Dieter Hochmuth, Sie haben 1977 ein Praktikum beim bekanntesten Sportmasseur der Fußballgeschichte absolviert – Mario Américo. Wie sind Sie denn daran gekommen?
Lange Geschichte: Ich habe zu der Zeit einen gewissen Herrn Grammer aus Amberg massiert. Der wiederum war Besitzer einer Fabrik, die Schwebesitze für Traktoren herstellte, unter anderem mit einer Zweigstelle in Brasilien. Während einer Behandlung erzählte er mir von einer Dienstreise nach Sao Paulo, was mich wiederum dazu brachte, ihm von meinem großen Vorbild zu berichten: Mario Américo, dem legendären Masseur der brasilianischen Nationalmannschaft.
Wie ging es weiter?
Sechs Wochen später lag Herr Grammer wieder auf meinem Tisch. „Übrigens, Herr Hochmuth, mein Kollege in Sao Paulo kennt ihren Mario Américo. Der sitzt inzwischen als Abgeordneter im Staatsparlament.“ Wenn ich denn Lust hätte, würde er mir den Kontakt herstellen. Das wollte ich natürlich unbedingt.
Also gleich rein in den Flieger und ab nach Brasilien?
Moment, so eine Weltreise war damals richtig teuer. Ich habe noch ein Jahr lang im Krankenhaus gearbeitet und mir das nötige Geld zusammengespart. Dann konnte die Tour beginnen.
Zwischen 1977 und 1980 haben Sie dann vier einmonatige Praktika absolviert.
Ganz genau. Einmal im Jahr bin ich rüber, habe bei Mario in der Praxis hospitiert, beim heimischen FC Portuguesa gearbeitet und Mario dabei geholfen die brasilianische Box-Nationalmannschaft auf die Panamerikanischen Kämpfe in Puerto Rico vorzubereiten.
Wie kommt man eigentlich dazu, einen brasilianischen Physiotherapeuten als sein Vorbild auszuwählen?
Ich habe meinen Beruf damals schon geliebt und Mitte der siebziger Jahre gab es nur zwei bekannte Fußball-Betreuer, die über die Grenzen ihres Schaffens bekannt waren. In Deutschland Erich Deuser und international eben Mario Américo, dem man nachsagte, er habe heilende Hände.
Die Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland war Américos letztes Turnier für die brasilianische Fußball-Nationalmannschaft. Seine mächtige Gestalt, die riesige Gürteltasche und seine Art verletzte Spieler vom Platz zu schaffen, dürfte damals nicht nur Sie beeindruckt haben…
Mario war der erste Star-Betreuer der Fußball-Geschichte. Der lief auf den Rasen, holte seine geheimnisvollen Tinkturen aus der Tasche und wenn es gar nicht anders ging, warf er Pelé, Jairzinho, oder wie sie alle hießen, über die breiten Schultern und schleppte sie vom Feld! Gleich nach der WM kaufte ich mir eine Turnier-Chronik, darin ein großes Foto von ihm und seiner ominösen Tasche. Die ich dann übrigens nach meinem Praktikum auch in Deutschland eingeführt habe.
Um den Inhalt von Américos Tasche wurde jahrzehntelang gerätselt. Was war denn nun tatsächlich drin? Wunderdrogen? Spritzen? Geheimnisvolle Pillen?
Von wegen. Ganz vorne lagen Schwamm und Eis in Styropor, die restlichen Taschen waren gefüllt mit selbst hergestellten Salben und Tinkturen. Alles rein pflanzlich.
Woher wollen Sie das wissen?
Weil er mir in meinem letzten Praktikumsmonat ein paar Rezepte mit auf den Heimweg gab, die ich dann in Deutschland von befreundeten Apothekern anmischen ließ.
Und plötzlich waren Sie der deutsche Wunderheiler?
Nein, nein. Die Salben und Cremes verkauften sich in meinem näheren Umfeld zwar sehr gut, aber um für die Sachen deutschlandweit zu werben fehlte mir schlichtweg das Geld.
Gibt es denn noch Salben auf Américo-Basis zu kaufen?
