Er ist Träger des vielleicht schönsten Spitznamens im deutschen Fußball, geigte Max Merkel seine Meinung und fand durch eine Zeitungsannonce einen Arbeitsplatz in der 2. Bundesliga. „Atom-Otto“ Luttrop im Karriere-Interview.
Otto Luttrop, wollen wir gleich am Anfang über Ihren wunderbaren Spitznamen „Atom-Otto“ sprechen?
Alles zu seiner Zeit, junger Mann!
Na gut. Dann müssen Sie mir erklären, was Sie 1963 dazu bewogen hat, als Kind des Ruhrgebiets von Westfalia Herne ausgerechnet zu den „Löwen“ von 1860 München zu wechseln?
Die Bundesliga! Als ich hörte, dass Westfalia nicht in die neu gegründete Liga aufgenommen werden würde, suchte ich nach neuen Klubs. Schalke und Dortmund machten mir ein Angebot. Aber über einen Bekannten – heute würde man sagen: Spielervermittler – hörte ich, dass 1860-Trainer Max Merkel sehr an mir interessiert sei. Was er mir erzählte, gefiel mir. Drei Tage vor Transferschluss unterschrieb ich bei den „Löwen“ einen Vertrag über 16.000 DM Gehalt pro Jahr.
Waren Sie Ihr Geld wert?
Ich hoffe doch! In meiner ersten Saison schoss ich als Mittelfeldspieler fünf Tore, darunter zwei Treffer gegen Schalke 04. Sie müssen wissen, dass ich nie der große Ballstreichler war. Wenn sich die Gelegenheit bot, dann Volldampf drauf! Am nächsten Tag nannte mich eine Tageszeitung „Münchens neue Schuss-Kanone!“.
Aber „Atom-Otto“…
…kommt später.
Ok. Lassen Sie uns über Ihren Trainer in München sprechen. Was für ein Mensch war Max Merkel?
Ein richtiger Scharfmacher. Der konnte uns so dermaßen motivieren, dass wir bereit waren, die Gegenspieler in Stücke zu reißen. Merkel selbst stand ständig unter Strom. In jedem Training hat er irgendwen zusammengeschissen, darin war er ein Meister. Da fällt mir ein: In den Trainingslagern hatte er stets einen Assistenten an der Seite, dessen Aufgabe es war, Frauen für den Chef zu finden. Wir nannten ihn den „Treiber-Fritz“. Wenn es dann beim Trainer rund ging, lagen wir längst in den Betten – um 20 Uhr war nämlich Nachtruhe.
Stimmt es, dass die Trainingseinheiten unter Merkel besonders hart waren?
Eine seiner liebsten „Aufwärmübungen“ war der 400-Meter-Lauf. Mit zwei Medizinbällen unterm Arm. Aber ich war in dieser Hinsicht abgehärtet. 1959 hatte ich meinen Heimatklub VfL Altenbögge verlassen, um bei Westfalia Herne anzuheuern. Dort wartete schon Trainer Fritz Langner, genannt: der „Eiserne Fritz“, sehnsüchtig auf seine Neuzugänge. Runde um Runde scheuchte er uns um den Platz, er wollte, dass wir an unsere Grenzen stießen. Das war so eine Art Aufnahmeritual bei ihm. Ich lief mit zwei anderen Neulingen. Einer brach irgendwann zusammen, der andere musste sich übergeben.
Und Sie?
Ich hab dem „Eisernen“ was geschissen! Wissen Sie, wenn ich was konnte, dann schießen und laufen. Ich drehte so viele Runden, bis es ihm irgendwann zu langweilig wurde und er das Training beendete. Merkels Medizinball-Einheiten waren ein Klacks dagegen! (lacht)
In Ihrem ersten Jahr in München gewannen Sie den DFB-Pokal, in der Folgesaison schaffte Ihre Mannschaft sogar den Sprung ins Finale im Europapokal der Pokalsieger. Welche Erinnerungen haben Sie an diese Spiele?
Wir schmissen nacheinander Sportive Luxemburg, den FC Porto und Legia Warschau aus dem Wettbewerb. Im Halbfinale wartete der AC Turin. Die hatten mit Lido Vieri den damaligen italienischen Nationaltorwart zwischen den Pfosten und doch gelangen mir in allen Partien Tore. Im Hinspiel war es allerdings ein Eigentor (lacht)! Wir verloren mit 0:2 und waren eigentlich schon ausgeschieden. Doch im Rückspiel gelangen mir zwei Treffer – ins richtige Tor. Wir gewannen mit 3:1 und erzwangen ein Entscheidungsspiel, das wir schließlich mit 2:0 für uns entscheiden konnten. Wieder schoss ich ein Tor. Und soll ich Ihnen etwas verraten?
Das wird doch wohl nichts mit Ihrem Spitznamen zu tun haben?
Allerdings. Gegen die Turiner versenkte einen Freistoß und einen Elfmeter, selbstverständlich mit Volldampf getreten. Die Presse gab mir einen neuen Namen: „Atom-Otto“. Der wäre heute vielleicht nicht mehr ganz zeitgemäß, aber damals gefiel er mir.
Wäre das geklärt. Durch den Erfolg über die Italiener zogen Sie ins Endspiel ein…
…das wir leider verloren. 100.000 Zuschauer wollten uns im Wembleystadion sehen. Gegen den Heimvorteil von Gegner West Ham United hatten wir keine Chance und unterlagen mit 0:2. Schade.
