Rocker, Klopper, Langer: Lothar Woelk hat viele Spitznamen. Mit ihm wurden die Bochumer zu den „Unabsteigbaren“. Hier spricht er übers Trampen nach Holland, Deep Purple und Ellenbogenchecks
Lothar Woelk, konnte man bei Ihnen früher weiße Wäsche draußen aufhängen?
Ja, sicher. Wieso?
Es soll immer noch Leute geben, die das Gegenteil behaupten, wenn sie über die sechziger Jahre im Ruhrgebiet reden.Diese Geschichten hört man immer wieder. Ganz ehrlich: Ich hätte mir keinen besseren Ort vorstellen können, um meine Kindheit zu verbringen. Meine Eltern stammten aus Westpreußen, sie kamen aus einem Flüchtlingslager. Die Wohnung in der Leusbergstraße in Recklinghausen wurde ihnen zugeteilt – und so war es bei vielen Familien in unserer Straße.
Eine typische Zechensiedlung also?
Nicht direkt, aber es herrschte eine unglaubliche Gemeinschaft, alle hatten ihre Schrebergärten, waren im Taubenzüchterverein oder gingen gemeinsam zur Trabrennbahn. Wir Kinder hatten unheimlich viele Möglichkeiten, uns auszutoben. An einem Tag klauten wir Möhren und Äpfel in den Schrebergärten, am anderen ging es zum Kanal. Da sind wir auf die Schiffe gesprungen, bis nach Wanne-Eickel gefahren und abends mit einem anderen Pott wieder zurück.
Gab es bei Ihnen auch die Duelle der Straßenmannschaften?
Sicher, zur damaligen Zeit hatte jede Familie drei bis vier Kinder. Wir konnten mit all den Jungs aus unserer Straße zwei Mannschaften machen. Da hieß es: 16 Uhr, Leusbergstraße gegen Neustraße, und alle waren dabei. Wir spielten auf Aschetonnen, Jacken oder Stahlrohre. Da wurde schon viel geschummelt, ob der Ball nun drin war oder nicht. Aber selbst in meiner Vereinsmannschaft, beim FC Leusberg, gab es zu dieser Zeit keine Netze in den Toren.
Sie haben bis zu ihrem 23. Lebensjahr für Leusberg und Eintracht Recklinghausen gespielt. Warum sind Sie erst so spät zu einem Profiverein gegangen?
Ich hatte eigentlich nie das klare Ziel, Profi zu werden. Und im Nachhinein bin ich froh darüber, in der Jugend nicht bei Schalke oder Westfalia Herne gespielt zu haben. Dort hätte es ständig Lehrgänge und Training gegeben. In Recklinghausen hingegen konnte ich meine Ausbildung bei Blaupunkt machen und am Wochenende das Leben genießen.
Was heißt das?
Freitag nach Feierabend sind wir zu dritt losgetrampt nach Amsterdam, haben uns da schöne Tage gemacht, und am Sonntag ging es zurück zum Spiel. Da mussten mich die Trainer manchmal an irgendwelchen Bahnhöfen abholen, weil ich es nicht rechtzeitig zurückgeschafft hatte. Das Beste an dieser Zeit war: Ich kam meinen Lieblingsgruppen nahe. Einer erzählte: „In Haarlem spielt Deep Purple – da müssen wir hin“. Zack, saßen wir im Auto.
Sie waren also ein Hardrocker.
Genau, das war meine Welt. Ich habe nie deutschen Schlager gehört. Auch die Frage „Beatles oder Stones?“ stellte sich mir nicht. Aber richtig geil fand ich Golden Earring, Led Zeppelin, Ten Years After und solche Klamotten. Oder kennen Sie die Band Hokuspokus?
Nie gehört.
Eine alte Band, die wir in Amsterdam gesehen hatten. Denen sind wir bis in den Schwarzwald hinterhergefahren. In Holland haben wir so ziemlich die ganze Küste abklabastert, Berlin, Hamburg – wir waren überall. Wenn wir flüssig waren, haben wir auf einem Zeltplatz übernachtet, wenn wir keine Kohle hatten, ging es auch so schon irgendwie. Trampen, das war schon eine echte Leidenschaft von mir, für die ich auch mal das eine oder andere Training laufen ließ.
