Carlos Alberto Torres war bei Brasiliens WM-Gewinn 1970 Kapitän der Selecao und gilt als einer der besten Verteidiger aller Zeiten. Mit ihm sprachen wir über das perfekte Spiel, Barbecue während der EM und Philipp Lahm.
In der Amsterdam Arena, der Heimat von Ajax Amsterdam, wurde am vergangenen Freitag das Brazilian Football Café eingeweiht, die erste VIP-Loge, die speziell einer Fußballnation gewidmet ist. Carlos Alberto Torres (67), Kapitän der legendären brasilianischen Nationalmannschaft der WM 1970, nahm als Repräsentant einer brasilianischen Delegation an dieser Feier teil und stellte sich danach unseren Fragen.
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Carlos Alberto Torres, Sie führten die brasilianische Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft 1970 als Kapitän mit Traumfußball zum Titel. Ihr Finaltreffer zum 4:1 gegen Italien wurde Jahre später sogar zum „perfekten Tor“ gewählt. Wie wichtig ist Ihnen dieser inoffizielle Titel überhaupt?
Natürlich ehrt mich diese Auszeichnung. Ob der Treffer allerdings perfekt ist, weiß ich nicht. Was ist schon Perfektion? Ein guter Pass? Eine gute Idee? Ein feines Dribbling? Darüber kann man lange diskutieren. Vor allem freut es mich, dass man sich nach über 40 Jahren noch gerne an diesen Treffer erinnert. Und wenn unsere Fans und unsere Kritiker dieses Tor gemeinsam für eines der schönsten in der Fußballgeschichte halten, bin ich einfach geschmeichelt.
Bei der WM 1970 galt die Selecao als Gralshüter des schönen Fußballs. Welche Mannschaft sehen Sie heute als ihre Nachfolger?
Der Fußball hat sich gewandelt. Früher konnte man ein Spiel als Zuschauer anders genießen, es floss dahin wie ein langsamer Fluss. Heute hingegen ist jedes Spiel wie ein reißender Strom. Sehr hektisch, sehr kraftvoll, geradezu mitreißend. Und in diesem Kosmos gibt der FC Barcelona das Tempo vor. Diese Mannschaft hat in den letzten Jahren überirdisch schön gespielt. Aber auch ihre Spielweise hat sich im Laufe der Zeit mehr und mehr verschlissen. Chelsea hat ihnen gezeigt, dass auch sie sich endlich weiterentwickeln müssen. Wer hätte das gedacht? Ich bin mir aber sicher, dass diese Mannschaft passend reagieren wird und über Jahre weiter als Vorbild dient. Aber jetzt habe ich auch einmal eine Frage an Sie?
Nur zu.
Was ist nur mit den Deutschen los?
Was meinen Sie?
Zu meiner Zeit war Deutschland vor allem für seine Kampfkraft und Disziplin bekannt. Schön spielte damals nur Franz Beckenbauer. Er hätte sogar problemlos in die Selecao gepasst. Die restlichen deutschen Spieler waren Maschinen. Und heute? Ich traue es mich ja kaum zu sagen, aber: Deutschland spielt richtig schön.
Was bringt Sie so zum Schwärmen?
Die vielen jungen und talentierten Spieler haben frischen Wind in die Mannschaft gebracht und den deutschen Fußball stark verbessert. In Brasilien fragen wir uns manchmal: Wo kommen diese Jungs plötzlich alle her? Özil, Götze, Kroos, Khedira – vor Monaten kannte sie kein Mensch und heute rauben sie einem beim Zuschauen fast den Atem.
Haben Sie die neue, deutsche Fußballkunst schon live bewundern dürfen?
In diesem Jahr habe ich leider noch keines der deutschen Spiele im Stadion gesehen, aber die Fernsehübertragungen ihrer Spiele sind für mich Pflichttermine.
Welcher Spieler der derzeitigen Mannschaft imponiert Ihnen am meisten?
Ganz klar: Thomas Müller. Bei der WM 2010 in Südafrika kam er aus dem Nichts und hat gezeigt, dass aus ihm ein ganz großer Spieler werden kann. Ich bin gespannt, wie er die bittere Niederlage im Champions-League-Finale verkraftet hat. Diese Spiele können dich zu einem großen Spieler machen. Ich traue ihm das zu. Und dann ist da natürlich Philipp Lahm.
