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Am Ende der Straße kann man es hören. Das Lied, das vor Schmalz trieft, wenn Gerry Marsden es alleine träl­lert, das aber als Fan­choral die gefühls­käl­testen Männer tief im Herzen berührt. Hier in der men­schen­leeren Pul­ford Street ist Gerry Marsden auf sich gestellt. When you walk through a storm, hold your head high and don’t be afraid of the dark“, fleht der Sänger von den Pace­ma­kers mit sanfter Stimme.



Sie kommt aus dem Fenster eines dieser Rei­hen­häus­chen, von denen es in Liver­pool Tau­sende gibt. Hier im Stadt­teil Anfield sind viele der Ter­raced Houses ver­waist. Bei­nahe jede zweite Ein­gangstür ist mit einer Metall­platte ver­bar­ri­ka­diert. In den Vor­gärten sam­melt sich der Müll, Glas­scherben und Sta­chel­draht sichern Hin­ter­hof­mauern. Kinder bet­teln um ein paar Pence.

Das letzte Back­stein­haus in der Pul­ford Street ist noch bewohnt. Ein Junge mit blonden, kurz gescho­renen Haaren steht auf der Ein­gangs­treppe. Er hält einen Ball mit abge­wetztem Kunst­leder unterm Arm. Der Junge lächelt, als er meinen roten Schal sieht. Ich lächle zurück. Ein paar Meter weiter biege ich um die Ecke und höre noch, wie Gerry Marsden das finale You’ll never walk alone“ aus den Lungen presst.

Es ist kurz vor drei Uhr. Noch eine Stunde bis zum Anpfiff. FC Liver­pool gegen den FC Arsenal. Gareth, Volker, Michael, Carlo und Philipp warten vor der Bron­ze­statue von Bill Shankly. Jener Trai­ner­le­gende, die Anfang der 60er Jahre im Sta­di­on­tunnel ein gut sicht­bares rotes Schild hat anbringen lassen. This is Anfield“ steht darauf. Ein Hin­weis für die geg­ne­ri­schen Spieler, dass sie nicht in irgend­einem Sta­dion spielen.





Die Ver­treter von Deutsch­lands erstem und ein­zigem offi­ziell aner­kannten FC Liver­pool Fan­club aus Kempten sind wieder fit. Eine inten­sive Nacht liegt hinter ihnen. Volker, der Liver­pool-Neu­ling, kann es immer noch nicht fassen, was er ges­tern abend in der Mathew Street, dem Epi­zen­trum, gesehen hat. Das war ein ganz nor­maler Sams­tag­abend hier“, ver­sucht ihm Gareth, der Club-Prä­si­dent, der fünf Jahre an der Mer­sey­side lebte, wieder und wieder zu erklären.

Schon von weitem war laute Musik zu hören gewesen. Dann wurden es immer mehr Men­schen in den Straßen. Eine ein­zige große Par­ty­zone, die Liver­pooler Innen­stadt. Die Stim­mung wirkte hem­mungslos auf die Gäste aus dem Allgäu. Mäd­chen und Frauen drängten sich in viel zu engen und für die Jah­res­zeit viel zu kurzen Röcken und Blusen durch die Gassen. Manche als Häs­chen, andere als Bien­chen ver­kleidet.

Für Gareth und mich endete kurz vor drei Uhr die Knei­pen­tour. In Flanagan’s Apple, einem Pub mit Live­musik im Keller. Gareth, der in diesem Jahr 58 wird, erzählte beim letzten Guin­ness, dass er der Arbeit wegen nach Deutsch­land gekommen war. 27 Jahre ist das jetzt her. Nein, sagte der gebür­tige Waliser, als er sein leeres Bier­glas am Tresen abstellte, er fühle sich im Allgäu wirk­lich wohl. Doch ab und zu brauche ich die Liver­pool-Atmo­sphäre. Die lachenden Gesichter, den Humor der Leute hier, die Pubs, das Guin­ness und natür­lich den Fuß­ball.“ Beim Ver­lassen von Flanagan’s Apple deu­tete Gareth auf die Inschrift gleich neben dem Ein­gang. Liver­pool is the pool of life“, steht da. Der Schweizer Psy­cho­loge Carl Gustav Jung hat das einmal gesagt.

Liver­pool, was so viel wie die schlam­mige Bucht“ heißt, das war bis in die 20er Jahre des ver­gan­genen Jahr­hun­derts Haupt­um­schlag­platz für Güter aus den Län­dern des Com­mon­wealth, eine blü­hende Hafen­stadt, eine der reichsten im Empire. Anfang der 60er Jahre ging es wirt­schaft­lich end­gültig bergab, mit dem Fuß­ball aber dank Shanklys sozia­lis­ti­scher Spiel­phi­lo­so­phie, die aufs Kol­lektiv setzte, stetig bergauf. Seitdem denkt man an die Beatles und Arbeits­lo­sig­keit, wenn der Name Liver­pool fällt. Und natür­lich an die Anfield Road.