Welche Reise ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
Da gab es so viele Sachen, einige Geschichten sollte man auch unter Verschluss halten. Aber ich erinnere mich noch, wie wir in Hamburg zufällig dabei waren, als der Flugzeugträger „John F. Kennedy“ ankam. Ich kannte nur die Pötte vom Rhein-Herne-Kanal und dachte, da landen welche von einem anderen Stern. Oder als wir in Berlin ankamen und uns direkt ein paar Leute mit zu einer Party nahmen. Plötzlich standen wir in dunklen Räumen, da hingen die abgefahrensten Kronleuchter, überall Antiquitäten, Stuck an den Wänden – und in solchen Gemäuern wurden die irrsten Partys geschmissen.
Sie haben mit Sicherheit nicht so abstinent gelebt wie viele andere spätere Profis.
Nun ja, es passte alles zu dieser Zeit. Ich habe bei meiner Mutter gewohnt, die mir viele Freiheiten gegeben hat. Kommune 1, Uschi Obermaier – das war zwar etwas vor unserer Zeit, aber die haben uns etwas vorgelebt, was wir nachgemacht haben. Auch die Holländer waren zur damaligen Zeit noch viel lockerer als heute. Man musste fast nirgendwo bezahlen.
Sind Sie auch während ihrer Profizeit nach Holland getrampt?
Nein, und wenn dann nur zum Einkaufen. In meinem ersten Trainingslager beim VfL kamen die anderen Jungs an und fragten mich über meine Trips nach Holland aus. Irgendeiner meinte: „Kannst du nicht auch was besorgen? Du hast doch Kontakte.“ Da habe ich nur gesagt: „Seid ihr bescheuert? Das ist mein erstes Trainingslager.“
Heinz Höher hat Sie zum VfL geholt. Stimmt es, dass er Sie in der Betriebsmannschaft von Opel entdeckt hat?
Nein, das wird immer erzählt, weil es wohl ganz gut reinpasst. Er war zwar bei diesem Spiel der Betriebsmannschaft vor Ort, kannte mich aber schon von den Auswahlmannschaften. Das Interessante ist, dass er mich damals als Stürmer verpflichtete. Erst später bin ich dann immer weiter nach hinten gerückt.
Und motiviert hat er Sie mit einer Botschaft am Spind.
Ja, er hat dort die Tage aufgelistet, wie lange mein Vertrag noch läuft und dann jeden Morgen einen weggestrichen. Heini Höher machte immer gern solche Spielchen. Zu einem Spiel gegen den 1. FC Nürnberg blieb er einfach der Mannschaftssitzung fern. Sein Co-Trainer kam rein und meinte, wir sollten die Seiten auf dem Flip-Chart umblättern. Dort stand: „Nürnberg kommt, wird aufgefressen, hap hap. Aufstellung wie immer.“ Da haben wir uns kaputt gelacht. Und danach Nürnberg mit 5:1 nach Hause geschickt.
Wie war Ihr Verhältnis zum späteren Trainer Rolf Schafstall?
Ich war sein spezieller Spezi. Aber ich muss sagen, dass ich von jedem Trainer viel gelernt habe.
Schafstall soll Sie einmal im Trainingslager zu einer Strafe verdonnert haben, weil Sie Whiskey getrunken haben.
Die anderen haben immer Bier getrunken, doch mir hat das damals nicht geschmeckt. Also habe ich mir im Trainingslager abends ein Glas Whiskey mit Cola als Schlaftrunk gemixt. Ich sagte zu meinem Zimmerkollegen Heinz Knüwe: „Gib mir mal den Whiskey rüber.“ Wir hatten das Fenster offen und draußen patrouillierte gerade Schafstall mit seinem Co-Trainer. Es klopfte an der Tür und wir fragten: „Parole?“ Da hörten wir nur: „Ich geb euch gleich Parole.“ Später haben auch die anderen Whiskey-Cola getrunken. Wenn wir in unser Stammlokal kamen, bestellten wir fünf Cola. Die Kellner wussten Bescheid und haben gleich die Drinks gemixt.
Lameck, Gerland, Zumdick – Sie spielten alle ziemlich lange für den VfL. War die Gemeinschaft der Schlüssel dafür, dass Sie zu den „Unabsteigbaren“ wurden?
