Fünf der neun Europapokalsiege von Real Madrid hat er für die „Königlichen“ gewonnen: Alfredo di Stéfano. Manche sagen: Es hat nie einen besseren Fußballer gegeben als diesen Mann. Ein Portrait.
Sie ist unter den Freunden des Fußballs die am meisten und liebsten diskutierte Frage: „Wer ist der beste Spieler aller Zeit?“ Die jüngeren sagen: Zinedine Zidane, die „weiße Katze von Marseille“. Der Weltmeister, behaupten sie, sei in seiner Blütezeit so elegant gewesen wie niemand sonst. Diejenigen, deren Erinnerung etwa zehn Jahre weiter zurückgeht, sagen, Diego Armando Maradona sei der Größte gewesen: Auch er war Weltmeister, und in noch höherem Maße habe er, argumentieren sie, seine Mannschaft über die Gegner erhoben, sei noch genialer gewesen, und noch weniger habe man sein Spiel begreifen können. Nicht wenige sagen das auch von Michel Platini. Nein, rufen die, die schon in den 60er und 70er Jahren dabei waren: Niemand sei besser gewesen als Pelé, Beckenbauer und Cruyff. Doch allein unter diesen drei Wunderspielern kann sich die Fachwelt nicht auf einen einigen. Und die Liste der Kandidaten ließe sich ohne weiteres um den zeitgenössischen Ronaldinho, um Marco von Basten, Zico, Eusebio und etliche mehr erweitern.
Was wurde aus den Legenden?
Warum aber gibt es keinen Konsens? Warum kann es ihn gar nicht geben? Natürlich: Weil es zuviel Spaß macht, darüber zu streiten, und auch, weil jeder in einer anderen Zeit von einem Spieler in den Bann gezogen wurde. Letztlich haben sie alle ein geradezu jenseitiges Niveau erreicht, wird ihrer zu Recht mit Weihe gedacht. Gleichwohl haftet jedem von ihnen – und das ist es, was die Gegenargumente bildet – ein Makel an. Hat Zidane sich durch seine Tätlichkeit im WM-Finale 2006 selbst abgewickelt? Maradona indes hat sich und uns um die Reifephase seines Könnens gebracht und trat würdelos ab. Und Pelé ist indes – wie Platini – ein Fußballunternehmer geworden und im Begriff, seinen eigenen Mythos aufzufressen. Immer mehr Fans wenden sich dem noch begnadeteren und verdienstvolleren Garrincha zu. Der starb, verarmt und beinah vergessen, abseits des Rampenlichts. In diesem stehen van Basten, Zico und Eusebio zwar noch immer, doch sind sie unvollendet geblieben: Für sie reichte es nicht zum Weltmeistertitel.
Für einen reichte es noch nicht einmal zur Teilnahme am bedeutsamsten Turnier. Sein Ruf weht nur ganz leise zu uns herüber, aus einer Zeit, als das Spiel längst nicht so in Szene gesetzt wurde wie in den Jahrzehnten danach. Ganz leise weht sein Ruf, sein Name wird nur geraunt wie das Codewort zum Olymp der Allerbesten. Doch er durchdauert die Zeiten. Und während andere vergessen werden, Dirceu, Cubillas, Kempes etwa, wird man über ihn noch in ferner Zukunft sprechen wie über den Erfinder des Spiels: Alfredo di Stefano.
Ein Teil der Maschine
Alfredo di Stefanos Karriere begann in den 40er Jahren bei River Plate Buenos Aires. Diese Mannschaft war die erste, die mit einer Rotation spielte. Jeder Spieler war sowohl defensiv als auch offensiv stark, ständig in Bewegung und unfassbar laufstark. Man sprach über River Plate nur als „die Maschine“, die angetrieben wurde von der Fünfer-Sturmreihe Munoz, Moreno, Labruna, Lousteau und Adolfo Pedernera, einem der besten argentinischen Mittelstürmer aller Zeiten. Er war es, der ein System einstudierter Pfiffe erfand, über das er sich mit seinen Mannschaftskameraden verständigte. Hier wurde das Spiel, das zu dieser Zeit noch seiner Urform ähnelte, in einer Weise organisiert, die neu war und revolutionär. Sie war die Schule für den jungen Alfredo di Stefano, der später zum „General“ werden sollte.
