In der Nacht vor dem Champions-League-Finale 1997 hatte Dortmunds Stürmer Karl-Heinz Riedle eine Vision: Er würde im Endspiel treffen! Riedles Doppelpack gegen Juventus Turin entschied schließlich das Spiel. Wir sprachen mit ihm über Traumtore und Matthias Sammer.
Karl-Heinz Riedle, es gibt einige Parallelen in der Vorgeschichte der Champions League-Endspielen 1997 und 2013. Damals galt der Borussia Dortmund als krasser Außenseiter, diesmal ist das nicht anders. Und wie vor 16 Jahren konnte der BVB nach zwei deutschen Meisterschaften in Folge den nationalen Titel nicht verteidigen und musste dem FC Bayern München den Vortritt lassen.
Stimmt. Eigentlich spricht am 25. Mai alles für den BVB. Bayern ist derzeit das Maß aller Dinge und 1997 hatte Juve die Übermannschaft schlechthin – mit einem Zinédine Zedane als Spielmacher. In den ersten 20 Minuten hat uns Juve fast schon vorgeführt. Latte, später noch der Pfosten – wir hatten Glück.
Und einen Kalle Riedle, der den BVB 2:0 in Führung brachte. Sie hatten in der Nacht vor dem Endspiel geträumt, zwei Tore zu schießen.
Ja, das war schon irre. Und nach dem ersten Tor habe ich auch an den Traum gedacht.
In der 67. Minute mussten Sie allerdings ausgewechselt werden.
Ich hatte mir in der ersten Halbzeit den rechten kleinen Zeh gebrochen. Wie das passiert ist, weiß ich gar nicht mehr. Auf jeden Fall schwoll der Zeh immer mehr an und drückte an den Schuhrand. In der Halbzeitpause habe ich das Leder aufgeschnitten. Eine Spritze habe ich auch noch bekommen. Aber irgendwann waren die Schmerzen unerträglich.
Sie haben den Sieg auch noch mit dem Verlust einer teuren Uhr bezahlt…
…nicht nur ich, wie sich herausstellte. Mein schottischer Teamkollege Paul Lambert hatte mich wochenlang vor dem Finale wegen meiner Rolex Daytona genervt. Er war total scharf auf das Ding. Ich hatte die Uhr zu meiner Zeit bei Lazio gekauft. Diese Rolex war bei italienischen Fußballprofis total angesagt gewesen, also musste ich auch so eine haben. Paul wollte ebenfalls eine Rolex Daytona, aber er hat sie nirgendwo bekommen. Daher versuchte er ständig, mir meine abzuschwatzen. Irgendwann habe ich gesagt: „Also gut Paul, wenn wir das Finale gewinnen, schenke ich dir die Uhr‘“ Als Paul nach dem Sieg freudestrahlend mit zwei ausgestreckten Armen in der Kabine stand und „Where are my watches? Where are my watches?“ sang, wusste ich zuerst gar nicht, was das soll. Aber dann fiel mir das Versprechen ein. Und Paulo Sousa erklärte, dass der gute Paul mit ihm das gleiche Spielchen getrieben hatte. Paul wollte wohl auf Nummer sicher gehen.
Haben Sie später nochmals telepathische Kräfte verspürt und von Treffern geträumt, die dann tatsächlich fielen?
Nein, nie mehr.
Wir fragen Sie dennoch: Wer gewinnt das Champions League-Finale 2013?
Ich würde sagen, die Chancen stehen 60:40 zugunsten des FC Bayern.
Wir sprachen schon von den Parallelen zwischen 1997 und 2013. Womöglich gibt es noch eine. Wieder könnte das Champions League-Finale zur Zäsur in der Geschichte des BVB werden. Götze verlässt den Klub, andere – allen voran Lewandowski – scheinen auch vor dem Absprung zu sein.
Wenn ein Klub wie der BVB so viele gute Spieler produziert, dann ist es ganz normal, dass die von anderen Vereinen gejagt werden. Borussia Dortmund hat nun mal nicht den Stellenwert von Real Madrid, Barcelona oder Bayern München.
