Lange galt Kevin Prince Boateng als Nitroglycerin-Kicker. Immer in Gefahr, in die Luft zu gehen. Beim AC Mailand lernte er, seine Explosivität in geordnete Bahnen zu lenken und ist nun auf dem besten Weg zum globalen Markenartikel.
Kevin Prince Boateng ist verknallt. Seine Finger dribbeln über die Tastatur eines elfenbeinfarbenen Smartphones. Jeder Buchstabe ein Nachweis für die Handlungsschnelligkeit des Hochbegabten. Digitale Doppelpässe mit der neuen Freundin Melissa Satta – einem Showgirl, wie sie hier in Mailand altmodisch sagen –, mit der er seit neun Monaten zusammen ist. Romantisches Tiki-Taka. In jeder Sprechpause, nach jedem Bissen Spaghetti Pomodoro, ein rascher, sehnsüchtiger Gruß. „Ti amo“ simst sich schneller als „Ich liebe dich“.
Lounge-Musik schallt durch den lauen Innenhof des „Hotel Bulgari“ im Herzen Mailands. Die Herberge gleicht einer Festung. Vor dem Eingang parken Geländefahrzeuge und Ferraris. Parkwächter in Anzügen nehmen Schlüssel entgegen. Latin Lover schlendern zum Dinner. Spitze Schuhe, helle Abendkleider, Damen mit Botox-Minen, ein begehbarer Humidor, Eichenholzverkleidung. Die Pasta ist zum Niederknien al dente. Nobles Understatement.
Boateng ruft einen Kellner heran und fragt nach Erfrischungstüchern mit Anti-Mückenstich-Tinktur. Hektisch reibt er sich die tätowierten Arme ein. Das verdammte Geschmeiß. Er tippt noch eine SMS. Sein Berater Roger Wittmann stellt fest, wie unhöflich es ist, wenn sein Klient im Gespräch ständig mit dem Handy rumfummelt. Boateng gibt sich leutselig, man müsse ihn doch verstehen: „Jungs, das ist Liebe.“
Mailand hat ihn verändert. Während in Deutschland der Ruf des „RAMBOateng“, des „Fußball-Rüpels“ wie mit Superkleber an ihm haftet, hat er sein Temperament in Italien kanalisiert. Das einstige „Ghetto-Kid aus dem Wedding“ („Stern“) hat deutlich an Konturen gewonnen. Bei Milan wird der Fußballstar gleichermaßen für deutsche Willenskraft, seinen afrikanischen Individualismus und südländische Verve geliebt. Boatengs mitunter exzentrischer Auftritt auf dem Rasen ist den Mailändern keineswegs suspekt, sondern wird von ihnen als Zeichen von Stärke interpretiert. Boateng ist hier kein böser Bube, sondern ein sympathischer Filou, der Milan – lange Zeit ein komfortables Altersteilzeitmodell für in die Jahre gekommene Topstars – nach seiner Ankunft im Sommer 2010 ein ordentliches Pfund Seele verpasst hat.
Er hat den Schneid, in einem Champions-League-Spiel den Ball in vollem Lauf mit der Hacke um einen Weltklasseverteidiger wie Eric Abidal herumzuspielen und dann mit einem Außenristtor den FC Barcelona wie eine Elf aus Schuljungen aussehen zu lassen. Er ballert Milan nach seiner Einwechslung zur Halbzeit gegen US Lecce in nur 14 Minuten mit einem Hattrick auf die Siegerstraße. Nebenbei singt er mit Falsettstimme einen Geburtstagsgruß für einen TV-Sender ein, begleitet von Thiago Silva und Alexandre Pato, die devot für ihn die Human Beatbox geben. Er verwandelt mit geschmeidigen Tanzschritten selbst Koordinationseinheiten im Training in eine feurige Samba. Und bei der Meisterfeier der Rossoneri 2011 wird aus Prince mal eben Michael Jackson, als Boateng im überfüllten San Siro dessen „Moonwalk“ aufführt.