Das war eine Topkameradschaft, fast wie in einer Familie. Der Präsident Ottokar Wüst hat genau darauf geachtet, dass die Spieler zusammenpassen – auf und neben dem Platz. Wenn ich mir eure Ausgabe anschaue, mit Kevin-Prince Boateng auf dem Titel, muss ich sagen: So ein Typ hätte noch so gut kicken können, den hätte Wüst nie zum VfL geholt. Einsatz, Kampf, Kameradschaft – das war das eine. Aber wir haben auch guten Fußball gespielt. Auf Schalke haben wir 6:0 gewonnen, den HSV mal 4:0 weggehauen, die Bayern 3:1 und, und, und. Gerade im Ruhrstadion konnten wir jeden schlagen.
Nervt Sie persönlich Ihr Image als Klopper?
Das hat man mir angehängt, dabei bin ich nur zweimal vom Platz geflogen. Beim ersten Mal hat mich der Schiedsrichter mit Martin Kree verwechselt, die zweite Rote Karte sah ich in meinem letzten Bundesligaspiel. 70 Prozent meiner Gelben Karten habe ich nur wegen Meckerns bekommen. In all den Jahren, in denen ich in der Verteidigung gespielt habe, kam ich mit allen klar, Magath, Rummenigge und wie sie alle heißen. Nur mit einem hatte ich ein Problem.
Und zwar?
Wolfram Wuttke. Er spielte beim FCK und bei einem Spiel auf dem Betzenberg hat er mich angerotzt. So etwas geht gar nicht. Ich bin hinter ihm her. Ich sagte: „Wuttke, merk dir: Jetzt bist du auf dem Betzenberg. Aber im Rückspiel, da kommst du ins Ruhrstadion, in mein Wohnzimmer. Da fress ich dich auf.“ Bei diesem Spiel war er dann 90 Minuten auf der Flucht.
Dieter Schatzschneider hat Sie einmal als seinen härtesten Gegenspieler bezeichnet. Weil er Ihnen einen Ellenbogenschlag verpasst hat und Sie einfach stehengeblieben sind.
Mit Schatzschneider kam ich immer super aus, er war ein flinker Stürmer. Und ansonsten ein smarter Kerl, der hätte auch Schauspieler werden können. Vielleicht war die Aussage nur eine Retourkutsche auf einen Spruch von mir. Ich habe ihn 2002 beim Pokalfinale gesehen und meinte: „Ich kannte mal einen, der hieß Dieter Schatzschneider. Aber das kannst du nicht sein.“ Er sagte: „Woelki, du Hammerwerfer, ich kann doch auch nichts dafür, dass die Bierchen so lecker schmecken.“
Sind alle mit Ihren Sprüchen so gut klargekommen?
Nein, Bernd Klotz hat mich mit den Ellenbogen bearbeitet, da meinte ich: „Bist du wahnsinnig oder hältst du dich für Alberto Tomba?“ Oder Dieter Hoeneß, der ist mal richtig ausgerastet. Mir hat ein Mitspieler erzählt, dass sie ihn in München nur „Flipper“ gerufen haben, weil er keinen Ball stoppen konnte. Lange bevor Jürgen Klinsmann so genannt wurde. Das habe ich mir gemerkt. In einem Spiel regte er sich fürchterlich auf, da meinte ich: „Ich habe Insiderwissen. Die nennen dich nur ›Flipper‹.“ Hoeneß ist an die Decke gegangen.
Auch mit den Schiedsrichtern standen Sie auf Kriegsfuß.
Das kann man so nicht sagen. Mit Wolf-Dieter Ahlenfelder zum Beispiel habe ich mich super verstanden. Ein super Schiri mit Fachwissen und Fingerspitzengefühl. Fragen Sie mal Paul Breitner. Der hat sich mal auf dem Platz fürchterlich über Ahlenfelder aufgeregt, da sagte der nur: „Sei froh, dass ich nicht so schlecht pfeife, wie du spielst.“ Paul war perplex und hat mich mit offenem Mund angeschaut. Ich sagte nur: „Ich halt mich da raus.“ Auch mir hat Ahlenfelder schließlich Sprüche gedrückt. Als ich verletzt war, rief er: „Langer, stell dich nicht so an.“ Er hat damit Feuer aus dem Spiel genommen.
Auf Wilfried Heitmann, den Schiedsrichter des verlorenen Pokalendspiels von 1988, sind Sie weniger gut zu sprechen.
