Richard McBrearty, vor einigen Jahren behaupteten Sie, dass Fußball in Schottland schon immer ein Sport der Arbeiterklasse gewesen sei. Nun berichten Sie davon, dass König James IV. bereits im 15. Jahrhundert einen Fußball gekauft haben soll. Nach Working Class klingt das nicht.
Es ist eine Sache der Perspektive. Grundsätzlich halte ich an der These fest, dass der Fußball wie wir ihn heute kennen, in der Breite eine Sache von Arbeitern war. Allerdings, und das wurde in der Vergangenheit häufig übersehen, war Fußball nie ein Sport, der in einem bestimmten Jahr oder Jahrzehnt in England erfunden wurde.
Sondern in Schottland?
Das wäre anmaßend und würde auch andere Entwicklungen wie in China übersehen, wo schon im 3. Jahrhundert ein fußballähnliches Spiel mit dem Namen Ts’uh-küh ausgetragen wurde. Ich störe mich vielmehr an dem Wort „erfunden“.
Wieso?
Weil es einhergeht mit der Annahme, dass eine wie auch immer geartete Geburt des Fußballs an einem Datum festgemacht werden kann. Viele verweisen etwa auf das Jahr 1848, als Studenten der Universität Cambridge die ersten Fußballregeln aufstellten. Oder sie sprechen von dem Jahr 1857, als der FC Sheffield gegründet wurde. Ich könnte hier den John Hope Football Club aus Edingburgh anführen, von dem es Zeugnisse aus dem Jahr 1824 gibt. Doch darum geht es nicht. Es geht darum zu zeigen, dass die Geschichte des Fußballs seit über 500 Jahren in Bewegung ist.
Welche Daten sind denn für Ihre Geschichtsschreibung relevant?
Etliche. Zum Beispiel das Jahr 1568, als die schottische Königin direkt nach dem „Battle of Langside“ ein Fußballspiel zu ihrer Belustigung im Schloss Carlisle anschaute. Dieses Spiel dauerte exakt zwei Stunden. Aus diesem Schloss haben wir übrigens auch den ältesten noch existierenden Ball. Er stammt aus den 1540er Jahren.
Sie fanden sogar heraus, dass bereits Ende des 15. Jahrhunderts Fußbälle hergestellt wurden.
Diese waren kleiner als die heutigen. Im Jahr 1497 wünschte sich etwa König James IV. zwei Bälle dieser Art. Der Finanzminister bestellte ihm diese Bälle. Das geht aus Kontobewegungen hervor.
Wie wurde denn damals Fußball gespielt?
Gemeinhin geht man davon aus, dass Fußball vor dem Jahr 1848 eine anarchisches, wildes Spiel war. Man erzählt von einer unüberschaubaren Anzahl an Spielern, von Rugby-Anleihen und Toren, die manchmal mehrere Meilen entfernt voneinander standen. Das mag zum Teil stimmen. Wir haben aber Dokumente, die beweisen, dass Fußball auch schon im 16. Jahrhundert in einem abgesteckten Rahmen stattfand.
Mit zehn Feldspielern und einem Torwart?
Zum Teil, ja. Es gab zwar keine schriftlich fixierten Regeln, wohl aber ungeschriebene Richtlinien, die man vor den Spielen festlegte. Auch ist es ein Irrtum zu glauben, dass Fußball nur auf riesigen Feldern gespielt wurde. In einem Schlossgarten, das ist auch dokumentiert, wurde im Jahr 1604 Fußball gespielt. Dieser Garten maß gerade mal 50 Meter in der Länge. So etwas deutet auch darauf hin, dass Fußball kein wildes Gebolze war, sondern ein technisches Spiel.
Aus welchen Dokumenten beziehen Sie Ihr Wissen?
Das ist ganz unterschiedlich. Wir fanden vor einigen Jahren etwa ein fantastisches Latein-Lehrbuch aus dem Jahr 1636. Es stammt aus der Aberdeen Grammar School. Der Autor des Buches versucht den Schülern die Sprache über Sport und Spiele nahezubringen. In dem Buch werden Golf, Handball und Fußball erwähnt. Fußball, so schreibt der Autor, wird mit zwei Teams gespielt, es gibt zwei Kapitäne, die zwei gleich große Mannschaften wählen. Wie heute beim Trainingskick. Außerdem ist hier von Torhütern die Rede. Das Interessante daran: Im 19. Jahrhundert spielten die Fußballteams mitunter ohne Keeper.
Die Geburt des Fußball wird trotz Ihrer Recherchen weiterhin im 19. Jahrhundert verortet. Wieso wird die Evolutionsthese nicht Teil eines größeren öffentlichen Diskurses?
Weil die Dokumente und Mythen über den Fußball vor 1848 als anarchisches Spiel einfach überwiegen. Zwar liebten die Royals das Spiel, doch sie verboten es den einfachen Menschen, weil sie diese für die zahlreichen Kriege im Schwertkampf oder als Artilleristen ausbilden wollten. Sie sollten ihre Energien nicht im Fußball verschwenden. So gibt es unzählige Zeitdokumente darüber, wie schlimm sich Fußball auf die Bevölkerung auswirkte.
Es gab tatsächlich Schwerverletzte bei den wilden Spielen.
Sogar Tote. Die Spiele fanden an öffentlichen Plätzen statt, viel wurde auch zerstört. Daher sind solche Spiele natürlich viel häufiger dokumentiert worden und unterstreichen somit das Bild, das wir vom Fußball vor dem 19. Jahrhundert haben.
Was halten Sie eigentlich von dem Slogan „Football’s Coming Home“, der impliziert, dass England das Mutterland des Fußballs ist?
Ich recherchiere aus einer schottischen Perspektive, daher kann die Arbeit als England-Affront verstanden werden. Doch darum geht es mir nicht. Meine Arbeit soll nicht die großen Ereignisse des Fußballs im 19. Jahrhundert schmälern. Ich möchte lediglich zeigen, dass der Fußball nicht durch eine Revolution am Tag X geboren wurde, sondern durch eine Evolution entstanden ist.