Heute vor 40 Jahren kam es beim Duell zwischen Dynamo Dresden und Bayern München zum Aufeinandertreffen der Klassenfeinde. Das Spiel im Europapokal der Landesmeister elektrisierte Spieler, Fans, Medien – und die Staatssicherheit.
Am 16. Oktober 1973 tritt in der SED-Bezirksleitung Dresden eine hochrangig besetzte Kommission zusammen: Der Chef der örtlichen Volkspolizei und der Stasi-Chef des Bezirks sind anwesend, eigens aus Berlin sind zudem die ZK-Abteilungsleiter für Sport und Transportwesen, der Vizepräsident des DDR-Sportbundes und der 2. Vorsitzende der Sportvereinigung Dynamo angereist. Die Leitung der Beratungen übernimmt Hans Modrow, der 1. Sekretär der Dresdner Bezirksleitung, höchstpersönlich. Hintergrund dieses hochrangigen Treffens ist ein Fußballspiel.
Erstmalig in der Europapokalhistorie soll es zu einem Aufeinandertreffen der Fußballmeister der DDR und der Bundesrepublik im Landesmeisterpokal kommen. Schon seit Jahren haben die Fußballanhänger in Ost und West insgeheim auf eine solche Auslosung gewartet. Die auf beiden Seiten mit Nationalspielern gespickten Teams werden bei zwei Play-off-Spielen am 24. Oktober in München und am 7. November 1973 in Dresden aufeinandertreffen.
Während die Fußballfans mit Vorfreude auf diese beiden Spiele schauen, herrscht in der Zentrale der SED-Bezirksleitung eine angespannte Stimmung. Der bundesdeutsche Fußball kann international in Anspruch nehmen, erheblich erfolgreicher als jener der DDR zu sein. Viele Fußballfans im Osten brennen deshalb auch für den bundesdeutschen Fußball, was der SED bitter aufstößt. Verbrüderung passt nicht in das Konzept einer eigenständigen sozialistischen Nation. Die Spielansetzung birgt also eine Menge Unwägbarkeiten. In der Besprechung hält sich der Dresdner MfS-Chef Markert auffällig zurück. Eigentlich soll das MfS in Zusammenarbeit mit der Volkspolizei die „Sicherheitsaufgaben“ rund um das Stadion beim Rückspiel übernehmen. Was die Mehrzahl der Teilnehmerrunde nicht weiß: Er hat längst von Stasi-Chef Erich Mielke die Order erhalten, geheimpolizeilich weiter „vorzustoßen“. Eine Unternehmung des MfS mit dem Namen „Aktion Vorstoß“ widmet sich der geheimdienstlichen Bearbeitung von Spielern und Fans.
Bis zum ersten Kräftemessen sind es nur noch wenige Tage. Zur Spielbeobachtung fahren Dresdens Trainer Walter Fritzsch und ein Begleiter nach Süddeutschland, um sich zwei Bundesliga-Partien der Bayern anzuschauen. Während Fritzsch mit seiner Super-8-Kamera Zweikampfverhalten und Laufwege der Bayern-Stars abfilmt, interessiert sich der mitreisende Kollege, VP-Hauptmann Dieter Fuchs, für andere Details. Er notiert in seinem Bericht für das MfS ausführlich die Einreisemodalitäten, den Hotelstandard und den Ablauf der Pressekonferenz. Man will schließlich auf alles vorbereitet sein. In der MfS-Logik gehören mögliche Störmanöver zu den Mitteln der „ideologischen Diversion“, die gezielt vom Westen benutzt werde, um die Leistung der Dresdner Elf negativ zu beeinflussen. Hierzu zählt auch