Italienische Zeitungen beklagen traditionell, wie wenig aus dem Kader des AC Mailand an die Öffentlichkeit dringt, weil Berlusconis Medienkonzern bewusst das blitzsaubere Image seiner Kicker fördert. Doch Boateng ist der Gegenentwurf zum chemisch gereinigten Befehlsempfänger. In der Woche des Interviews ziert ein Paparazzi-Foto das Titelblatt des People-Magazins „VIP“, das ihn auf einer Yacht engumschlungen mit seiner neuen Gefährtin zeigt. Sie trägt einen Tanga-Bikini, er spannt die tätowierten Muskeln an.
Die Mitspieler beim AC Mailand nennen ihn „Popstar“, weil überall, wo er auftaucht, junge Frauen zu juchzen beginnen. Auch im Restaurant des „Hotel Bulgari“ kichern am Nebentisch ständig drei Damen. Sie können ihren Blick nicht loseisen von dem Fußballer mit dem Hipster-Iro und den Rehaugen. Und er liebt es, wie die Augen auf ihm ruhen. Den Trubel. Er sagt, an manchen Tagen tauche er sogar am Mailänder Dom auf, eigentlich eine No-go-Area für prominente Profifußballer. Es sei doch schön, wenn er Menschen mit einem Autogramm oder einem Foto den Tag versüßen könne. Sein Fahrer passt auf ihn auf. Wenn Leute zudringlich werden, geht er dazwischen. Es erinnert an Rapper-Rhetorik, an die Poesie des Zukurzgekommenen, wenn er sagt: „Ich wollte immer mehr als ein Fußballer sein. Ich wollte als Persönlichkeit wahrgenommen und respektiert werden.“
In der Sommerpause hat Coach Massimiliano Allegri ihm das prestigeträchtige Trikot mit der Nummer zehn ausgehändigt. Vor ihm trug es jahrelang der unzerstörbare Clarence Seedorf. Eine Milan-Legende, der einzige Spieler, der je mit drei Klubs die Champions League gewann. Ein unmissverständliches Zeichen: Boateng soll zukünftig den Ton angeben. Der Berlusconi-Klub hat im Sommer Thiago Silva und Zlatan Ibrahimovic für insgesamt 63 Millionen Euro verkauft, weil die Tochter des Mäzens neuerdings die Geschäfte bestimmt. Im Gegensatz zu ihrem Vater, der gerade mal wieder eine Rückkehr in die Politik plant, ist sie nicht bereit, weiterhin die Verluste des defizitären Vereins auszugleichen. Insider gehen davon aus, dass Milan im Jahr 80 Millionen Euro minus macht. Mit Mark van Bommel und Clarence Seedorf verschwanden weitere prägende Charaktere von der Gehaltsliste. Der AC Mailand braucht diese Frischzellenkur. Der große Hoffnungsträger in diesem risikoreichen Manöver ist nun der 25-jährige Kevin Prince Boateng.
Die Odyssee, zu der er im Sommer 2007 aufgebrochen war, ist zu Ende. Für 7,9 Millionen Euro war er damals von Hertha BSC zu Tottenham Hotspur verkauft worden. Der Beginn einer langen Reise durch die europäischen Topligen, die in vielen Punkten einem Selbstfindungstrip glich.
In Berlin war er stets ein Anführer gewesen. Er war gesegnet mit einem herausragenden Talent und verfügte über die fürs Profigeschäft nötige Robustheit – psychisch und physisch. Schon damals wurde deutlich, dass er den Status quo des Jungprofis über alle Maßen genoss und Bling-Bling ihn magisch anzog. Doch für seine Trainer war er ein freundlicher Junge, der pünktlich zur Arbeit kam und im Sinne seiner Kollegen den Job versah. Ein ungeschliffener Diamant.
In der legendären U 23 von Hertha BSC war KPB der Leader unter Spielern wie Ashkan Dejagah, Sejad Salihovic oder Patrick Ebert – obwohl die teilweise älter als er waren. Den Sprung zu den Profis schaffte er ansatzlos.