Noch aber war er der „blonde Pfeil“: In seiner ersten kompletten Spielzeit, als er den Altmeister Pedernera beerbt hatte, wurde er auf Anhieb Torschützenkönig, argentinischer Meister und errang die Copa America. Da südamerikanische Mannschaften noch nicht wieder gegen europäische spielten, fehlen objektive Maßstäbe, um zu sagen, wie stark River Plate in der zweiten Hälfte der 40er Jahre tatsächlich war. Aber wenn man dem Dichter Eduardo Galeano glauben darf, war sie „eine der besten Mannschaften in der Geschichte des Fußballs“. Und Alfredo di Stefano war darin eine Klasse für sich: Atemberaubende Tempodribblings, eine sagenhafte Koordination (es mussten ihn schon drei Verteidiger auf einmal in die Zange nehmen, damit er fiel), eine Übersicht wie ein Schachgroßmeister und ein Schuss wie eine Waffe. Di Stefano war nicht einfach besser als seine Gegner, er spielte ein anderes Spiel, das sie gar verstanden. Kein Wunder also, dass man bei den Millionarios Bogotá in Kolumbien, wo eine der ersten Profiligen der Welt bestand und bereits Unsummen ausgegeben wurden, 1949 den Tresor öffnete. Eine lohnende Maßnahme: Viermal führte di Stefano sie zur Meisterschaft, zweimal als bester Torschütze Kolumbiens.
Eine Vorahnung vom modernen Fußball
Schon damals wehte jener Ruf nach Europa hinüber, raunte man sich hier seinen Namen zu. Einzig Larbi Ben Barek, der Spielmacher von Atletico Madrid, verlieh den Fans eine Ahnung, wie moderner Fußball aussehen könnte: weiträumig, überraschend, flexibel. Er führte seine Mannschaft zu zwei Titeln, und bei den Rivalen Real und Barca bissen die Chefs vor Neid in ihre Schreibtischkanten. Eine Lösung musste geschaffen werde, und zwar schnell. So kam es, dass man genauer hinhörte, wenn dieser Name fiel: Alfredo di Stefano. Beobachter wurden nach Kolumbien entsandt, die japsend zurückkehrten und von Wunderdingen berichteten. „Diesen Mann will ich haben,“ sagten synchron Santiago Bernabeu und Pepe Samitier, die Macher der beiden Großclubs. Doch wem würde der Coup gelingen? Es kam zum Streit. Der spanische Verband fällte ein ebenso salomonisches wie unerträgliches Urteil: Di Stefano sollte an beide Vereine gebunden werden und abwechselnd eine Saison für Real und eine für Barca spielen.
Weisungsgemäß trat er zunächst für Real an. Doch Präsident Bernabeu hatte einen perfiden Plan, und der ging auf: Di Stefano spielte absichtlich so lasch, dass man sich in Barcelona irritieren ließ und davon ausging, man habe ihn überschätzt. Man verzichtete auf seine Dienste und nahm gelangweilt Reals Abschlagszahlung entgegen. Doch im ersten Spiel der Saison 1953/54 hatte die Scharade ein Ende: Di Stefano traf viermal beim 5:0‑Sieg. Der Gegner war der FC Barcelona und die epochale Feindschaft zu Real Madrid damit besiegelt. Wiederum auf Anhieb wurde di Stefano Torschützenkönig und Meister. In den zehn Folgejahren errang er den Titel noch sieben weitere Male. Die Mannschaft von Real Madrid wurde zur Legende.
Raymond Kopa spielte hier, der legendäre französische Rechtaußen, und später Didi, der Regisseur der brasilianischen Weltmeisterelf und Erfinder des „fallenden Blattes“, des Freistoßes mit Effet. Doch di Stefano, das Genie, duldete kein anderes Genie neben sich, das sich entfalten wollte. Sie alle mussten sich ihm unterordnen. So gingen Kopa und Didi entnervt, und es brauchte Spieler, die erkannten, dass sie erst durch den „General“ in neue Dimensionen vordringen konnten. José Santamaria war einer von ihnen, der uruguayische Mittelläufer. Selbst ein ungemein offensivstarker, moderner Spieler, stellte er sich di Stefano als Adjutant zur Verfügung. Auch der blutjunge Linksaußen Francisco Gento ahnte, was er würde lernen können. Zwölf Jahre später war er es, der Real als Kapitän zum Sieg im Europapokal der Landesmeister führte. Oder Hector Rial: Mit seinem argentinische Landsmann zeigte di Stefano nie da gewesene Doppelpässe, die ihre Gegner um den Verstand brachten. So gewann Real zweimal den Europapokal der Landesmeister und war Mitte der 50er Jahre weltweit als das „weiße Ballett“ bekannt. Doch in der Rückschau war es nur eine Vortanzgruppe für das, was ab 1958 geschah. Emil Östreicher, ehemaliger Manager von Honved Budapest und zu dieser Zeit technischer Direktor von Real Madrid, gelang es, die beiden besten Spieler ihrer Generation zusammenzuführen – er verpflichtete den Ungarn Ferenc Puskás.
