Gennaro Palummella hat als Capo der legendären Curva B sein halbes Leben im San Paolo, der Heimstätte vom SSC Neapel, dem heutigen Gegner von Borussia Dortmund, verbracht. Ein Gepräch sprachen über Massenchöre und die Gottheit Maradona.
Palummella, du bist fast genauso alt wie das Stadion San Paolo. Eine besondere Verbindung?
Gennaro Palummella: Napoli hat hier alles gewonnen, die Meisterschaften 1987 und 1989, den UEFA-Cup 1989. Ich war nicht mal ein Jahr alt, als 1959 das San Paolo eingeweiht wurde. Als meine Mutter sich auf meine Geburt vorbereitete, erblickte auch das San Paolo die Welt.
Was ist deine erste Erinnerung an das Stadion?
Gennaro Palummella: Ein Spiel gegen Roter Stern Belgrad. Ich war ein Kind. Juan Carlos Tacchi, ein Argentinier, schoss eine Ecke direkt ins Tor. Der Schiedsrichter pfiff die Aktion ab und ich war persönlich beleidigt. Ich habe mein ganzes Leben im San Paolo verbracht. Heute sitze ich zwar auf der Tribüne, doch ich war einen großen Teil meines Lebens in der Curva B. Sie besetzt noch immer ein großes Stück meines Herzens, das ich nie vergessen werde.
Wie würdest du das San Paolo nennen, Wohnzimmer, Küche, Schlafzimmer?
Gennaro Palummella: Mein Campingzelt. Weil es so kalt war. Das Stadion hatte ja lange Zeit überhaupt kein Dach, alles war offen. Du standest da und bekamst von oben Wasser, von den Seiten Kälte und Wind.
Die schönste Begegnung im Stadion?
Gennaro Palummella: Das war 2005 beim Abschiedsspiel von Ciro Ferrara, ich stand in den Katakomben. Maradona wollte gerade auf das Spielfeld gehen, 70 000 waren für seine Rückkehr nach Neapel gekommen. Il Pibe d’oro sah mich beim Rausgehen und rief aufgeregt, als seien die alten Zeiten zurückgekehrt: „Palummella!“ Uns beiden haben die Augen geleuchtet. Diego gehört zu meiner Familie, er ist der Taufpate meiner Tochter. Meinen Sohn habe ich Diego Armando genannt.
Der schönste Platz im Stadion?
Gennaro Palummella: Das Geländer in der Curva B, von dem ich jeden zweiten Sonntag riskiert habe, dreißig Meter nach unten in den ersten Rang zu fallen. Nur weil mich die anderen festgehalten haben, bin ich nicht geflogen. Wenn ich einmal runtergefallen wäre, dann wäre ich jetzt nicht hier. Aber es war manchmal sehr knapp. Die Leute können sich das gar nicht vorstellen, wie das da oben war.
Was ist das Besondere an der Curva B?
Gennaro Palummella: Sie war magisch. Ein Superlativ. Die schönste Kurve der Welt. Wegen der Leidenschaft der Fans und ihrer Begeisterung. Wir Neapolitaner sind sehr heißblütig. Ein bisschen wie die Südamerikaner. 20 000 sind meinen Chören gefolgt, dann sangen alle 80 000. Meine Botschaften sind bei den sechs Millionen Neapolitanern in aller Welt angekommen.
Die schönste Choreografie?
Gennaro Palummella: Die 20.000 Bananen, die wir im Spiel gegen Verona gezeigt haben. Sie sangen, Vesuv erhebe dich und bring sie alle um. Ich antwortete: Julia ist eine Hure und Romeo ein Gehörnter. Dann haben wir 20.000 Bananen gezeigt, die sie lutschen sollten. Die größte Beleidigung, aber mit Witz und Kultur.
Heute steht der harte Kern in der Curva A. Warum sind die Fans im Stadion mittlerweile getrennt?
Gennaro Palummella: Napoli ist eine großartige Stadt, hat aber einen Defekt. Wenn wir etwas zusammen anpacken wollen, schaffen wir’s nicht. Alleine schaffen wir’s bis zum Mond, zusammen nicht. Deshalb gibt es zwei rivalisierende Kurven. Beide denken, sie können es besser. Meine Zeit als Capo Ultra ist davon natürlich ausgenommen.
Es wurde lange über einen Umbau debattiert, sogar über einen Neubau. Was meinst du?
Gennaro Palummella: Das San Paolo ist eine große Bühne, aber baufällig. Das Geld beim Umbau 1989 floss in den Norden oder in die eigenen Taschen der Politiker und Unternehmer. Wie immer. Unser Präsident Aurelio De Laurentiis will ein neues Stadion mit nur 40 000 Plätzen bauen. Ich kann mich mit der Idee nicht recht anfreunden. Wenn ja, dann müssten zumindest die Tribünen folgenden Personen gewidmet werden: die Geraden dem Apostel Paulus und San Gennaro, dem Stadtheiligen Neapels. Die Kurven der Spielerlegende aus den Dreißigern, Attila Sallustro, und natürlich Maradona.
Apropos: Wie war es wirklich damals, beim Weltmeisterschafts-Halbfinale 1990 zwischen Italien und Maradonas Argentinien im San Paolo?
Gennaro Palummella: Es ist eine große Lüge, dass wir Italien ausgepfiffen hätten. Das wird nur erzählt, um Neapel in den Dreck zu ziehen. Im Stadion waren kaum Neapolitaner, sondern Fans aus aller Welt. Die Tickets waren ja schon verkauft, bevor man überhaupt wusste, wer gegen wen spielt. Gennaro Palummella hat nicht zu Argentinien gehalten. Ich war für Italien, ich liebe meine Heimat. Gegen Maradona zu verlieren, war allerdings das kleinere Übel.