Bis dato hatte Boateng nie weiter gedacht, als mit Hertha in der Bundesliga zu reüssieren. Doch ein Konflikt mit Coach Falko Götz im Frühjahr 2007 führte zum Bruch mit dem Verein. Als der Trainer nach der Jugendarbeit des Klubs gefragt wurde, sagte Götz: „Kevin hat viele Geschwister, alle von anderen Vätern. Aber das ist kein Makel. Berlin ist eben multikulturell.“
Gemeinsam mit seinem Bruder Jerome stellte Boateng mit tief in die Stirn gezogener Baseballkappe den Übungsleiter in der Kabine. Doch sowohl Götz als auch der Verein zeigten sich unfähig, die sorgsam ausgebildeten Youngster in gebührender Form zu besänftigen. Herthas Kassen waren leer. Als das Angebot aus London kam, ergriff Manager Dieter Hoeneß die Gelegenheit. Er legte beiden Boatengs einen Wechsel nahe. Die Brüder, tief in ihrem Stolz getroffen, fackelten nicht lang und kehrten ihrem Ausbildungsverein den Rücken. Jerome ging zum HSV, Kevin Prince ins ferne London. Damals beschrieb er den Schritt als Flucht. Heute sagt er: „Mit mir wurde Geld gemacht, und man hat mich gedrängt, diesen Schritt zu gehen.“ Die Wahrheit liegt wohl irgendwo dazwischen.
Bei Tottenham eröffnete ihm Trainer Martin Jol nach der Vorbereitung, dass er nicht mit ihm plane. Boateng hatte keine Ahnung, was er mit der Ansage anfangen sollte. Er war es nicht gewohnt, vor vollendete Tatsachen gestellt zu werden. Er doch nicht, der Junge aus dem Wedding, dem Stadtteil, über den er selbst im Streetfighter-Duktus verkündet hatte: „Da wird man Drogendealer, Gangster oder Fußballer“. Er reagierte mit Trotz, weil er nicht verstand, dass der schrullige Niederländer ihn auf die Probe zu stellen versuchte – und begab sich 18 Monate in den Clinch mit seinem Ego.
Er verprasste Geld in Bars, kaufte Nobelkarossen – einmal sogar drei in einer Woche –, suchte sein Glück abseits des Fußballs. „Ich war schlicht und einfach unglücklich.“ Luxusgüter gaben ihm für Momente so etwas wie Halt und Geborgenheit. „Kurzzeitig war mir egal, dass ich auf der Tribüne saß, nicht bei den Profis auflief und mittwochs bei den Amateuren vor drei Leuten spielte. Doch nach vier Wochen war das mit den Autos langweilig und die Probleme des Alltags kamen zurück – mit voller Wucht.“ Seiner hochschwangeren Frau Jenny wurde es zu viel. Das junge Eheglück zerbrach. Sie verließ England und zog zurück nach Meerbusch ins Rheinland, wo sie bis heute mit dem gemeinsamen Sohn Jermaine lebt.
Erst als Boateng sich im Winter 2009 an Borussia Dortmund ausleihen ließ, schien er langsam zurück in die Spur zu finden. Jürgen Klopp gab ihm das Vertrauen, das er von Jol und dessen Nachfolger Harry Redknapp nie bekommen hatte. Obwohl er von 17 Spielen nur zehn absolvierte, oft sogar nur als Ergänzungsspieler, arbeitete er akribisch daran, langfristig vom BVB verpflichtet zu werden. Er spürte die Aufbruchstimmung, die Klopp in dem jungen Kader erzeugte. Ohne dass er es sich selbst eingestand, war es doch deutlich spürbar: Boateng hatte Heimweh nach Deutschland.
Doch der BVB verpasste die Qualifikation zur Europa League und konnte sich die Verpflichtung der Leihgabe nicht leisten. Schwerer noch wog, dass in dieser Phase verschiedene Ereignisse sein Bild in der Öffentlichkeit veränderten. Das Image des Weddinger Halbstarken verdichtete sich in den Medien zusehends zum Zerrbild eines Fußballchaoten, der wie Nitroglycerin ständig in Gefahr war zu explodieren: Für einen Tritt an den Kopf des Wolfsburgers Makoto Hasebe, der mit sieben Stichen genäht werden musste, wurde er vom Platz gestellt. Bei einem Besuch in Berlin wurde er bezichtigt, betrunken mit seinem Kumpel Patrick Ebert bei 13 Autos die Außenspiegel abgetreten zu haben. Im Trainingslager vor der U 21-Europameisterschaft kehrte er nachts von einem Discobesuch mit einstündiger Verspätung zurück. Juniorentrainer Horst Hrubesch, der ihn trotz vieler Zweifel beim Verband ins DFB-Team zurückgeholt hatte, schickte ihn nach Hause.
