Herr Draxler, wäh­rend die EM für Ihre Natio­nal­mann­schafts­kol­legen nicht so optimal ver­lief, hatten Sie Ihr per­sön­li­ches Erfolgs­er­lebnis: Sie haben Ihr Abitur abge­legt.
Stimmt, auch wenn es nur das Fach­ab­itur ist.

Zwi­schen­zeit­lich sah es nicht danach aus: als Sie mit 17 Jahren bei Schalke einen Pro­fi­ver­trag unter­schrieben haben und Ihr dama­liger Trainer Felix Magath Ihnen dazu riet, die Schule ganz abzu­bre­chen.
Ja, das war im Januar 2011. Und es waren tur­bu­lente Tage.

Immer mehr Sportler streben inzwi­schen einen Abitur­ab­schluss an. Vielen fällt es schwer, beiden Ansprü­chen gerecht werden zu können. Worin genau besteht das Pro­blem?
Bei mir war das Kom­pli­zierte an dieser Zwei­glei­sig­keit, dass ich einen sehr hohen Anspruch an mich habe. Übri­gens auch der Verein, der mir früh einen Pro­fi­ver­trag gegeben hat. Als Profi gibt es nun mal keine Aus­reden. Bei mir war es so, dass ich die Schule zwar nicht ver­nach­läs­sigt habe, aber ich habe auf ein, zwei bes­sere Noten ver­zichtet. Ich habe in Kauf genommen, dass es schu­lisch mal nicht so gut läuft, um die Kraft zu sparen für den Sport.

Es ist also ein Kraft­pro­blem?
So meine ich das gar nicht. Das Pro­blem ist: Ich habe in zwei Welten gelebt. Auf der einen Seite in der Fuß­ball­welt, wo so viele hin­wollen. Ande­rer­seits ist man der nor­male Schüler. Da immer kühlen Kopf zu bewahren, sich manchmal zur Schule zu quälen, ist nicht immer leicht. Der Unter­richts­stoff ist ja auch anspruchs­voll.

Und wenn dann noch mitten in der Unter­richts­stunde der Bun­des­trainer anruft …
(lacht) Sie meinen meine Beru­fung in den vor­läu­figen EM-Kader! Als ich den Anruf bekam, saß ich tat­säch­lich im Unter­richt. In der Pause habe ich meine Mailbox abge­hört und zurück­ge­rufen.

Wel­ches Fach hatten Sie gerade, als der Anruf des Bun­des­trai­ners ein­traf?
Moment, wenn ich mich recht ent­sinne – ja, es war Geschichte.

Hüb­sche Geschichte, oder?
Klar, ich war gedank­lich ja schon im Urlaub. Ich hatte die Tasche gepackt für unsere Abschluss­fahrt mit Schalke 04 nach New York.

Auch nicht schlecht!
Ja, die Tasche habe ich dann gerne wieder aus­ge­packt. Wobei die Jungs in New York eine Menge Spaß hatten, wie ich mir habe sagen lassen. Aber die Erfah­rung, die ich bei der Natio­nal­mann­schaft gesam­melt habe, ist um einiges wich­tiger, auch wenn ich den Sprung in den end­gül­tigen Kader nicht geschafft habe. Und New York? Das hole ich dann nach, wenn ich 21 bin. In irgend­welche Dis­ko­theken dort wäre ich ja noch nicht rein­ge­kommen.

Hört sich alles besonnen an für einen 18-Jäh­rigen. Sie sind jetzt Natio­nal­spieler. Wie groß sind die Ent­beh­rungen bis dahin?
Man muss nach dem Sport leben. Das hört sich viel­leicht banal an, ist aber so. Man darf halt nicht jeden Tag Ham­burger oder Pizza essen, braucht genü­gend Schlaf, um fit zu sein. Mit Dis­ko­theken ist da nicht viel. Wenn man am Wochen­ende spielt und unter der Woche Schule hat, kann man nicht bis tief in die Nacht rum­hängen. Das gehört zum Jugend­lich­sein zwar eigent­lich dazu, aber wäh­rend der Saison steht mir ohnehin nicht der Sinn danach.

Fehlt Ihnen das?
Nö, ich bin sowieso nicht der, der unbe­dingt feiern geht. Ab und zu habe ich auch mal das Bedürfnis. Aber einmal im Monat reicht mir, wenn über­haupt. Aber gerade das muss gema­nagt sein.