das Wirken der westdeutschen Presse. Selbst ZDF-Moderator Harry Valerien gelingt es deshalb trotz beeindruckender Honorarangebote in Westgeld nicht, die beiden Dresdner ins Aktuelle Sportstudio zu locken. Strenge Abgrenzung vom Klassenfeind ist das Gebot der Stunde für die Ost-Kicker und ihre Funktionäre. Im Gegenzug reist auch Münchens Coach Udo Lattek zu zwei Spielen der Dresdner in die DDR. Nach einer Oberligapartie in Zwickau lässt er wenig Zweifel am Weiterkommen des FC Bayern aufkommen: „Zu Hause müssen wir ihnen unser Spiel aufzwingen.“
In der SED-Kommissionssitzung zur Vorbereitung der beiden Spiele wird ein neuralgischer Punkt diskutiert. Wie soll man auf Schlagzeilen der Springerpresse vom bevorstehenden „deutschen Endspiel“ reagieren? Die SED wittert gezielte Propaganda. „Dem Sport soll dabei die Aufgabe zugedacht werden, als Klammer zwischen den beiden deutschen Staaten, als einigendes Band zu dienen.“ Die SED will sich jedoch nicht auf eine Propagandaschlacht mit der Westpresse einlassen. Der München-Aufenthalt der Dynamo-Kicker soll möglichst wenig Diskussionsstoff für die schreibende Zunft bieten. Einen vom Münchner Oberbürgermeister geplanten Empfang sagen die Dynamo-Verantwortlichen auf Geheiß der Einheitspartei ab. Der sportliche Arbeitsbesuch in München soll so kurz wie möglich gehalten werden: Die Mannschaft reist einen Tag vorher an, nach Spielschluss geht es sofort zurück nach Dresden.
Kopfzerbrechen bereiten den SED-Genossen jedoch die Fans. Bereits bei den Olympischen Spielen in München 1972 hatte die DDR mit sogenannten Touristendelegationen staatstreues Verhalten im Ausland eingeübt. Nun werden 1000 ausgesuchte Schlachtenbummler nach München geschickt. In zwei Sonderzügen, die mit 16 operativ geschulten MfS-Bewachern und einer Vielzahl von inoffiziellen Mitarbeitern (IM) bestückt sind, reist der Dresdner Anhang erst am Spieltag an. Nach der Ankunft um 15 Uhr auf dem Münchner Hauptbahnhof nehmen die Gäste in der nur zehn Gehminuten entfernten „Mathäser Bierstadt“ ein kurzes bayrisches Mahl zu sich, um dann geschlossen zum Stadion zu fahren. Die Dynamo-Elf reist dagegen wie geplant schon einen Tag früher an und nimmt im Esso Motor Hotel Quartier. Ihre 25-köpfige Delegation ist ebenso mit Sicherheitsleuten des MfS und IM bestückt. Kurz nach der Ankunft geht es zu einem Stadtbummel durch München. Trotz des Presserummels werden die Spieler wirkungsvoll von Begleitpersonen der Stasi abgeschirmt. Auch die Verwandten von Trainer Fritzsch haben keine Chance, an den Dresdner Coach heranzukommen. Trotzdem entgehen den wachsamen MfS-Begleitern einige Details. Verteidiger Klaus Sammer gelingt es heimlich seine Tante aus dem Westen zu treffen, ein Kontakt, den er nachträglich meldet, um nicht belangt zu werden. Andere Spieler sind amüsiert, als sie auf ihrem Stadtbummel neugierig einen Sexshop betreten und dort beim Durchstöbern der Regale verblüfft den Dynamo-Mannschaftsarzt wiedersehen, der sich ebenso interessiert die heiße Ware ansieht.