Boateng galt fortan als beratungsresistent, unberechenbar und schwererziehbar. Und als er am 15. Mai 2010 im FA-Cup-Finale als Spieler des FC Portsmouth Chelseas Michael Ballack das Innenband kaputttrat und dem „Capitano“ die WM-Teilnahme verbaute, war aus ihm endgültig Deutschlands Staatsfeind Nummer eins geworden.
Viele Profis wären an diesem Schlagzeilenmassaker zerbrochen. Aber die Karriere des Kevin Prince Boateng kennzeichnet abgesehen von zahlreichen Brüchen auch ein unbändiger Selbsterhaltungstrieb. Jürgen Klopp schwärmte einst, er sei auch deshalb so ein besonderer Spieler, weil er für jede Situation hundert Lösungsansätze und Ideen habe. Eine aussichtslose Lage fordert Boateng also erst heraus. Wie tief es ihn verletzte, dass seine Familie durch die Ballack-Causa in Mitleidenschaft gezogen und rassistisch beleidigt wurde, kann nur er allein ermessen. Dennoch hat seine gewundene Vita die Überzeugung reifen lassen, dass es immer weitergeht: „Natürlich bedrückt es mich, wenn mich Leute für einen Bescheuerten halten. Aber ich habe gelernt, die Dinge nicht zu sehr an mich heranzulassen. Es macht im Fußball den Unterschied aus, wie ein Spieler mit solchem Druck zurechtkommt.“
So wird der tragische Frühling 2010 auch zum Wendepunkt in Boatengs Karriere. In den Wochen des historischen Zusammenstoßes mit dem Kapitän der deutschen Nationalelf trifft er in London erstmals seinen neuen Berater Roger Wittmann. Die Saison 2009/10 als Spieler des FC Portsmouth ist ganz ordentlich für ihn gelaufen. Coach Paul Hart, ein bodenständiger Fußballlehrer, beordert ihn ins zentrale Mittelfeld und gestattet ihm alle Freiheiten. Vor dem Auflaufen flüstert er ihm ins Ohr: „Spiel, Junge, mach, was du willst! Nur bitte, bitte keine Rote Karte.“
Als Wittmann Boateng das erste Mal sieht, wundert er sich über dessen Leibesfülle. Er sagt: „Du siehst ja aus wie ich!“ Die fettreiche Ernährung in England und der nicht immer professionelle Lebenswandel tragen dazu bei, dass er bei einer Körpergröße von 1,85 Meter zeitweise über 90 Kilo wiegt. Wittmann verordnet ihm einen Personal Trainer. Er muss mehr tun, wenn er weiterkommen will. Frühere Berater haben sich den Mund fusslig geredet. Boateng war stets der Ansicht, er wisse selbst am besten, was gut für ihn ist.
Doch Roger Wittmann, Chef von Rogon Sportmanagement, einem globalen Unternehmen zur Vermittlung von Profis, trifft den richtigen Ton. Beim Interview wirken die beiden wie der seriöse Onkel und sein unsteter Neffe. Boateng sitzt ständig der Schalk im Nacken. Der Umgang zeugt von großer Wertschätzung, auch wenn Boateng jeden kleinen Rüffel ironisieren muss. Er fragt den Berater, ob es okay sei, wenn er nach der Pasta noch ein kleines Steak bestelle, und als Wittmann wegschaut, schnappt er sich dessen Weinglas und trinkt mehr oder weniger heimlich einen kleinen Schluck.
Die Gespräche mit dem neuen Berater bringen den Berliner zu der Erkenntnis, dass er in seiner Karriere genug Zeit verplempert hat. Wittmann benutzt den Begriff „Kapitalisieren“, wenn er über das Potential eines Spielers spricht. Zweifelsohne hat Boateng das Zeug zum Weltklassespieler, doch im Gegensatz zu seiner Reaktionsschnelligkeit auf dem Feld, fehlt es ihm im Leben bei der Umsetzung seiner Ansprüche offenbar öfter an Durchblick. Der Spieler hat das Gefühl, dass ihm zum ersten Mal jemand zuhört – und sich nicht scheut, ihm die ungeschminkte Wahrheit zu sagt.