Ihre Auftritte gegen Turin müssen AC-Trainer Nereo Rocco nachhaltig beeindruckt haben. Er soll Ihnen später ein recht lukratives Angebot gemacht haben.
Das stimmt, die wollten mich haben. Aber ich die nicht. Damals wollte ich nicht im Ausland spielen, deshalb sagte ich Signore Rocco höflich ab und blieb in München.
Nur um 1966, also kurz nach dem Gewinn der Deutschen Meisterschaft, doch ins Ausland zu wechseln, zum FC Lugano in die Schweiz. Was ist da bei Ihrer Karriereplanung schief gelaufen?
Gar nichts. Doch nach drei Jahren beim TSV 1860 war die Stimmung mies und ich wollte weg. Merkel hatte mich auf dem Kieker, nachdem ich kundgetan hatte, dass ich mir einen neuen Klub suchen wolle. Der HSV hatte mir sogar schon ein Angebot unterbreitet. Fortan setzte mich Merkel auf die Bank oder wechselte mich spät ein. Das ging mir natürlich richtig gegen den Strich.
Wie haben Sie reagiert?
Irgendwann reichte es mir. Mitten im Training ging ich zu Merkel und sagte: „Herr Merkel, Sie können mich mal am Arsch lecken!“ Er schickte alle anderen Spieler in die Kabine und krempelte sich die Ärmel hoch.
Sie werden den Konflikt doch nicht mit Fäusten ausgetragen haben!
Ach was. Wir schrien uns nur ein paar Nettigkeiten zu. Wie die Kampfhähne standen wir uns gegenüber. Und nach diesem „Gespräch“ war klar, dass wir uns besser trennen sollten. Ich bekam das Angebot aus der Schweiz und sagte zu.
Warum Lugano?
Weil man mich dort brauchte. Bevor ich beim FC spielte, kamen im Schnitt 2000 Zuschauer ins Stadion. Jetzt waren es plötzlich 15.000. Auf italienisch brüllten die Fans: „Wir woll´n den Otto sehn!“
Sie blieben acht Jahre in der Schweiz. Konnten Sie denn auch Ihren Spitznamen in Ehren halten?
Und ob. Zwei Gegenspieler schoss ich während dieser Zeit sogar ins Krankenhaus. Die armen Kerle hatten die undankbare Aufgabe, sich bei Freistößen in die Mauer zu stellen. Es war nass, es war kalt, und ich hatte mein Glas mit Zielwasser offenbar nicht ganz ausgetrunken. Beide erwischte ich jeweils ziemlich übel am Kopf. Zum Glück ging das alles glimpflich aus. Gehirnerschütterungen, mehr nicht.
Respekt. Haben Sie Ihren Schuss eigentlich mal messen lassen?
Habe ich. 130 km/h war mein Bestwert. Ich hatte damals aber auch Oberschenkel wie ein Weltmeister.
1974 gaben Sie Ihr Comeback im deutschen Profifußball. Allerdings unter recht ungewöhnlichen Umständen.
Max Merkel war inzwischen wieder Trainer bei 1860. Die Münchener traten bei einem Turnier in Griechenland an und Merkel hatte ein Auge auf meinen ehemaligen Mitspieler Heinz Lubanski geworfen. Er wollte ihn testen. Also rief er mich an: „Otto, pack Deine Sachen, nimm den Lubanski mit und komm nach Griechenland!“ Der Streit von damals war längst wieder vergessen. Ich fuhr mit Heinz zu diesem Turnier. Weil Merkel ein paar Leute fehlten, fragte er mich: „Hast Du auch Deine Schuhe mit?“ Hatte ich, also setzte er mich ein. Nun, ich machte meine Sache so gut, dass Merkel nach dem Spiel zu mir kam und sagte: „Kannst den Lubanski wieder nach Hause schicken. Dich will ich haben!“ Die Idee gefiel mir. Ich fuhr zurück in die Schweiz, löste meinen Vertrag auf, fuhr nach München – und erfuhr im Gespräch mit Merkel und seinem Präsidenten, dass ein wichtiger Geldgeber abgesprungen sei und man sich mich nicht mehr leisten könne. Ich war 35 und auf einen Schlag vereinslos.
Wie ging es weiter?
In einer Zeitung las ich die Annonce vom 1. FC Mühlheim: „Zweitliga-Mannschaft sucht erfahrenen Spieler“. Die Mülheimer waren relativ überraschend in die neu gegründete 2. Bundesliga aufgenommen worden, es fehlte ihnen allerdings an guten Fußballern, um in dieser Klasse auch zu bestehen. Sie nahmen mich mit Kusshand. Ich blieb ein Jahr und half mit, den Abstieg zu verhindern.
Nach Stationen beim FC Luzern, Union Solingen und FC Chiasso beendeten Sie 1978 Ihre Karriere und wurden Trainer. Heute leben Sie als Rentner in der Schweiz. Bekommen Sie denn dort überhaupt mit, ob es in der Bundesliga würdige Nachfolger für „Atom-Otto“ gibt?
Aus der heutigen Spielergeneration fällt mir keiner ein. Aber in den Achtzigern gab es beim VfL Bochum einen jungen Kerl, der hatte einen Huf, meine Güte… Wie hieß der bloß? Martin Kree! Ja, der hätte den Beinamen „Atom“ durchaus verdient gehabt!