Wenige Stunden später wird das denkwürdige Spiel angepfiffen. Mit über 50 000 Besuchern ist das Match nicht ganz ausverkauft. Obwohl die Münchner „Abendzeitung“ mit der Schlagzeile „Bayern heute ohne Gnade“ den Dresdner Dynamos einen heißen Abend prophezeit, überraschen anfangs nur die Dresdner mit Spielstärke, die Bayern um ihren Kapitän Franz Beckenbauer offenbaren dagegen unerwartete Schwächen. Schon nach 13 Minuten steht es durch Rainer Sachse im Münchener Olympiastadion 1:0 für Dresden. Die verdutzten Bayern-Stars drehen nun auf. Aus abseitsverdächtiger Position gelingt Wilhelm Hoffmann das 1:1, nach einer halben Stunde scheint der Favorit für klare Verhältnisse zu sorgen, als Bernd Dürnberger auf 2:1 erhöht. Dresden kennt jedoch keinen Respekt vor den großen Namen. Schon kurze Zeit später gelingt der Ausgleich. Wieder hat Sachse für die Dynamo-Elf getroffen. In der 42. Minute sind die Dresdner Fußballtouristen dann vollends aus dem Häuschen. Gert Heidler hat soeben das 3:2 für Dynamo erzielt. Bei den 50 000 Münchner Fans macht sich Katastrophenstimmung breit. Die Bayern haben die Dresdner unterschätzt. Katsche Schwarzenbeck resümiert später: „Dresden kannten wir nicht und schlussfolgerten im Unterbewusstsein: Die können nicht gut sein.“ Bayern-Manager Robert Schwan hatte sogar getönt: „Die Dynamo-Elf ist kein Gegner. Wenn wir durch sie rausfliegen, wandere ich in die DDR aus.“ Erst weit nach der Halbzeit werden die Bayern erlöst. In der 71. Minute gelingt Franz „Bulle“ Roth nach einem katastrophalen Fehlpass von Dynamo-Kapitän Frank Ganzera der 3:3‑Ausgleich. Und sieben Minuten vor Schluss fälscht Ganzera noch unglücklich einen Schuss von Gerd Müller ab. Die Münchner gewinnen noch mit 4:3.
Nach dem Spiel ist der Respekt vor Dynamo Dresden wiederhergestellt. Trainer Lattek muss der Presse erklären, warum sein 4:1‑Wunschergebnis nicht gelang: „In Zwickau spielten die Dresdner wie Ackergäule, hier jedoch spritzig wie Leichtathleten. Das ist eine echte Spitzenmannschaft nach westlichem Stil.“ Dresdens Trainer Fritzsch entschuldigt die Niederlage mit mangelnder Konzentration in der Schlussphase. Die Ausgangsposition kann jedoch für die Dresdner nicht besser sein. Drei Auswärtstore, schon ein 1:0 würde Dynamo zu Hause gegen die Bayern zum Weiterkommen reichen. Während die Dresdner Spieler und Schlachtenbummler um Mitternacht hoffnungsfroh den Heimweg antreten, bleibt in München ein nachdenklicher FC Bayern zurück, der nun um das sicher geglaubte Weiterkommen bangt.
In Dresden tritt wenige Tage vor dem Rückspiel erneut jene Kommission in der SED-Bezirksleitung zusammen, um beim Rückspiel nicht nur dem FC Bayern, sondern auch dem Risikofaktor „negativ-dekadenter“ Fans in Dresden Herr zu werden. Sympathisierende Menschenaufläufe vor Hotels und Trainingsplätzen sollen den gezückten Kameras der westdeutschen Fotografen nicht geboten werden. Für den 40-köpfigen Bayern-Tross ist eine Unterbringung im Interhotel „Newa“ geplant. Dieses Hotel bietet der SED ein erprobtes Sicherheitsmanagement. Die Kommissionsmitglieder beschließen, die Empfangshalle und die Hotelrestaurants mit reichlich Sicherheitspersonal zu besetzen, um „keine Ansammlung von Reportern aus der BRD und Dresdner Bürgern zuzulassen“. Gleiches gilt auch für die Straßenzüge um das Hotel.
Allerdings fehlt von der Bayern-Mannschaft am geplanten Anreisetag jede Spur. Nur Bayern-Präsident Wilhelm Neudecker und Nationaltrainer Helmut Schön checken im Interhotel „Newa“ ein. Die etwa 400 jugendlichen Fußballfans aus Sachsen warten vergeblich auf die Bayern-Stars. Unerwartet hat der Mannschaftsbus des FC Bayern seine Fahrt kurz vor der DDR-Grenze im bayrischen Hof gestoppt und dort über Nacht Quartier genommen. Hintergrund ist eine Warnung von Uli Hoeneß, dass beim UEFA-Jugendturnier in Leipzig 1969 einige Westmannschaften mit Durchfallerkrankungen gehandicapt aufgelaufen seien. „Es gab die Vermutung, dass was ins Essen getan wurde, die Zimmer, auch Besprechungsräume, abgehört wurden“, so Hoeneß später. Die offizielle Begründung für die Übernachtung in Hof lautet: „Akklimatisationsprobleme der Mannschaft, die sich aus dem Höhenunterschied zwischen München (ca. 500 m) und Dresden (106 m) ergeben.“ Wegen dieser durchsichtigen Ausrede werden die Bayern von Ost- und Westpresse heftig als „überheblich“ angegriffen.