Gerade am Anfang seiner Karriere sei er überfordert gewesen. „Ich war zwanzig, bekam einen Haufen Geld und die Leute sagten: mach mal!“ Niemand habe ihn darauf hingewiesen, dass ein Profi jeden Tag aufs Neue ans Limit gehen muss, wenn er Erfolg haben will. Früher sei er zufrieden gewesen, wenn er von zehn Spielen zwei gute gemacht habe und er sich ein dickes Auto leisten konnte. Es schwingt Boxer-Pathos mit, wenn er davon spricht, wie hart er inzwischen für seine gesellschaftliche Stellung schuftet. Dass die Italiener ihn für das lieben, was er ist: „Ein erfolgreicher Fußballer, der hart arbeitet und sich nichts zuschulden kommen lässt.“
Denkt er manchmal zurück an die kleine Wohnung im Wedding? Kann er sich vorstellen, auf den Luxus, der ihn jetzt umgibt, das Leben in der High Society zu verzichten? Es sind Fragen, die nicht in sein Weltbild passen. Profis denken progressiv: „Auf gar nichts will ich verzichten! Weil ich mir all das, was ich jetzt habe, hart erarbeitet habe und es auch mein gegenwärtiges Glück mitbestimmt. Warum sollte ich darauf verzichten?“
Als er im Sommer 2010 zum AC Mailand wechselt, hat er zwölf Kilo abgespeckt und sieht aus wie ein Modellathlet. Es ist der Schritt in ein neues Leben. Er schwört sich, dass alle Eskapaden nun der Vergangenheit angehören sollen. Die Welt soll den Fußballer Boateng endlich in ihr Herz schließen.
Sein Bruder George hat ihm mit auf den Weg gegeben: „Denk immer dran, du bist Berliner. Die sind wie Chamäleons, die können sich überall anpassen. In jeder Gesellschaft, jedem Verein, auf jeder Straße.“ Am Abend vor dem ersten Training betrachtet er stolz die Trainingskluft seines neuen Vereins. Nun ist er endlich angekommen in der Beletage des europäischen Fußballs. Gemeinsam mit seinem Berater hat er sich gut vorbereitet. Milan hat ihn als Back-up auf der Sechs eingekauft. Auf der Position erwarten ihn zwei erfahrene Kräfte mit einer langen Historie im Klub: Massimo Ambrosini und Gennaro Gattuso.
Als er, begleitet von zackigen „Jarrr“- und „Neinnn“-Rufen, dem Elementar-Deutsch seiner neuen Kollegen, auf den Trainingsplatz trottet und Andrea Pirlo ihn im Stile des Fußballweisen freundlich mit „Ausfahrrrt lllinks“ begrüßt, will Gattuso dem Neuankömmling gleich mal auf den Zahn fühlen. Im Trainingsspiel kommt es schon in den ersten Minuten zu kleinen Hakeleien. Doch Boateng hat vielleicht Respekt vor dem Weltmeister, Angst aber hat er auf dem Feld noch nie empfunden. Das Match ist keine zehn Minuten alt, da grätscht er den italienischen Wadenbeißer beherzt über die Seitenauslinie. Der Zweikampf läutet den längst überfälligen Generationswechsel im honorigen Mittelfeld des AC Mailand ein. Es wird Gattusos letzte Saison im erweiterten Kader der Rossoneri. Gegen Boatengs couragierten Straßenfußballerinstinkt ist der alternde Held chancenlos.
Nach dem Training lümmelt Boateng auf dem Platz, schaut seinem Idol Ronaldinho zu, wie er mit dem Ball jongliert. Er bettelt: „Mach Tricks für mich.“ Der Brasilianer verfügt über eine natürliche Gabe, der selbst ein Ausnahmetalent wie Boateng nur mit offenem Mund begegnen kann. Es gibt nichts, was er am Ball nicht kann. Mit eigenen Augen sieht er, wie Ronaldinho von der Mittellinie so an die Latte des Tores schießt, dass die Plastikkugel in einer präzisen Flugbahn zurück zum Anstoßpunkt prallt.