Royal Liver Buil­ding, Port of Liver­pool Buil­ding und Cunard Buil­dung – The Three Graces“ am Hafen sind die statt­li­chen Sym­bole des längst ver­gan­genen Wohl­stands. Die Fas­saden der drei Gra­zien zwi­schen St. Nicholas Place und Mann Island strahlen heute noch in hellem Glanze. Vie­ler­orts haben die schlechten Zeiten dagegen ihre Spuren hin­ter­lassen. Her­un­ter­ge­kom­mene Viertel mit ein­ge­schla­genen Fens­ter­scheiben, Indus­trie­bra­chen und schmud­de­lige Hin­ter­höfe. Und der Mersey schlägt als braune Brühe träge an die Kai­mauer. Europas Kul­tur­haupt­stadt 2008 gehört zwei­fellos nicht zu den urbanen Schön­heiten des Kon­ti­nents. Dafür sind die Scou­sers, wie die Liver­pooler sich selber nennen, umso herz­li­cher – auch im Umgang mit deut­schen Gästen.

Volker, Carlo, Philipp und Michael ver­zichten auf bacon and eggs“


Mrs. Finn ist da keine Aus­nahme. Nach der kurzen Nacht sitzen nur Gareth und ich im Hotel Bel­ve­dere am Früh­stücks­tisch. Bei Volker, Carlo, Philipp und Michael ist es richtig spät geworden. Sie ver­zichten auf bacon and eggs“ von Mrs. Finn, der Zim­mer­wirtin, die Liver­pool-Fans bedient, obwohl ihr Herz für den Lokal­ri­valen FC Everton, die Blauen, schlägt.

In dieser Stadt gibt es scheinbar nur ein Thema: Fuß­ball. Egal ob Taxi­fahrer, Ober im Restau­rant oder Mrs. Finn – alle reden in diesem schwer ver­ständ­li­chen Scouse-Dia­lekt über das nächste Match oder zur Abwechs­lung über das vom ver­gan­genen Wochen­ende. In jedem Pub hängt ein Fern­seher, in dem per­ma­nent der Ball rollt und wenn auch nur bei einem Match der 3. Liga.

Als Mrs. Finn an diesem Morgen neuen Tee bringt, zieht sie über den Schieds­richter her, der beim Mer­sey­side-Derby den blauen Under­dogs einen klaren Elfer ver­wei­gert hatte. Eine ihrer Sil­ber­lo­cken hängt über der Brille, und die tür­kis­far­bene Strick­weste müsste mal wieder gewa­schen werden. Mrs. Finn wirkt wie wir an diesem Morgen ein wenig deran­giert.
Hotel Bel­ve­dere – der Name ist trü­ge­risch. Das Bel­ve­dere ist eine Kaschemme mit muf­figen Tep­pich­böden, zugigen Fens­tern, durch­ge­le­genen Matratzen und Eta­genklo. Den­noch gibt es Gründe, die für die Bed and Breakfast“-Pension in der Mount Plea­sant Street spre­chen: Der kurze Fußweg ins Zen­trum, der ver­gleichs­weise güns­tige Preis und die lie­bens­werte Art von Mrs. Finn.

An einem Heim­spiel­wo­chen­ende des FC Liver­pool eine Unter­kunft mit den Merk­malen zen­trumsnah und erschwing­lich zu finden, erfor­dert viel Zeit und noch mehr Glück. Nor­weger, Dänen, Deut­sche, Spa­nier, Chi­nesen und Japaner fallen dann in die Stadt ein. Sie alle kommen nicht wegen der beein­dru­ckenden angli­ka­ni­schen Liver­pool Cathe­dral, der Albert Docks, des Empire Theatre oder der sehens­werten Museen. Sie wollen die Reds in der Kult­stätte des eng­li­schen Fuß­balls erleben.

Es ist Sonntag, Heim­spieltag und die Fuß­gän­ger­zone nach den nächt­li­chen Exzessen wieder sauber und fast men­schen­leer. Ein freund­lich grin­sender Mann steht hinter einem roten Pult und preist mit dem immer glei­chen – aber nicht zu ver­ste­henden – Sprüch­lein Pro­gramm­hefte für das heu­tige Match an. Ein harter Job, weil gleich meh­rere Press­luft­hämmer die sonn­täg­liche Ruhe stören. Es gibt noch viel zu tun in Liver­pool.