Aber die Rahmenbedingungen in Dortmund mit dem phantastischen Stadion, einem mitreißenden Trainer und den sportlichen Erfolgen sind doch nicht zu verachten. Warum verlässt Mario Götze einen solchen Klub?
Natürlich hätte auch viel dafür gesprochen, beim BVB zu bleiben. Aber der FC Bayern ist noch mal eine andere Größenordnung. Der Spieler weiß, dass er mit dem FC Bayern normalerweise immer in der Champions League antreten und mit Pep Guardiola einen der weltbesten Trainer haben wird. Wenn der FC Bayern sich meldet, ist klar: du hast die Chance, du musst die Entscheidung treffen. Ein Guardiola, ein FC Bayern warten nicht. Und das Argument, die Münchner würden Götze holen, um den mächtigsten Rivalen im eigenen Land zu schwächen, ist Blödsinn. Der FC Bayern hat Mario Götze, das größte Talent im deutschen Fußball, geholt, um sich selbst zu stärken. Man hätte das schon früher tun können, dann wäre es billiger gewesen. Aber Bayern ist ja bekannt dafür, am liebsten fertige Spieler einzukaufen.
Warum haben Sie selbst eigentlich nie für den FC Bayern München gespielt?
Einmal gab es eine Anfrage vom FC Bayern. Das war 1994, unmittelbar vor dem Wechsel von Lazio Rom zum BVB. Franz Beckenbauer rief an. Allerdings hatte ich zum damaligen Zeitpunkt bereits Dortmund mein Wort gegeben.
Haben Sie später mal damit gehadert, dass Beckenbauer nicht früher zum Telefonhörer gegriffen hatte?
Nein, Dortmund hat zu mir gepasst. Ich war nicht so der Filigran-Techniker, sondern ein Stürmer, der er immer Alarm gemacht hat, der rackerte, für das Team rannte und kämpfte. Das kommt bei den Fans in Dortmund an.
Warum haben Sie sich dann nach dem Champions League-Sieg aus Dortmund verabschiedet?
Mit Nevio Scala kam ein neuer Trainer. Mir war schnell klar, dass sich damit auch für mich etwas veränderte. Ich war in der Vorsaison neben Chapuisat der zweite gesetzte Stürmer, und im Trainingslager vor der neuen Saison fand ich mich dann auf einmal in der zweite Mannschaft wieder. Dabei war ich super drauf, es war vielleicht das beste Trainingslager in meiner Karriere. Es sind schon eigenartige Dinge vorgefallen. Mir wurde zum Beispiel angetragen, ob ich mich nicht mal mit dem Vertreter von diesem oder jenem italienischen Verein unterhalten möchte. Als dann das Angebot aus Liverpool kam, habe ich keinen Augenblick lang gezögert. Das war ein super Klub und es war schon immer mein Traum in England zu spielen.
Ein paar Wochen zuvor hatten Sie den BVB noch zum Champions League-Sieg geschossen und dann wurden Sie so abserviert. Waren Sie nicht wütend?
Nein, man muss als Profi akzeptieren, dass irgendwelche Leute Entscheidungen treffen. Zu jener Zeit wurden beim BVB einige falsche Entscheidungen getroffen. Ottmar Hitzfeld ist nach oben zum Sportdirektor dirigiert worden. Ich hatte den Eindruck, dass er gerne noch als Trainer weitergemacht hätte. Und anstatt diese intakte Mannschaft nur punktuell aufzufrischen, wurde sie richtig umgekrempelt – mit sehr viel Geld. Aber die neuen Spieler haben nicht eingeschlagen. Präsident Gerd Niebaum hatte vorher alles richtig, dann aber Fehler gemacht.
Muss man sich jetzt wieder Sorgen um den BVB machen?