Ansonsten fehlt es dem Brasilianer zusehends an Biss. Während der Megastar seinen Vertrag mit Kabinettstückchen aussitzt, trainiert Boateng für die Weltkarriere. Im Spätherbst stellt Coach Allegri ihn statt Ronaldinho im offensiven Mittelfeld hinter den Spitzen auf. Der Weltmeister von 2002 ist mit knapp 30 Jahren zu langsam für die Serie A. Im Winter verlässt Ronaldinho Mailand. Sein Nachfolger hat Verständnis: „Er hat drei Jahre auf dem höchsten Niveau gespielt – und alles gewonnen. Was hat ein Mensch da noch für Ziele?“
KPBs Körper gleicht zusehends einer historischen Landkarte. Wie Kontinente liegen die rund 40 Tätowierungen über den Torso verteilt. Gerade erst hat er sich ein Spinnennetz überm linken Knie stechen lassen. Sein neuralgischer Punkt. Wie viele Behandlungen und OPs hat es schon über sich ergehen lassen? Mit den Kniebeschwerden sei es wie mit Spinnweben in den dunklen Ecken der Wohnung, erklärt er. An einem Tag feudelt man sie weg, tags drauf sind sie wieder da. Tattoos sind für globetrottende Profis offenbar ein Weg, Nachhaltigkeit in ihrem unsteten Leben zu schaffen. Ein Dasein, das wenig Raum für Reflexion und Muße lässt. Tätowierungen ermöglichen es Kevin Prince Boateng, Gedanken und Gefühle festzuhalten. „Es ist ein schnelles Leben und ein schneller Beruf“, sagt er mit dem Hart-aber-herzlich-Blick des Anführers der Motorradgang, „Fußball ist ein Tagesgeschäft – es geht schnell rauf und schnell wieder runter.“
Längst nicht jeder Entschluss hat sich als richtig entpuppt. Er gibt zu, dass er zwar oft der Leader gewesen sei, aber weiß Gott nicht immer ein vorbildlicher. Doch man kauft Boateng ab, dass er mit dem bisherigen Verlauf seines Lebens zufrieden ist. „Alles, was falsch gelaufen ist oder was ich verloren habe, hat mich an diesen Punkt gebracht.“
Inwieweit das auch auf seine Verbannung aus der U 21 zutrifft, ist fraglich. Es war die düsterste Stunde seiner Karriere. Seit seiner Jugend hegte er den Traum, für Deutschland zu spielen. Im Jahr 2009 sollte er die U 21 als Kapitän in Schweden ins EM-Finale führen. Am Tag vor seiner Suspendierung wurden noch gemeinsam Laufwege trainiert. Die Elf strotzte vor Selbstbewusstsein – so wie Boateng.
Nachdem Hrubesch ihm seine Entlassung mitgeteilt hatte, war er überzeugt, dass es für ihn keinen Weg mehr zurück gab. Aus Ghana machten sie ihm das Angebot, bei der WM als Stammspieler mitzuwirken. Bis zu diesem Zeitpunkt war Boateng noch nie in der Heimat seines Vaters gewesen. „Die Tür schlug vor meiner Nase zu“, sagt er heute, „und mir blieb nichts anderes übrig, als durch eine andere, die sich öffnete, hindurchzugehen.“ Über Nacht entschied er, für Ghana zu spielen. Roger Wittmann sagt, er hätte, wäre er damals schon für ihn zuständig gewesen, seinem Schützling abgeraten. Vielleicht wäre mit etwas Abstand noch mal eine Annäherung an den DFB möglich gewesen. Denn es ist kein Geheimnis, dass in der Nachwuchsabteilung des Verbandes einige nach den Beruhigungspillen griffen, als sie von dem Entschluss Wind bekamen.
Inzwischen hat er, nach nur neun Länderspielen, im Herbst 2011 das Ende seiner Nationalmannschaftskarriere bekanntgegeben. Als Grund gab er die anstrengenden Reisen zum Auswahlteam bei gleichzeitig steigendem Leistungsdruck in Mailand an. Die Reaktionen in Ghana waren heftig. Ihm wurde Opportunismus vorgeworfen. Er habe die WM nur als Bühne nutzen wollen.