Michael Jeschke, eine Art Mr. Wolf des Fuß­balls, hat andere Sorgen. Der Mann für scheinbar aus­sichts­lose Situa­tionen sitzt in einem Leder­sessel im Holiday Inn, der etwas fei­neren Alter­na­tive zum Bel­ve­dere. Er erzählt vom Anfield-Wahn­sinn“ und all den Dramen, die er schon erlebt hat. Zum Bei­spiel wenn Frauen ihren Män­nern zum Geburtstag eine richtig große Freude machen wollen, den Flug nach Liver­pool und das Hotel­zimmer schon gebucht haben und bei ihm anrufen, weil jetzt nur noch das Fuß­ball-Ticket fehlt. Als sei das das kleinste Pro­blem.



Dabei gelten für Anfield-Karten eigene Gesetze, erklärt Jeschke, der sich mit seinem Rei­se­büro Ticket & Travel“ auf Fuß­ball-Reisen nach Eng­land spe­zia­li­siert hat. Die Tickets für Spit­zen­spiele werden mitt­ler­weile für 450 Euro das Stück gehan­delt. Manchmal, sagt Jeschke, habe er fast schon ein schlechtes Gewissen, wenn er einem Kunden seinen Traum vom ulti­ma­tiven Fuß­ball­er­lebnis erfülle. Bei Leuten, die sich das Ganze vom Mund absparen müssen.“

Rund 750 Euro kosten Flug, Hotel-Über­nach­tung und das Anfield-Ticket. Ein Preis, bei dem Ralf Solte und seine beiden Freunde nicht lange über­legen mussten. Ein Spiel an der Anfield Road war schon immer mein Traum“, erklärt der Kauf­mann und FC Bayern-Fan, wäh­rend Jeschke die Tickets ver­teilt. Aber ich dachte immer, da hat man keine Chance.“ Tat­säch­lich beträgt die War­te­zeit für eine Dau­er­karte knapp 13 Jahre.
Das Sta­dion an der Anfield Road ist ein Mythos, ein Ort für Fuß­ball­ro­man­tiker, eine Arena ohne archi­tek­to­ni­schen Schnick­schnack, ein Relikt aus jenen Tagen, als Fuß­ball noch ein Pro­le­ten­sport war, als die Rei­chen in der Oper oder im Theater und nicht im Sta­dion Zer­streuung suchten. Anfield Road – der Name steht für Purismus und gren­zen­lose Hin­gabe. Hier haben in den 60er Jahren erst­mals Fuß­ball­an­hänger wäh­rend eines Spiels gesungen. Der berühmte Anfield Roar“ hat schon die abge­brüh­testen Profis nervös gemacht und wie Stümper aus­sehen lassen.

Dabei wirkt die Arena von außen alles andere als atem­be­rau­bend. Sie erin­nert an eine über­di­men­sio­nale Well­blech­kiste – grau und in die Jahre gekommen. Sie passt sich seinem Umfeld, einer trost­losen Arbei­ter­sied­lung, per­fekt an. Immer wieder ist an der Schachtel her­um­ge­bas­telt worden. Der­zeit passen 44000 Zuschauer in den Funk­ti­onsbau – viel zu wenig für einen euro­päi­schen Top­verein. Eine moderne Arena mit 60.000 Sitz­plätzen ist in Pla­nung. 2011 sollen die Reds in den Stanley Park umziehen. Die alte Heimat der Reds wird dann einem neuen Hotel wei­chen – ein Grund mehr, wenigs­tens einmal noch Anfield-Atmo­sphäre in sich auf­zu­saugen.

Du muss­test auf­passen, dass dich nie­mand anpisst“

Früher“, erzählt Gareth, als wir uns durch den schmalen Durch­gang ins Sta­di­on­in­nere quet­schen, haben die Fans schon eine Stunde vor dem Anpfiff gesungen.“ Am lau­testen auf dem Kop, der einst­mals berühm­testen Steh­platz­tri­büne der Welt. Ein Men­schen­meer, das immer in Bewe­gung war, einer tosenden Welle gleich. Hatte sie einen erst einmal geschluckt, gab es bis zum Schluss­pfiff kein Ent­rinnen mehr. Auch nicht in der größten Not. Du muss­test auf­passen, dass dich nie­mand anpisst“, erklärt Gareth.

