist. Er hat sich schließlich meine Trainingseinheiten angesehen.