Dass ihre Vorsicht jedoch nicht unbegründet ist, stellt sich erst nachträglich heraus. Denn zwar hat das MfS nicht das Essen manipuliert, aber den Hotelsalon „Pushkin“, wo die Bayern ihre abschließende Mannschaftsbesprechung abhalten, wohlweislich verwanzt. Die Stasi hört mit, und ein Motorradbote macht sich schnellstens zur ebenfalls abgehaltenen Teamsitzung der Dresdner auf den Weg, um Trainer Fritzsch brühwarm die Mannschaftsaufstellung der Münchner Bayern zu übergeben.
Am Spieltag reisen auch die etwa 1600 Bayern-Fans an. Schon hinter der DDR-Grenze werden sie mit Transparenten wie „Sachsen grüßt Bayern“ empfangen. Solche Verbrüderungen sind der Stasi ein Dorn im Auge. Nach der Ankunft werden in verschiedenen Stadtgebieten sogenannte „Agit-Gruppen“ losgelassen, um Kontakte mit DDR-Bürgern zu vereiteln. Auch beim Stadion hat die SED-Kommission für eine „hermetische Abriegelung“ durch die Volkspolizei und das MfS gesorgt. An das Stadion kommen nur diejenigen heran, die im Besitz einer Eintrittskarte sind. Auf den Zuschauertraversen ist die Stasi ebenso präsent. Das MfS hat auch bei der Kartenverteilung die Finger im Spiel. 8500 Dauerkartenbesitzer und 7000 „politisch zuverlässige Bürger“ aus Dresdner Betrieben erhalten Tickets zugesichert. In den freien Verkauf gelangen lediglich weitere 7500 Karten, der Rest ist für Sicherheitskräfte und den Partei- und Staatsapparat reserviert.
Trotzdem ist am Spieltag die Stimmung im ausverkauften Dynamo-Stadion prächtig. Die Dresdner machen wie schon in München ein sehr gutes Spiel. Dieses Mal ist jedoch der Favorit auf der Hut. Die Münchner Bayern ziehen schon nach zwölf Minuten mit 2:0 davon. Die Dresdner Elf agiert gerade in den ersten Minuten zu offensiv und wird von den Bayern zweimal blitzschnell ausgekontert. Dynamo-Verteidiger Eduard Geyer macht dabei nicht die beste Figur. Trainer Fritzschs „abwehrtreuester“ Verteidiger kann dem schnellen Uli Hoeneß zweimal nicht folgen, der dann unbedrängt einnetzt. Die Dresdner lassen sich jedoch nicht beeindrucken. Angetrieben von den Rängen holen sie durch Tore von Siegmar Wätzlich und Hartmut Schade wieder auf. Als Reinhard Häfner gar auf 3:2 in der zweiten Halbzeit erhöht, beginnen die Dresdner Fans vom Weiterkommen zu träumen. Der Jubel währt allerdings nicht lange. „Bomber“ Gerd Müller bugsiert den Ball schon zwei Minuten später aus Nahdistanz über die Dresdner Torlinie. 3:3! Nach 90 spannenden Minuten bleibt es bei diesem Spielstand. Der Münchner Favorit rettet das Unentschieden über die Zeit und ist mit einem blauen Auge davon gekommen. Trotz der sportlichen Niederlage verzeichnet die DDR-Seite einen Triumph. Der menschliche Kontakt zwischen Spielern und Fans ist mit der „Abgrenzungsstrategie“ der SED und der Kontrolle des MfS erfolgreich verhindert worden. Nach Abpfiff werden weder Hände geschüttelt noch Trikots getauscht. In München wie in Dresden reisen Mannschaft und Anhänger schon nach wenigen Stunden wieder ab, ohne miteinander ins Gespräch zu kommen. Die SED-Kommission in Dresden hat wirksam gearbeitet.