Ich hoffe und bin auch zuversichtlich, dass man aus den Fehlern von damals gelernt hat, dass man diesmal beide Füße auf dem Boden behält, nicht blind einkauft und keine 40 Millionen für einen Spieler ausgibt. Durch die Einnahmen aus der Champions League und dem Götze-Transfer steht ja jetzt richtig viel Geld zur Verfügung. Aber die Verantwortlichen werden diesmal besonnener agieren. Und Jürgen Klopp hat ja in der Vergangenheit schon mehrfach bewiesen, dass er eine super Nase für gute, entwicklungsfähige Spieler hat. Nehmen wir nur Lukas Piszczek, den kannte doch vorher niemand.
Aber wenn neben Götze auch noch Robert Lewandowski, Ilkay Gündogan oder Mats Hummels den Verlockungen anderer europäischen Topklubs erlägen, würde selbst ein Jürgen Klopp an seine Grenzen stoßen.
Das ist die Gefahr. Dieser Domino-Effekt muss auf jeden Fall vermieden werden. Sonst ist vielleicht auch noch Jürgen Klopp weg. Ich denke, dass er es durchaus reizvoll findet, zwei, drei interessante Spieler einzubauen. Aber eine komplett neue Mannschaft aufzubauen, darauf hat Klopp wohl keine Lust mehr.
Matthias Sammer war 1997 Ihr Mitspieler. Welchen Anteil hat Sammers Verpflichtung an der Leistungssteigerung der Bayern?
In meinen Augen einen großen Anteil! Das Gesicht der Mannschaft hat ja sich im Vergleich zur Vorsaison fast nicht verändert, es kamen kaum neue Spieler dazu. Aber es fällt auf, dass die Truppe homogener als Mannschaft geworden ist, es wird mehr nach hinten gearbeitet, das Divenhafte ist verschwunden. Natürlich ist das vor allem ein Verdienst von Jupp Heynckes. Aber Matthias war immer wieder da, wenn das Team drei, vier gute Spiele hintereinander gemacht hat. Er hat dann auf die Euphoriebremse gedrückt, damit niemand abhebt. Und das ist wichtig.
Aber es hat auch sein Image als „Motzki“ verstärkt.
Matthias wird immer in diese Schublade gesteckt, aber das ist Quatsch.
Konnte er denn auch feiern? Zum Beispiel nach dem Champions League-Sieg 1997?
Aber sicher! Matthias war an jenem Abend gut dabei, wenngleich andere es noch mehr haben krachen lassen als er. Matthias hat auch früher schon mitgefeiert, aber er dachte immer schon wieder an das nächste Spiel. Er hat dem Fußball alles untergeordnet, das ist auch heute noch so. Und er war und ist einer, der den Zustand der Harmonie nicht sonderlich schätzt. Wenn die Leute gesagt haben, alles ist toll, dann mochte er das nicht. Matthias hat dann einfach wieder mit einer Aktion für Zündstoff gesorgt. Die Methoden waren unterschiedlich. Mal hat er im Training einen Mitspieler sauber umgegrätscht und dann wieder in der Zeitung einen Spruch rausgehauen. Im Endeffekt hat das der Mannschaft gut getan. Ich selbst bin mit Matthias prima klargekommen, andere nicht.
Gab es schon mal ein Treffen der Champions League-Helden von damals?
Nein, und das finde ich ehrlich gesagt auch schwach. Aber wir sind jetzt zum Finale ins Wembley-Stadion eingeladen. Ich werde das Thema bei dieser Gelegenheit ansprechen. Auch da ist der FC Bayern München dem BVB voraus – die gehen mit Ihren Legenden anders um, da gibt es wohl in ganz Europa keinen vergleichbaren Verein. Man hat das zuletzt bei der Meisterfeier in der Allianz Arena gesehen, als ehemalige Spieler eingeladen wurden und der aktuellen Meisterschaft Spalier standen. Eine wirklich schöne Geste und Aktion.
Sicher sind Sie als Kind, das in Bayern aufwuchs, auch Fan des FC Bayern München gewesen.
Nein, ich war Gladbach-Anhänger. Es war die Zeit von Allan Simonsen und Jupp Heynckes.
Und wem wünschen Sie jetzt im ersten rein deutschen Champions League-Finale den Sieg?
Dortmund, weil ich dort vier sehr erfolgreiche Jahre hatte und die Fans einfach unschlagbar sind.