Wie auch immer, man mag sich gar nicht vorstellen, welche Durchschlagskraft das Team von Jogi Löw entfalten könnte, wenn dem Bundestrainer im offensiven – wahlweise auch im defensiven – Mittelfeld ein Spieler wie Kevin Prince Boateng zur Verfügung stände. Als Deutschland im EM-Halbfinale auf Italien traf, habe er seinem Bruder Jerome die Daumen gehalten, sagt er trotzig. Der Ausgang des Spiels sei ihm egal gewesen. Und er fügt hinzu: „Es lohnt sich nicht mehr, darüber nachzudenken und sich unnötig Stress zu machen.“
Sein rasantes Leben lässt keinen Platz für nächtelanges Grübeln. Boateng löffelt inzwischen mit der Gleichmäßigkeit eines Schaufelradbaggers das Tiramisu im „Hotel Bulgari“. Er genießt das Leben – und er genießt schnell. Fast 320 000 Twitter-Follower halten er und seine Freundin Melissa mit Liebesbekundungen über den Stand ihrer Zuneigung auf dem Laufenden. Das Glamour-Paar plant, sich einen Gitarrenlehrer zu suchen. Es sei doch wichtig, dass Paare gemeinsame Hobbys hätten, weil dies den Zusammenhalt stärke. Boateng lacht, wenn er solche Weisheiten aus Beziehungsratgebern wiederkäut. Obwohl er öffentlich keine Gelegenheit auslässt, dem Model, das vor ihm fünf Jahre mit Christian Vieri liiert war, seine Liebe zu gestehen, wirkt er manchmal, als sei die Sache zwischen den beiden für ihn nur ein großer Spaß. Ein erotischer Tango im Blitzlichtgewitter.
Auf die Frage, ob es abseits der zahllosen Skandalmeldungen über ihn auch eine Schlagzeile gebe, die ihn gefreut habe, antwortet er, eine deutsche Zeitung habe vor kurzem mit „Boateng, der Sexgott“ getitelt. Und wieder lacht er sich halb schlapp. Melissa Satta hatte der italienischen Presse erzählt, die beiden hätten zwischen vier und sieben Mal Sex in der Woche. Daraufhin mutmaßten einige Blätter, ob Boatengs muskuläre Probleme, die ihn in der vergangenen Saison oft pausieren ließen, womöglich mit seinen Aktivitäten im heimischen Schlafzimmer zusammenhingen. „Im Ernst: So toll fand ich das nicht“, stellt er richtig, „Sie hat da leider etwas amateurhaft geantwortet.“ Immer wieder legt Satta in den italienischen Medien mehr oder weniger pikante Details aus dem Leben mit dem Fußballstar offen. Und Boateng hat genug zwischenmenschliche Verwerfungen erlebt, um auf der Hut zu sein. Doch sein Ritt als Champagnerkorken auf den Wogen des Boulevards gefällt ihm gerade wohl zu gut, um etwas dagegen zu unternehmen. Er kann es halt. Er ist Berliner. Ein Chamäleon. Die Aufmerksamkeit macht mehr aus ihm als einen guten Fußballer. „Boa“, wie die Italiener ihn ehrfurchtsvoll rufen, ist auf dem besten Weg zur Marke. So wie vor ihm „Becks“, „Il Fenomeno“ oder „Zizou“ das Bild des globalen Fußballers prägten, will auch „Boa“ es tun. Wie nannten ihn die Kollegen beim AC Milan doch noch gleich?
Die kichernden Damen vom Nebentisch sind mit Autogrammbüchern an den Tisch getreten. Sie fragen nach einem Foto. Handys werden gezückt, im Halbdunkel des mondänen Restaurants flackert Blitzlicht. Roger Wittmann nölt, Boateng solle daran denken, dass die Bilder in den sozialen Netzwerken auftauchen. Die italienische Presse hätte in Ermangelung anderer Glamour-News nie Gewissensbisse, ein Abendessen mit Journalisten zur wilden Partynacht mit High-Society-Girls hochzujazzen. Boateng hört gar nicht hin, geduldig lässt er die Damen knipsen. Er genießt den Rummel, er hat lange darauf warten müssen.
Ist noch Zeit für eine letzte Frage? „Aber wir haben doch alles besprochen“, sagt Kevin Prince Boateng und lacht: „Sie können ruhig schreiben: ›Ja, ich bin der beste Fußballer der Welt.‹“