Sie gehören zu den besten Außenverteidigern aller Zeiten. Kann Philipp Lahm auch in diesen exklusiven Klub aufsteigen?
Philipp Lahm hat überragende Qualitäten. Er ist zwar körperlich unscheinbar, aber trotzdem souverän. Für mich ist er ein echter Leader. Er wäre in jeder Mannschaft der Welt gesetzt. Deswegen würde ich ihm raten, endlich auch Erfahrungen im Ausland zu suchen. Das fehlt ihm. Für mich kommen die besten Außenverteidiger seit Jahren aus Brasilien. Denken Sie an Cafu oder Roberto Carlos! Sie hatten das Besondere, den Mut und die Explosivität, die man auf dieser Position braucht. Manchmal ist mir Philipp Lahm einfach zu zurückhaltend.
Er macht kaum Fehler. Vielleicht ist er eine Maschine?
Oh nein, Philipp Lahm ist keine Maschine. Weber, Schulz, Höttges – das waren Maschinen. Philipp Lahm ist ein Künstler, er müsste nur wagen, uns mehr von seiner Kunst zu zeigen.
Wer ist dann derzeit die Nummer eins auf der defensiven Außenbahn?
Momentan liefern sich Maicon und Dani Alves ein Kopf-an-Kopf-Rennen um die Pole Position. Maicon überzeugt in der Seleção und scheint bei Trainer Mano Menezes gesetzt, da Dani Alves leider seine guten Auftritte im Trikot des FC Barcelona nur selten bei der Nationalmannschaft zeigt.
Dani Alves spielt bei Barca zusammen mit Lionel Messi, der in der abgelaufenen Saison 50 Tore schoss. Der Portugiese Cristiano Ronaldo traf 46 Mal. Sie als Abwehrlegende müssen es doch wissen: Wie stoppt man diese offensiven Ausnahmekönner?
Glauben Sie mir, als ich damals im Training gegen Pelé verteidigen musste, habe ich mir jedes Mal die gleiche Frage gestellt. Was kann ich tun, damit ich gegen ihn nicht aussehe wie ein Depp? Angreifer haben eben immer den Vorteil, dass sie der Defensive einen Gedanken voraus sind. Sie wissen einfach, was sie als nächstes vorhaben. Deswegen ist man als Verteidiger automatisch zum Reagieren verdammt. Und selbst wenn man sich in Sicherheit wähnt, haben Weltklassespieler immer noch etwas Besonderes im Repertoire, mit dem niemand gerechnet hat.
Kurz gesagt: Sie sind der Alptraum jedes Abwehrspielers.
Auf gewisse Weise schon. Aber sie sind eben auch der größtmögliche Reiz eines jeden Verteidiger. Weil sie dich über 90 Minuten herausfordern und jeden kleinen Fehler ausnutzen, musst du immer total fokussiert sein. Das habe ich immer geliebt.
Ein todsicheres Erfolgsrezept gegen Messi, Ronaldo und Co. haben Sie dennoch nicht.
Nein, denn es gibt einfach keins. Man kann sie nur auf eine Art und Weise im Zaum halten – mit knallharter Manndeckung. Ich weiß, das klingt altmodisch, aber anders kriegst du diese Ausnahmekönner nicht in den Griff.
In Kürze beginnt die Europameisterschaft in Polen und der Ukraine. Wie schätzen Sie die Chancen der deutschen Nationalmannschaft ein, mit schönem Spiel den Titel zu gewinnen?
Für mich ist Deutschland neben Spanien der große Favorit auf den Titel. Denn trotz ihrer Wandlung zum schönen Spiel, haben die Deutschen eine Eigenschaft nicht verloren: die enorme Willensstärke bei großen Turnieren. Wir Brasilianer sagen immer: Deutschland bleibt nie auf halber Strecke liegen!
Werden wir Sie denn wenigstens bei einigen Spielen der EM vor Ort sein?
Ich werde die EM von Brasilien aus verfolgen, so kann ich mir alle Spiele im Fernsehen anschauen. Auf meine alten Tage bin ich in dieser Hinsicht bequemer geworden: Ich schmeiße vor den Spielen den Grill an, trinke ein paar Bierchen und mache es mir auf der Couch gemütlich.
Und wenn sich ein perfektes Tor anbahnt, bibbern Sie um Ihren Titel?