Ist Ihnen diese Dis­zi­plin gegeben, oder ist das Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit?
Das ist wohl eine Mischung, glaube ich. Mein Papa war auch Fuß­baller, er weiß so in etwa, wie man sich auf die Spiele vor­zu­be­reiten hat. Meine Eltern haben mich da schon aktiv begleitet. Ande­rer­seits ist es ja auch logi­sches Denken: Wenn ich die Nacht vor einem Spiel zum Tage machen würde, kann ich nicht die beste Leis­tungen bringen.

Haben Sie das Gefühl, etwas zu ver­passen?
Nein. Mein Freun­des­kreis ist der alte, mit ihm habe ich viele Super­sa­chen erlebt. Auch die Aus­wärts­fahrten mit den unter­schied­li­chen Jugend­mann­schaften oder die Tur­niere im Aus­land. Mir fehlt nichts.

Seit diesem Sommer haben Sie auch das Abitur in der Tasche. Aber was wäre gewesen, wenn Sie zur EM mit­ge­fahren wären?
Die Ter­mine wären kol­li­diert! Ich hätte die Prü­fungen dann in den Ferien ablegen müssen. Aber es wäre gegangen. Das ist der Unter­schied zu einem her­kömm­li­chen Gym­na­sium.

Es gab damals meh­rere Gespräche zwi­schen Ihnen, Ihrem dama­ligen Trainer Magath und Ihren Eltern. Das Argu­ment Magaths war, das Abi könne der Junge später nach­holen …
Richtig. Das war eine ganz schwere Ent­schei­dung für meine Eltern und mich. Wir hatten drei Mög­lich­keiten. Zum einen hat Felix Magath ganz klar gesagt: Wenn ich auf dem Gym­na­sium bleibe, würde ich wich­tige Trai­nings­ein­heiten ver­passen. Meine Kar­riere als Fuß­baller würde nicht so schnell vor­an­gehen. Die zweite Mög­lich­keit wäre das krasse Gegen­bei­spiel: Die Schule erst einmal unter­bre­chen, um zu gucken, wie schnell meine Kar­riere im Pro­fi­fuß­ball gehen kann. Und die dritte Mög­lich­keit, die wir letzt­lich gewählt haben, war die, auf die Gesamt­schule Berger Feld zu wech­seln und die Sache wei­terhin zwei­gleisig laufen zu lassen.

Die Schule ist eine soge­nannte Eli­te­schule des Fuß­balls. Hört sich dra­ma­tisch an.
Der Titel ist nicht so wichtig. Wichtig sind die Bedin­gungen. Die Schule grenzt unmit­telbar an die Trai­nings­an­lage des Ver­eins. Es sind kurze Wege. Sie ist die Part­ner­schule des FC Schalke und erhält För­der­gelder des DFB, so dass sie auch Lehrer abstellen kann, wenn der Schüler mal Ein­zel­un­ter­richt braucht. Von daher war der Wechsel zwin­gend not­wendig für mich, damit ich schu­lisch hin­ter­her­komme. Auf dem Gym­na­sium hätte ich das ver­mut­lich nicht mehr geschafft. Im Nach­hinein bin ich froh, dass ich das durch­ge­zogen habe.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?
Sie saßen zwi­schen zwei Stühlen. Sie wussten, dass ich unbe­dingt Pro­fi­fuß­baller werden will. Auf der anderen Seite haben sie gesehen, dass der Fuß­ball ein hartes Geschäft ist, wo immer etwas pas­sieren kann. Eine Absi­che­rung wäre nicht schlecht. So sind wir zu dem Ent­schluss gekommen, auf die Gesamt­schule zu wech­seln.

Ist es das viele Geld, das einen Fuß­baller dazu ver­führt, die Schule auf­zu­geben?
Was mich gezogen hat, war, dass es so viele Jungs gibt, die die Chance haben wollen, Pro­fi­fuß­baller zu werden. Ich wollte mir die Chance ein­fach nicht ent­gehen lassen. Ich war zu ein­hun­dert Pro­zent davon über­zeugt, meinen Wer­de­gang im Fuß­ball machen zu können. Diese Chance kriegt nicht jeder und man kriegt sie nicht alle Tage. Ich wollte es ein­fach ver­su­chen. Und klar, der finan­zi­elle Effekt ist natür­lich ein großer Unter­schied zu vielen anderen Sport­arten. Das ist zwar nicht das Haupt­aus­schlag­ge­bende, aber nicht zu unter­schätzen.