Der General und der Major
Der „Major“, wie er genannt wurde, erkannte die Befehlsgewalt des „Generals“ di Stefano an und war seinerseits von diesem mehr als nur geduldet. Es verband sie eine tiefe Freundschaft, die sich auf dem Platz in einem blinden Verständnis dessen äußerte, wovon andere noch nicht einmal eine blasse Ahnung hatten. Es brach über sie hinein, es vernichtete sie. „Mein erster Gedanke war: Das ist ein Schwindel, geschnitten, ein Film,“ sagte kein Geringerer als Bobby Charlton, als er di Stefano und Puskás erstmals im Zusammenspiel gesehen hatte, „weil diese Spieler Dinge taten, die nicht möglich sind, nicht real, nicht menschlich.“ Gemeinsam errangen sie drei weitere Male den Europapokal der Landesmeister. Sie waren die „Königlichen“.
Als Krönungsmesse gilt das Endspiel von 1960 gegen Eintracht Frankfurt im Glasgower Hampden Park. 130.000 Zuschauer sahen ein Spiel, das sie nie wieder vergaßen. Alfredo di Stefano ließ sich, wie es sein Art war, als Mittelstürmer immer wieder weit zurückfallen und war so selbstbewusst, dass er das Spiel schon aus dem eigenen Strafraum heraus ordnete. Von dort trieb er den Ball mit behänden Stößen durchs Mittelfeld – er hatte seine Gegenspieler schon nach einer halben Stunde totgelaufen – und suchte immer wieder den Doppelpass mit dem kongenialen Puskás. Dann wieder schlug er sofort einen 60-Meter-Ball. Er selbst traf dreimal, Puskás gar viermal. Real gewann 7:3, und Erwin Stein, einer der Frankfurter Zeugen dieser Offenbarung, sagte hinterher: „Wir sind vor denen bald in die Knie gegangen.“
Fossil auf der Tribüne
Es war der Höhepunkt einer Ära und zugleich ihr Ende. In der Folgesaison schied Real schon im Achtelfinale aus. Alfredo di Stefano, mittlerweile 35 Jahre alt und nur noch seinem Spitznamen nach blond, wurde zusehends müde. Jüngere Spieler traten an seine Stelle, Pelé etwa, Garrincha und später George Best. Noch viermal wurde er spanischer Meister, doch mangelte es diesen Titeln an der Grandezza vergangener Jahre. Geradezu unwürdig geriet das Weltmeisterschaftsturnier 1962. Wie schon für Argentinien und Kolumbien trat di Stefano auch für die spanische Nationalmannschaft an. Aus unerfindlichen Gründen war in den 50er Jahren nicht einmal die Qualifikation geschafft worden – trotz Spielern wie Kubala, Gento und eben di Stefano. In Chile nun musste er, wegen einer Verletzung nicht einsatzfähig, das Ausscheiden in der Zwischenrunde mit ansehen. Er war ein Fossil auf der Tribüne, zu spät richteten sich die Kameras auf ihn und schwenkten gleich wieder um auf Pelé, der stattdessen von vielen zum besten Spieler aller Zeiten ausgerufen wurde.
1964 verließ di Stefano unter ebenfalls unwürdigen Umständen Real, ein Tag, den der spanische Schriftsteller Javier Marias als den „schlimmsten seines Lebens“ in Erinnerung behielt. Nach zwei Jahren bei Espanyol Barcelona, insgesamt 565 Spielen und 466 Toren in der Pimera Division beendete er seine aktive Laufbahn. „In Vollendung praktiziert,“ hat er einmal gesagt, „ist Fußball eine Kunst – genau wie die Malerei.“ Ist es also verfehlt, ihn an Cruyff, Maradona, Zidane und all den anderen messen zu wollen? Weist sein Talent über den Fußball hinaus? Vielleicht muss er konkurrenzlos stehen, in einer weit gestaffelten Reihe mit Malern, Komponisten und Dichtern. Vielleicht müssen wir von seiner Karriere als einem Werk sprechen – auch wenn es unvollendet blieb.
Dieses Portrait erschient im Mai 2014 auf www.11freunde.de. Alfredo Di Stéfano verstarb am Montag, 07. Juli 2014, im Alter von 88 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts.