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Der Regen pras­selt. Keiner wankt im Wank­dorf-Sta­dion zu Bern. Jetzt Gefahr! Schuss! Auf der Tor­linie gerettet! Nach­schuss müsste kommen. Noch mal auf der Tor­linie gerettet. Das erste Mal Posipal. Das zweite Mal Kohl­meyer. Rettet. Rettet. Rettet!“

Das war am 4. Juli 1954. In der 53. Minute des WM-End­spiels zwi­schen Deutsch­land und Ungarn. Beim Stand von 2:2. 33 Minuten später war Werner Kohl­meyer Welt­meister.

Viel­leicht wäre es besser gewesen, wenn Kohl­meyer damals nicht auf der Tor­linie gerettet hätte. Oder um es mit seinen Worten zu sagen: Viel­leicht war es der größte Fehler meines Lebens, dass ich Fuß­ball gespielt habe.“ Heute vor 40 Jahren starb Werner Kohl­meyer im Alter von 49 Jahren an Herz­ver­sagen.

Nie­mand küm­merte sich um seinen Grab­stein

Kein anderer Welt­meister von 1954 stürzte nach dem großen Tri­umph so brutal ab wie der gebür­tige Kai­sers­lau­terer. Kaum, dass sich Kohli“ mit seinen Hel­den­taten unsterb­lich gemacht, arbei­tete er auch schon an seiner per­sön­li­chen Kata­strophe. Eigent­lich müsste man sein Leben als Vor­lage für ein Thea­ter­stück ver­wenden. So viel Drama, so viel Absturz. Wer hat eigent­lich den Satz From hero to zero“ erfunden? Viel­leicht steht der auf seinem Grab­stein. Aber wer weiß das schon. Selbst der Grab­stein des Fuß­bal­lers ist längst ver­schwunden. Es hatte sich nie­mand im seine letzte Ruhe­stätte küm­mern wollen.

Aber der Reihe nach. An jenem 4. Juli 1954 war die Welt noch in Ord­nung. Elf durch­nässte und erschöpfte deut­sche Natio­nal­spieler reihten sich auf dem Rasen des Berner Wank­dorf-Sta­dions auf, um die welt­meis­ter­li­chen Ehrungen ent­gegen zu nehmen. Kohl­meyer war einer von ihnen. Ein bul­liger Athlet, früher mal Regio­nal­meister im Fünf­kampf, jetzt Abwehr­spieler. Schnell, zwei­kampf­stark und talen­tiert. Mit 30 Jahren auf dem Höhe­punkt seiner Kar­riere. Pech­schwarzes Haar, dunkle Augen, auf der Nase eine kleine Narbe. Ewige Erin­ne­rung an den Front­ein­satz zehn Jahre zuvor. Die Gewehr­kugel eines sowje­ti­schen Sol­daten hatte ihm nur leicht gestriffen. Da meinte es das Leben noch gut mit ihm. Vom Nazi-Sol­daten zum Welt­meister, vom Schlacht­feld auf den Rasen, der an jenem 4. Juli 1954 die Welt bedeu­tete. Ob Deutsch­land wieder wer war, weil die Natio­nal­mann­schaft Ungarn besiegt hatte? Bestimmt nicht. Aber der Kohli“ und seine Mit­spieler, die waren nun wer.

Kohl­meyer kehrte zurück ins nor­male Leben. Zu seiner Frau Carola und seinen drei Kin­dern in Mor­lau­tern. In sein 10.000 DM teures Ein­fa­mi­li­en­haus. In seinen Job als Lohn­buch­halter in der Spin­nerei Kamm­garn. In den Alltag. Da war er schon vor der Welt­meis­ter­schaft eine Berühmt­heit gewesen, spä­tes­tens seit er 1951 und 1953 mit dem 1. FC Kai­sers­lau­tern Deut­scher Meister geworden war. Jetzt war ein Held. Wer einmal Held ist, muss es sein Leben lang bleiben. Sonst bekommt er irgend­wann einen Tritt in den Rücken. Die Men­schen lieben gefal­lene Helden. Die Mensch­heit hat sich eben noch nie hel­den­haft ver­halten.