Sie sind also mit dem dritten Weg glück­lich geworden?
Meine Eltern erst. Ich glaube, sie waren richtig erleich­tert, als sich dieses Thema aus den Medien wieder ver­ab­schiedet hatte. Da wurde einiges dis­ku­tiert. Da ging es schon nicht mehr um Fuß­ball, son­dern darum, wer und wie die Ver­ant­wor­tung für mich trägt. Es hieß: Darf ich das über­haupt allein ent­scheiden? Müssten die Eltern nicht ihre Hand schüt­zend über den Jungen halten? Und und und. Für sie war es damals nicht ganz leicht.

Warum sind Sie nicht viel früher auf eine solche Schule gewech­selt?
Dazu gab es erst mal keine Not­wen­dig­keit. Als Nach­wuchs­spieler hatte ich von 8 bis 14 Uhr Schule, um 18 Uhr war Trai­ning. Ich hatte keinen Unter­richts­aus­fall. Aber als ich zum Pro­fi­kader gestoßen bin, hatte ich vor­mit­tags um 10 Uhr Trai­ning. Ein nor­males Gym­na­sium ver­fügt eben nicht über die Mittel, mich mit Ein­zel­un­ter­richt da irgendwie durch­zu­schleusen. Des­wegen der Wechsel. Bei mir war es dann so, dass ich einen Pri­vat­lehrer an die Seite bekam, wenn mal ein Loch zu stopfen war.

Waren Sie in einem rich­tigen Klas­sen­ver­bund inte­griert, oder sind Sie als Extra­wurst durch­ge­laufen?
Wenn es mir mög­lich war, hatte ich Klas­sen­un­ter­richt. Aber dadurch, dass ich durch die Europa League und die Cham­pions League viel unter­wegs war, habe ich jede Menge ver­passt. Den Stoff musste ich dann nach­ar­beiten.

War es anstren­gend?
Schon. Die Phasen, in denen keine Klau­suren anstanden, die waren in Ord­nung. Aber wenn es auf Klau­suren hin­lief und ich gemerkt habe, oh, da hapert’s noch, dann musste ich mich nach den Trai­nings­ein­heiten hin­setzen oder eben auch am Tag vor dem Spiel, abends im Hotel.

Wie hat der Verein diesen Weg begleitet?
Mit Ver­ständnis. Alle Trainer, also Felix Magath, Ralf Rang­nick und Huub Ste­vens, haben mir ange­boten, mich mal für einen Tag aus dem Trai­ning zu nehmen.

Und, haben Sie?
Nein, das habe ich nie in Anspruch genommen, weil ich mich als Profi gesehen habe. Ein Stück weit stehe ich ja in der Bring­schuld. Der Verein bezahlt mich, und auch gegen­über den Mit­spie­lern hätte ich das nicht in Ord­nung gefunden. Die müssen ja auch jeden Tag da sein. Aber der Verein und die Schule haben stets in Kon­takt gestanden. Da wurden Unter­richts- und Trai­nings­pläne abge­gli­chen. Wir haben ein gutes Dreieck gebildet: die Schule, ich, der Verein.

Könnte Ihr Weg bei­spiel­haft sein?
Es ist immer schwer zu ver­all­ge­mei­nern. Es kommt im Sport ja auch darauf an, welche Per­spek­tive man hat. Ins­ge­samt ist aber der Schritt, den ich gemacht habe, emp­feh­lens­wert, die Aus­bil­dung also dual laufen zu lassen. Gene­rell würde ich ver­su­chen, beides unter einen Hut zu bekommen. Man sollte sich schu­lisch absi­chern, auch wenn man kein Einser-Kan­didat ist. Ich habe jeden­falls heute ein gutes Gefühl.

Ihrer Natio­nal­mann­schafts­kar­riere hat es nicht geschadet. Jetzt sind Sie zu den beiden WM-Qua­li­fi­ka­ti­ons­spielen ein­ge­laden.
Ja, und wissen Sie was? Im EM-Trai­nings­lager in Süd­frank­reich hatte sogar der Herr Bier­hoff ange­boten, sich mit mir mal hin­zu­setzen und zu lernen, aber auch das habe ich aus­ge­schlagen. Ich wüsste auch nicht genau, wie sehr Herr Bier­hoff da noch im Stoff gewesen wäre. Aber immerhin, das Angebot stand.

Das Inter­view ist im Tages­spiegel erschienen