Ein Ableger ist in meinem Online-Shop noch zu haben: „Amazonas Balm“. Je nach Wunsch leicht kühlend, oder leicht wärmend.
Trotzdem hat man Mario Américo Zeit seiner Karriere vorgeworfen, er würde verbotene Substanzen und geheimnisvolle Kräfte benutzen, um seine Spieler zu heilen…
Ach was. Die Salbenträger waren Bienenhonig, Wachs und Fett, angemischt mit heimischen Kräutern. Das war kein Hokuspokus. Entscheidend bei der sportphysiologischen Behandlung ist ohnehin etwas ganz anderes.
Nämlich?
Der psychologische Aspekt. Du musst in der Lage sein deinem Patienten das Gefühl zu vermitteln, dass das, was du tust, das absolut Richtige für ihn ist. Und in dieser Disziplin war Mario Américo ein wahrer Meister.
Sie sollen bei Ihm auch die Fähigkeit gelernt haben mit Verletzungen „zu sprechen“. Wie ist das möglich?
Das ist im Grund genommen nichts anderes, als das, was ich ihnen eben erzählt habe: Der Spieler muss bei der Behandlung spüren, dass dir als Physiotherapeut nichts auf dieser Welt wichtiger ist, als jetzt, in diesem Moment, seine Verletzung zu behandeln. Du musst dich voll und ganz auf sein Leiden einstellen, dich mit der Verletzung regelrecht identifizieren. Nur das kann eine Heilung beschleunigen. Das wird ihnen heute jeder Psychologe bestätigen.
Américo ist mit Brasilien dreimal Weltmeister geworden und hatte alle Weltstars seiner Zeit auf der Massagebank gehabt. Hat er Ihnen während des Praktikums nicht auch ein paar Anekdoten verraten?
Er erzählte mir einmal eine Geschichte, die er mit dem legendären Garrincha erlebt hatte. Der bekam einst ein tragbares Radio geschenkt, schaltete das Ding an und freute sich über das portugiesische Stimmenwirrwarr. Tage später flog die brasilianische Nationalmannschaft zu einem Freundschaftsspiel nach Japan, mit an Bord: Garrincha und sein Radio. In Japan angekommen schaltete er das Gerät erneut an und schaute völlig entsetzt, als plötzlich eine ihm völlig fremde Sprache aus den Lautsprechern kam. Er hat das Radio schließlich verschenkt. Er dachte, es sei kaputt.
Garrincha war bei der WM 1962 der Mann des Turniers. Während dieses Turniers verletzt sich Pelé so schwer, dass er nicht mehr weiterspielen konnte. Trotz der Behandlung von Américo. Hat ihn das noch belastet, als Sie Ihn 1977 kennen lernten?
Nein, überhaupt nicht.
Wieso?
Mario wusste, was auch alle anderen wussten: Wenn er einen Spieler nicht fit bekam, dann schaffte es auch kein anderer. Er war der Beste seines Fachs.
Mit seinem Wissen ausgestattet wurden Sie 1980 medizinischer Betreuer vom 1. FC Nürnberg…
Das Angebot konnte ich nicht abschlagen. Ich arbeitete beim Club und bekam ein tolles Gehalt – 6000 DM. Die Medien nannten mich den „bestbezahltesten Masseur Deutschlands“.
Hat das die Kollegen nicht neidisch gemacht?
Im Gegenteil. Hermann Rieger, ein alter Kumpel von mir, klingelte durch um zu gratulieren: „Wie hast du das nur gemacht?“ Die Gehälter wurden damals auch nur deshalb öffentlich, weil ein entlassener Manager die Zahlen Preis gab. Der Zapf Gebhardt, Gott hab ihn selig, verdiente 11000 DM, nicht mal doppelt so viel wie ich. Klar, dass ihn die Spieler damit aufgezogen haben. Das fand er nicht so lustig. 1982 habe ich meine Arbeit in Nürnberg beendet, allerdings nicht wegen der Gehälter-Geschichte. Ich brauchte schlichtweg mehr Zeit, um meine eigene Praxis aufzubauen.