An diesem Spiel habe ich noch immer zu knabbern. Uns wurde ein reguläres Tor aberkannt und mindestens ein Elfmeter verwehrt. Der Schiedsrichter hat sich noch auf unserem Bankett bei mir als Kapitän des VfL entschuldigt. Ich sagte nur: „Wir können jetzt hier ein Bier trinken, aber das, was Sie dem VfL heute angetan haben, werden Sie im Leben nicht wieder gut machen können.“
So blieb Ihnen und dem VfL der einzige Titel verwehrt.
Frankfurt, unser Gegner, hatte doch eigentlich die Hosen voll. Wir waren deren Alptraum, hatten sie vorher dreimal weggefiedelt. Charly Körbel hat mir später mal erzählt, wie viel Angst die vor uns hatten. Diese Truppe hätten wir einreißen müssen, aber es hat an diesem Tag nicht gereicht. Ich war wirklich geladen. Auch weil Martin Kree erst nicht spielen wollte – wegen einer Zehenprellung. Wir hatten die Chance, für den VfL Geschichte zu schreiben. Andere hätten sich ein Bein abgehackt, um in Berlin spielen zu können.
Ihnen blieb wenigstens der Titel, nie mit dem VfL abgestiegen zu sein. Ist das ein Trost?
Jedes Jahr wurden wir als Absteiger gehandelt, obwohl wir gar nicht so schlecht waren. Doch absteigen, so etwas war ein Ding der Unmöglichkeit, das hat jeder neue Spieler eingeimpft bekommen. Und das Ruhrstadion war unsere Festung, die Schalker haben sich immer die Hosen voll gemacht, wenn die zu uns mussten.
1989 gingen Sie zum MSV Duisburg, 1993 stieg Bochum zum ersten Mal ab. Insgesamt spielten Sie zwölf Jahre für den VfL. Hatten Sie nie den Gedanken, den Verein zu wechseln?
Es gab einige Angebote, beispielsweise von Fortuna Düsseldorf, kurz nachdem sie im Europapokalfinale gestanden hatten. Doch zur damaligen Zeit hatten Verträge noch eine ganz andere Bedeutung und Ottokar Wüst wollte mich partout nicht gehen lassen. Also rief er eine Ablösesumme von einer halben Million auf, was damals astronomisch war. Später wollte mich dann Rudi Assauer zu Schalke holen. Eine Woche lang saß er jeden Morgen bei mir zu Hause zum Frühstück und wollte mich bequatschen. Er sagte: „Langer, du bist der Einzige, der beides kann: zur Sache gehen und richtig Fußball spielen. Ich brauch dich auf Schalke.“ Dann verabschiedete er sich und sagte: „Ich komm morgen noch mal wieder. Ich bring Brötchen mit, du machst Kaffee.“
Haben Sie es bereut, dass Sie nicht gewechselt sind?
Nein, wir hatten eine super Zeit. Ich sagte es bereits: Der VfL war wie eine Familie. Ich liebe den Klub. Deswegen war ich schon etwas enttäuscht, in der Jahrhundertelf nicht berücksichtigt worden zu sein. Auch ein Jochen Abel hätte es verdient gehabt. Ich habe halt selten in der Öffentlichkeit auf den Putz gehauen, weil ich immer meine Ruhe wollte. Und intern habe ich immer meine Meinung gesagt, ehrlich und frei raus. Das hat vielleicht einigen nicht gepasst, aber ich kann unbeschwert in den Spiegel blicken.
Gehen Sie heute noch zum VfL?
Ja, aber auch zu meinen alten Mannschaften wie Eintracht Recklinghausen und dem FC Leusberg. Letztens habe ich einen Fußballplatz hier in der Gegend gesehen, auf dem Tore ohne Netze standen. Da habe ich mich an die Zeit von damals erinnert.
Und wie steht es mit dem Trampen?
Das brauche ich heute nicht mehr. Aber wenn ich etwas melancholisch werde, lege ich noch einmal die alten Scheiben auf – Led Zeppelin, Ten Years After und so. Ich bin nicht so der Fan von Computern und CDs, ich habe noch einen alten Plattenspieler zu Hause. Und so wie ich mich mit den alten VfL-Jungs zum Kicken treffe oder sie im Stadion sehe, so verabrede ich mich auch mit meinen alten Kollegen von Blaupunkt. Und dann quatschen wir, über die Touren nach Holland, Berlin und in die weite Welt.