1950 verlor England, Mutterland des Fußballs, bei seiner WM-Premiere gegen eine US-Amateurauswahl mit 0:1. Torschütze damals: Der Haitianer Joseph Gaetjens. Ein Student und Tellerwäscher, der nach New York emigriert war.
Sein Tor hatte er gar nicht mehr gesehen, nicht mal das verdutzte Gesicht von Englands Keeper Bert Williams. Joe Gaetjens lag nach seinem Kopfball mit dem Gesicht im Rasen und hörte nur noch den Jubel der 25.000 im Estadio Independencia von Belo Horizonte.
Es lief die 37. Minute, die USA war bis dahin nicht einmal gefährlich vor das Tor der Engländer gekommen, und nun hatte Walter Bahr einen Ball mit dem Mute der Verzweiflung von halbrechts diagonal in den Strafraum gezimmert. Williams tauchte ab, doch Gaetjens hechtete in die Flugbahn. Einige Zeitzeugen sagen heute, sein Ohr hätte den Ball ins Tor gelenkt, andere behaupten, Gaetjens sei vier Meter durch die Luft geflogen und hätte dann mit dem Hinterkopf versenkt. Mythen des Fußballs.
Eigentlich war das US-Team bei der WM 1950 gegen England in der Hoffnung angetreten, sich nicht vollends zu blamieren. „Vielleicht kann ich sie bei vier oder fünf Toren halten“, hatte Torwart Frank Borghi noch vor dem Spiel gesagt. Doch wer wollte auch ernsthaft an etwas anderes glauben? Kein Amerikaner spielte professionell Fußball, der Haitianer Gaetjens war erst kurz zuvor nach New York emigriert, um an der Columbia Universität Rechnungswesen zu studieren. Nebenbei arbeitete er in einem spanischen Restaurant in Harlem als Tellerwäscher. Er wurde vom Verband nominiert, weil er vorgab, in absehbarer Zeit die US-amerikanische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Die Fifa bekam erst im November 1950 Wind von der Sache.
Ein Team aus Lehrern, Studenten und einem Leichenwagenfahrer
Für die WM wurde Gaetjens erst wenige Tage vor der Abreise eingeladen, einige Spieler hatten kurzfristig abgesagt, weil sie von ihren Arbeitgebern keinen Urlaub bekamen. Sowieso diente Fußball den meisten mehr als Feierabendhobby denn als Lebensunterhalt. Walter Bahr war eigentlich Sportlehrer, Borghi Leichenwagenfahrer. Andere arbeiteten als Postboten oder Beamte. Zeit, um sich einzuspielen geschweige denn sich kennenzulernen, blieb kaum.
Doch dafür warteten ja die Abende in Rio. Die Nacht vor dem Spiel gegen den scheinbar übermächtigen Gegner aus England sollen die US-Boys an der Copacabana durchgezecht haben. „Wir waren in mindestens zwölf Bars“, wird Gaetjens in Geoffrey Douglas‘ Buch „The Game Of Their Lives“ zitiert. Zum Spiel kamen sie mit Cowboyhüten und Zigarren im Mundwinkel. Die Buchmacher setzten die Quote fest – 1:500.
„Ein Torwart von verwegenster Paradekunst“
Und zunächst war es tatsächlich das erwartete Spiel. Bert Williams erinnerte sich später: „Die Amerikaner hatten im ganzen Spiel sechs Ballkontakte. Sechs! Einer davon erwischte mich auf dem falschen Fuß.“ Auf der anderen Seite notierten Statistiker schon nach zwölf Minuten sechs große Torchancen für England. Doch US-Keeper Borghi vereitelte sie alle – und wenn er doch mal zu spät kam, halfen die Holzlatten. Englands Elf um den späteren Weltmeistertrainer Alf Ramsey erstarrte spätestens nach Gaetjens Tor in Selbstherrlichkeit. Es war das erste WM-Turnier der „Three Lions“, die vorigen Turniere hatte der Verband abgesagt. Die vermeintlichen Amateurturniere von 1930 bis 1938 waren des Mutterlandes nicht würdig.
Nicht nur wegen der Niederlage, sondern vornehmlich ob seiner arroganten Spielweise schüttete die Presse ihre Kübel Spott auf dem englischne Team aus. Das deutsche „Sport-Magazin“ etwa verweigerte in der Ausgabe vom 5. Juli 1950 einen Spielbericht, entschied sich dann eine Ausgabe später doch, wenigstens die Gewinner zu loben. Da war vom „größten Fußball-Kopfstand aller Zeiten“ zu lesen oder einem „Torwart von kühnster und verwegenster Paradekunst“.