Eine Tüte voller Geld als Tor­pfosten

Abseits des Fuß­ball­platzes war Kohl­meyer kein Held. Son­dern ein nor­maler Durch­schnitts­bürger mit einem leichten Hang zur Exzen­trik, dem die neue Popu­la­rität bald zu Kopf stieg. Für sein hüb­sches Eigen­heim kaufte sich Kohl­meyer gleich zwei Kla­viere. Eines für das Erd­ge­schoss, eines für den ersten Stock. Als ihn Fritz Walter darauf ansprach, ant­wortet Kohli“ nur: Ja, glaubst du denn, ich schleppe das Ding immer hoch und runter, je nachdem, wo die Party ist?“ Und als er, der Buch­halter, von seinem Chef mit einer Tüte voller Geld zur Bank geschickt wurde, machte er kurz Halt und bolzte mit Schul­kin­dern. Die Tüte mit dem Geld benutzte er als Tor­pfosten. Kohl­meyer hatte seinen eigenen Kopf und weil er jetzt Welt­meister war, wollte er mit seinem Dick­schädel auch durch Wände, die dafür nicht gemacht waren. Das konnte auf Dauer nicht gut gehen.

1955 wurde er noch einmal Vize-Meister mit dem FCK, zwei Jahre später rebel­lierte er gegen Trainer Richard Schneider – und zog den Kür­zeren. Nach 16 Jahren ver­ließ Kohl­meyer den Bet­zen­berg im Streit und fand beim FC Hom­burg einen neuen sport­li­chen Unter­schlupf. In der 2. Liga Süd­west. Erste Zei­chen des per­sön­li­chen Abstiegs. Das schlei­chende Kar­rie­re­ende und der Über­gang in ein Leben danach ist für jeden Sportler eine Her­aus­for­de­rung. Werner Kohl­meyer schei­terte daran. Der Alkohol hatte ihm schon immer geschmeckt, aber was Sepp Her­berger Jahre zuvor noch augen­zwin­kernd mit einer sal­zigen Leber“ des Defen­siv­spe­zia­listen erklären konnte, wurde nun zu einem Pro­blem. In den Kneipen von Kai­sers­lau­tern war Wermut-Kohli“ ein gern gese­hener Gast, selbst die Arbeits­pausen nutzte Kohl­meyer, um in einer nahen Gast­stätte nach­zu­tanken. Das war wenig hel­den­haft und hatte Folgen: Die Kol­legen läs­terten immer häu­figer über den sau­fenden Welt­meister, einer ver­pfiff ihn beim Werk­schutz. Der fing Kohli“ an der Theke ab und stellte ihn zur Rede. Gekränkt mar­schierte Kohl­meyer dar­aufhin zum Chef und erklärte: Meine Papiere will ich und Schluss!“

Sie nannten ihn Wermut-Kohli“

Mit der Sau­ferei wurde es fortan immer schlimmer. Rudi Merk, Vater des ehe­ma­ligen Welt­schieds­rich­ters Markus Merk, erin­nerte sich vor vielen Jahren für die Süd­deut­sche Zei­tung“ an eine Knei­pen­tour mit seinem alten Kumpel Werner. In einer Tränke habe Kohl­meyer nach viel zu vielen Bieren Streit mit dem Wirt ange­fangen. Der Fuß­baller hatte Schulden. Irgend­wann habe er die Medaille vom WM-Sieg aus der Tasche gezogen, auf den Tresen geknallt und gerufen: Die Schulden sind damit wohl bezahlt!“ Merk ver­ließ dar­aufhin ange­wi­dert die Kneipe und betrat sie nie wieder: Stellen sie sich das vor! So eine Medaille. Die gibt man doch nicht her. Für Bier!“ Dem Kohli“ war das längst egal. Von einer Medaille wird man schließ­lich nicht besoffen. Und außerdem: Mit jedem Glas wirst du noch mal Welt­meister.“ Das hat Werner Kohl­meyer gesagt. Da war er längst schon Alko­ho­liker.

Die Sucht hatte Kon­se­quenzen, fraß sich in sein Hirn, zer­störte sein Selbst­be­wusst­sein, zer­hackte seine Selbst­ach­tung und unter­höhlte sein Leben. In einer Nacht- und Nebel­ak­tion ver­ließ er seine Frau, sie blieb mit den drei Kin­dern im Eigen­heim zurück. Die Ehe wurde später geschieden, der Kon­takt zu seinen beiden Töch­tern und Sohn Werner Junior riss bald für immer ab. Jah­re­lang schlug sich der Welt­meister irgendwie durch, jobbte auf Bau­stellen, schlug ein paar letzte Flanken für den SV Mor­lau­tern und been­dete 1963 end­gültig die Kar­riere als Fuß­baller.

Wie tief kann ein Mensch fallen, wenn das Leben keine dop­pelten Böden mehr zur Ver­fü­gung stellt? Ein Jahr­zehnt nach dem Tri­umph von Bern hatte Werner Kohl­meyer alles ver­loren. Als Sepp Her­berger 1967 zu seinem 70. Geburtstag lud, tauchten alle Welt­meister zur Party auf. Nur nicht Werner Kohl­meyer. Er hatte keine Ein­la­dung erhalten. Aber nur, weil nie­mand wusste, wo er steckte“, beteu­erte Fritz Walter. Es hieß, der Kohli“ ziehe als Obdach­loser durch die Pfalz, stets bereit, sich das letzte biss­chen Leben aus dem Leib zu saufen.