Ach was, ich erfreue mich immer an schönen Toren – auch wenn meines zweifelsohne das schönste Tor aller Zeiten war (lacht). Aber im Ernst: Natürlich sind bei allen Turnieren etliche Traumtore geschossen worden.
Haben Sie da ein bestimmtes im Sinn?
Obwohl es mir als Brasilianer schwerfällt, das zu sagen: Das Solo von Maradona bei der WM 1986 gegen England gehört sicherlich zu den schönsten Treffern der Fußballgeschichte. Sein Tor war eine unglaubliche Einzelleistung, mein Treffer im Finale 1970 war anders. Er war das Ergebnis einer geschlossenen Mannschaftsleistung.
Ihrem Treffer ging eine beeindruckende Ballstafette voraus.
Fast jeder unserer Feldspieler war an diesem Treffer beteiligt. Wir hatten diesen Spielzug vor dem Finale gegen Italien mehrmals einstudiert und wussten, dass die enge italienische Manndeckung unserer Stürmer jederzeit große Freiräume für aufrückende Außenverteidiger zulassen würde. Und in der Schlussphase war es dann soweit: Nachdem wir den Ball eine Zeitlang in den eigenen Reihen hin und her geschoben hatten, kam Tostão über links und passte zu Pelé in die Mitte. Pelé behielt die Übersicht, wartete den richtigen Zeitpunkt ab und leitete den Ball auf die freie rechte Seite weiter.
Wo Sie bereits angesprintet kamen…
Ich hatte sein Zuspiel bereits erwartet, nahm den Ball aus vollem Lauf, erwischte ihn perfekt und hämmerte ihn in die untere linke Ecke.
Ahnten Sie zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Sie kurz vor dem Gewinn der Weltmeisterschaft standen?
Auf jeden Fall! Das 4:1 in der 86. Minute war mehr als eine Vorentscheidung. Es war die Krönung eines tollen Finals. Wir dominierten die Italiener in der Schlussphase der Partie und uns war klar: Wir werden Weltmeister. Unglaublich.
Nach dem Schlusspfiff brachen im Aztekenstadion in Mexiko-Stadt alle Dämme…
Es war der reine Wahnsinn: Schon während des Spiels wurden wir nicht nur von unseren angereisten Landsleuten unterstützt, sondern auch von den Mexikanern. Da Italien Mexiko im Achtelfinale geschlagen hatte, verbündeten sich die Gastgeber mit uns. So glich das Finale einem Heimspiel und alle Mexikaner feierten mit uns den Sieg.
Wie oft haben Sie Ihren Treffer mittlerweile schon gesehen?
Ohne zu übertreiben, bestimmt eine Million Mal. Überall wo ich hinreise, ob im In- oder Ausland, zeigt man mir dieses Tor. Auf diese Weise ehrt man mich und meine Verdienste als Spieler.
Wird das auf Dauer nicht langweilig?
Im Gegenteil, ich finde es toll, dass man sich so an mich und meine Leistungen erinnert. Außerdem ehrt es auch unsere fantastische Truppe der Weltmeisterschaft 1970.
Heutzutage isolieren sich Nationalmannschaften vor großen Turnieren von der Öffentlichkeit und steigen in noblen Hotelanlagen ab. Wo waren Sie während der WM 1970 einquartiert?
Wir wohnten direkt an einer Straße, in einem einfachen, einstöckigen Hotel mit dem Namen „Suites El Caribe“. Es glich aber eher einem Motel mit Restaurant und kleinem Schwimmbad, von Luxus keine Spur. Heute kennen Nationalspieler nur Fünf-Sterne-Hotels, das war seinerzeit nicht denkbar.
Gab es einen „Spaßvogel“ in der Mannschaft, der aufgrund der bescheidenen Unterkunft für gute Stimmung sorgen musste?
Das war gar nicht nötig. Wir waren eine eingeschworene Truppe mit zahlreichen fröhlichen Typen, die mit ihren Scherzen das gesamte Team bei Laune hielten. Die gute Laune war Teil unseres Erfolgs, denn vor und während des Turniers mussten wir insgesamt drei Monate lang miteinander auskommen. Das ist auch mein Tipp an alles Teams der EM: Die Stimmung in der Mannschaft muss gut sein, sonst hast du keine Chance, egal wie viele Ausnahmespieler man in den eigenen Reihen hat.