In England indes glaubte die Presse an einen Übermittlungsfehler des Telegraphen der Nachrichtenagentur Reuter. Sie druckten das Ergebnis 10:1.
Den Zeitungen in den USA war der Überraschungserfolg seltsam egal. Einige Journalisten schrieben auf Basis der Agenturmeldungen über einen Sieg, der „glücklich“ oder „zufällig“ zustande gekommen sei. Der Bericht in der „New York Times“ strotzte zudem nur so vor Fehlern: Als Torschütze führte man Ed Souza an. Dabei hätte es ein mediales Lauffeuer werden können, denn ein Journalist der „St. Louis Post“ gastierte während des Spiels in Belo Horizonte, er stand sogar in Kontakt mit Spielern und Trainer. Allein, er hatte schlichtweg keine Lust einen Bericht über die Sportart Fußball zu verfassen.
Und so war auch der Empfang der Spieler in der Heimat alles andere als festlich. Am Flughafen wurde kein roter Teppich ausgelegt, keine Jubelamerikaner wedelten mit Fähnchen, keine Staatsmänner sonnten sich im Ruhm der Überraschungself von Belo Horizonte. In New York wartete die Ehefrau von Walter Bahr. „Eine andere Frau war auch noch da“, so Bahr, „ich kannte sie aber nicht. Und sie kam nur, um meinem Mitspieler zu sagen, dass er zu spät sei.“
Joe Gaetjens wird Pressesprecher von Colgagte
Der Sieg gegen England öffnete dennoch einigen Spielern die Türen nach Europa. Ed McIlvenny ging zu Manchester United, Joe Maca zu Racing White, einem beglischen Drittligisten. Die große Karriere blieb ihnen wie auch Joe Gaetjens versagt. Nachdem der Held von Belo Horizonte sein Studium an den Nagel gehängt hatte, wechselte er zu Racing Sportclub Paris. Vier Spiele absolvierte er dort. Im Rahmen eines Tauschgeschäfts wurde er zum AC Troyens abgeschoben. 15 weitere Spiele und zwei magere Tore folgten.
Es wurde Zeit, in die Heimat zurückzukehren. Und schließlich gab es für ihn in Haiti den Empfang, den die Mannschaft schon im Sommer 1950 verdient gehabt hätte. Tausende von Menschen standen am Flughafen, Gaetjens wurde von Autos und jubelnden Fans durch Port-au-Prince eskortiert. Später fand er einen Job als Pressesprecher bei den Firmen Palmolive und Colgate, nebenher spielte er für L’Etoile Haitienne. Sein letztes Pflichtspiel machte er 1953 als 28-Jähriger für die Haitianische Nationalmannschaft.
In den Fängen von „Papa Doc“
Zehn Jahre später verlor sich seine Spur. Die politischen Aktivitäten in seiner Familie wurden Gaetjens zum Verhängnis. So hatten seine Brüder Fred und Jean-Pierre offen mit der haitianischen Opposition sympathisiert. Sie sollen in verschiedene Umsturzplanungen involviert gewesen seien. Zuviel für den 1957 an die Macht gekommenen Dikatator Francois „Papa Doc“ Duvalier, der schon nach einem missglückten Putschversuch im Jahr 1958 zahlreiche Regimegegner ermorden ließ oder ins Exil trieb.
Während einer „Säuberungswelle“ Anfang Juli 1964 sah die in Haiti verbliebene Familie Gaetjens keine Wahl, als in den Untergrund zu gehen. Am 7. Juli 1964 um 6 Uhr morgens gab sie ihre Wohnung auf. Einzig Joe Gaetjens, politisch völlig desinteressiert, sah keinen Anlass sich zu verstecken oder gar ins Ausland zu gehen. An Sportlern sei „Papa Doc“ nicht interessiert, glaubte er.
Am 7. Juli 1964 um 10 Uhr führte ihn die haitianischen Geheimpolizei Tonton Macoute mit einer Waffe am Kopf aus seiner Wohnung. Sie deportierten ihn in seinem eigenen Auto ins Gefängnis. Einen Tag später richteten sie ihn hin. Gaetjens war 40 Jahre alt geworden.