Ein Säufer. Depressiv. Mit dem Hang zur Spiel­sucht.

Dann tauchte er wieder auf. Irgend­wann Ende der sech­ziger Jahre stand der Welt­meister, abge­rissen, auf­ge­dunsen, kaum wieder zu erkennen, an der Theke des Ver­eins­lo­kals von Mom­bach 03, einem Kreis­li­ga­klub aus Mainz. Der Wirt namens Rosen­baum sagte: Bei mir bekommen sie nur gespritzten Apfel­saft!“ Kohl­meyer nahm den Saft und setzte sich in eine ein­same Ecke. Den Anblick des ver­wahr­losten Helden von einst konnte die Fuß­bal­l­er­fa­milie Rosen­baum nicht ertragen. Sie nahm Kohl­meyer bei sich auf, gab ihm ein Bett, fri­sche Klei­dung, gespritzten Apfel­saft. Eine neue Chance. Bei den Mom­ba­chern fand er eine neue Heimat. War Mas­kott­chen, Manager, Platz­wart, Lini­en­richter. Aber immer auch noch: Säufer. Depressiv. Mit einem Hang zur Spiel­sucht. Ein Tanz auf der Rasier­klinge. Immerhin hatte er jetzt wieder eine Rasier­klinge zum Tanzen.

Irgend­wann besuchte ihn sein alter Chef, Sepp Her­berger. Werner“, sagte Her­berger, ich helfe ihnen. Aber nur, wenn sie eine Ent­zie­hungskur machen!“ Aber Kohl­meyer war nicht mehr zu helfen: Ich bin kein Trinker!“ Um sich darin zu bestä­tigen, soff er weiter. Die Logik eines Süch­tigen. Immerhin spannten sich jetzt wieder dop­pelte Böden unter seinem Leben. Werner Höl­lein, Sport­re­dak­teur bei der All­ge­meine Zei­tung“ in Mainz, besorgte ihm einen Job als Pförtner am Redak­ti­ons­ge­bäude. Wei­terhin eine trau­rige Exis­tenz, aber zumin­dest hatte Kohli“ die sech­ziger Jahre über­lebt.

Als sich Deutsch­land 20 Jahre nach dem Wunder von Bern“ auf die erste Welt­meis­ter­schaft im eigenen Land vor­be­rei­tete, schrieb Werner Kohl­meyer einen Brief. Für das letzte Freund­schafts­spiel der deut­schen Natio­nal­mann­schaft vor dem WM-Start bat Kohl­meyer den DFB um Ehren­karten. Deutsch­land gegen Schott­land im Frank­furter Wald­sta­dion. 60.000 Plätze. Da dürften ein paar Ehren­karten für einen Welt­meister eine Selbst­ver­ständ­lich­keit sein. Der DFB ant­wor­tete. Wir bitten Sie höf­lich, den Gesamt­be­trag von DM 341,- in den nächsten Tagen auf eines unserer o.a. Konten zu über­weisen.“

Keine wankte im Wank­dorf-Sta­dion. Er schon gar nicht.

Kohl­meyer war nicht traurig, war nicht wütend. Kohl­meyer brach es das Herz. Am 26. März 1974, um vier Uhr mor­gens, hörte das Herz des Welt­meis­ters auf zu schlagen. Als ihn seine Mutter fand, war er bereits schon tot. Einen Tag später gewann Deutsch­land durch Tore von Paul Breitner und Jürgen Gra­bowski mit 2:1 gegen Schott­land.

Am 28. März 1974 zog sich Geburts­tags­kind Sepp Her­berger einen schwarzen Anzug an. Zur Feier des Tages. Auf dem Mainzer Haupt­friedhof nahm er Abschied. Von dem Mann, der 20 Jahre zuvor den Ball von der Linie gekratzt hatte. Keiner wankte im Wank­dorf-Sta­dion zu Bern. Schon gar nicht Werner Kohl­meyer. Nur das Leben, das hatte ihn schließ­lich zu Fall gebracht.

Alles, was nach der Welt­meis­ter­schaft kam“, soll Kohl­meyer mal gesagt haben, war wie ein ein­ziges ver­lo­renes Wochen­ende.“ Heute vor 40 Jahren, am 26. März 1974, starb Werner Kohl­meyer im Alter von 49 Jahren.