Die ganz harten Zeiten sind vorbei, seitdem der Kop 1994 aus Sicher­heits­gründen in eine reine Sitz­platz­tri­büne umge­wan­delt wurde. Vieles hat sich seitdem geän­dert. Auch an der Anfield Road gibt es heute Busi­ness-Logen. Und Heu­schre­cken, sprich ame­ri­ka­ni­sche Inves­toren als Club-Eigen­tümer, die das Fuß­ball­volk am liebsten ver­jagen würde, um den FC Liver­pool selbst zu über­nehmen. Und wie in allen anderen Fuß­ball­arenen dieser Welt über­tönt inzwi­schen an der Anfield Road lautes Werbe- und Pop-Gedudel die Fan­ge­sänge vor dem Spiel. Eine Unsitte. Die Sup­porters singen sich des­halb in den Pubs warm. Zum Bei­spiel im Albert“, der Kult­kneipe gleich neben dem Kop, wo auch eine CD auf­ge­nommen worden ist – The Twelfth Man“, so der Titel, mit 56 Songs aus rauen Kehlen und Glä­ser­klirren im Hin­ter­grund. Eine schwere Kost.
Doch das Anfield-Publikum hat auch noch auf den Rängen seine großen Auf­tritte. Den emo­tio­nalsten natür­lich kurz vor dem Anpfiff, wenn die Spieler aus den Kabinen kommen. You’ll never walk alone“ schallt es aus mehr als 40.000 Kehlen durchs Sta­dion. Da ist es: das Anfield-Fee­ling, die Gän­se­hautat­mo­sphäre, deret­wegen alle hierher kommen, um sie selber zu schaffen.

Vom Anstoß weg steht der Kop. Die roten Sitz­schalen werden die meiste Zeit hoch­ge­klappt bleiben. Es wird gesungen und gebrüllt, gelitten und geju­belt. Fäuste werden gereckt und das pas­sende Lied zu jedem Liver­pool-Spieler into­niert. Am meisten beein­druckt aber nicht einmal der Lärm­pegel, der anderswo sogar höher sein mag, son­dern der kol­lek­tive Auf­schrei, bei einem Ball­ge­winn der Reds. Oder das syn­chrone Stöhnen bei Feh­lern der eigenen Mann­schaft, die fol­gen­schwer sein könnten. Das Anfield-Publikum kann das Spiel lesen. Man fühlt sich unter lauter Experten, für die Fuß­ball mehr als nur ein biss­chen Unter­hal­tung ist. Das macht den Unter­schied aus.

Als Kapitän Steven Ger­rard in der 7. Spiel­mi­nute einen Frei­stoß zum 1:0 in die Maschen häm­mert, singt der Kop Que Ger­rard, Ger­rard, what ever will be, will be“. In der 80. Minute macht Cesc Fàb­regas für Arsenal den ver­dienten Aus­gleich. Für kurze Zeit wird es still, ehe der Anfield Roar“ bei jeder Grät­sche, jedem gelun­genen Pass der Roten wieder auf­brandet.
Später im Fernseh-Inter­view strahlt Liver­pools Trainer Rafael Benítez ob des Unent­schie­dens mehr Zufrie­den­heit aus als die Gäste aus dem Allgäu. Letz­tere stehen im King Harry“, einem stil­echten Fuß­ball-Pub mit zwei Groß­bild­schirmen als domi­nie­rende Ein­rich­tungs­ge­gen­stände. Tische gibt es nur wenige, dafür umso mehr Fahnen, Wimpel und andere Fuß­ball-Devo­tio­na­lien. Carlo nippt an seinem Guin­ness und meint: Ein Punkt ist für uns eigent­lich zu wenig.“

Am nächsten Morgen sitze ich wieder mit Gareth, aber ohne Volker, Carlo, Philipp und Michael am Früh­stücks­tisch. Bei den Jungs ist es auch diesmal richtig spät geworden. Als Mrs. Finn scram­bled eggs“ bringt, fragt sie uns, ob wir denn ein gutes Spiel gesehen haben. Auf jeden Fall“, lautet unsere Ant­wort. In der Times“ steht, dass es ein Fünf-Sterne-Spiel war. Welch ein Glück!

Als wir später im Taxi Rich­tung Flug­hafen sitzen und im Nie­sel­regen durch das graue Liver­pool fahren, frage ich Gareth, ob er denn schon als Kind Liver­pool-Fan war. Nein“, gesteht er und erzählt mir, wie er mit Anfang 20 an den Mersey zog und dass er bis dahin begeis­terter Rugby-Spieler war. Aber Liver­pool ist eine absolut fuß­ball­ver­rückte Stadt. Da musst du ins Fuß­ball­sta­dion gehen. Die Frage ist nur: bist du ein Roter oder ein Blauer? Ich habe mich für Rot ent­schieden.“