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Kevin Prince Boateng ist ver­knallt. Seine Finger drib­beln über die Tas­tatur eines elfen­bein­far­benen Smart­phones. Jeder Buch­stabe ein Nach­weis für die Hand­lungs­schnel­lig­keit des Hoch­be­gabten. Digi­tale Dop­pel­pässe mit der neuen Freundin Melissa Satta – einem Show­girl, wie sie hier in Mai­land alt­mo­disch sagen –, mit der er seit neun Monaten zusammen ist. Roman­ti­sches Tiki-Taka. In jeder Sprech­pause, nach jedem Bissen Spa­ghetti Pomo­doro, ein rascher, sehn­süch­tiger Gruß. Ti amo“ simst sich schneller als Ich liebe dich“.

Lounge-Musik schallt durch den lauen Innenhof des Hotel Bul­gari“ im Herzen Mai­lands. Die Her­berge gleicht einer Fes­tung. Vor dem Ein­gang parken Gelän­de­fahr­zeuge und Fer­raris. Park­wächter in Anzügen nehmen Schlüssel ent­gegen. Latin Lover schlen­dern zum Dinner. Spitze Schuhe, helle Abend­kleider, Damen mit Botox-Minen, ein begeh­barer Humidor, Eichen­holz­ver­klei­dung. Die Pasta ist zum Nie­der­knien al dente. Nobles Under­state­ment.

Boateng ruft einen Kellner heran und fragt nach Erfri­schungs­tü­chern mit Anti-Mücken­stich-Tinktur. Hek­tisch reibt er sich die täto­wierten Arme ein. Das ver­dammte Geschmeiß. Er tippt noch eine SMS. Sein Berater Roger Witt­mann stellt fest, wie unhöf­lich es ist, wenn sein Klient im Gespräch ständig mit dem Handy rum­fum­melt. Boateng gibt sich leut­selig, man müsse ihn doch ver­stehen: Jungs, das ist Liebe.“

Mai­land hat ihn ver­än­dert. Wäh­rend in Deutsch­land der Ruf des RAM­BOateng“, des Fuß­ball-Rüpels“ wie mit Super­kleber an ihm haftet, hat er sein Tem­pe­ra­ment in Ita­lien kana­li­siert. Das eins­tige Ghetto-Kid aus dem Wed­ding“ („Stern“) hat deut­lich an Kon­turen gewonnen. Bei Milan wird der Fuß­ball­star glei­cher­maßen für deut­sche Wil­lens­kraft, seinen afri­ka­ni­schen Indi­vi­dua­lismus und süd­län­di­sche Verve geliebt. Boatengs mit­unter exzen­tri­scher Auf­tritt auf dem Rasen ist den Mai­län­dern kei­nes­wegs suspekt, son­dern wird von ihnen als Zei­chen von Stärke inter­pre­tiert. Boateng ist hier kein böser Bube, son­dern ein sym­pa­thi­scher Filou, der Milan – lange Zeit ein kom­for­ta­bles Alters­teil­zeit­mo­dell für in die Jahre gekom­mene Top­stars – nach seiner Ankunft im Sommer 2010 ein ordent­li­ches Pfund Seele ver­passt hat.

Er hat den Schneid, in einem Cham­pions-League-Spiel den Ball in vollem Lauf mit der Hacke um einen Welt­klas­se­ver­tei­diger wie Eric Abidal her­um­zu­spielen und dann mit einem Außen­risttor den FC Bar­ce­lona wie eine Elf aus Schul­jungen aus­sehen zu lassen. Er bal­lert Milan nach seiner Ein­wechs­lung zur Halb­zeit gegen US Lecce in nur 14 Minuten mit einem Hat­trick auf die Sie­ger­straße. Nebenbei singt er mit Fal­sett­stimme einen Geburts­tags­gruß für einen TV-Sender ein, begleitet von Thiago Silva und Alex­andre Pato, die devot für ihn die Human Beatbox geben. Er ver­wan­delt mit geschmei­digen Tanz­schritten selbst Koor­di­na­ti­ons­ein­heiten im Trai­ning in eine feu­rige Samba. Und bei der Meis­ter­feier der Rossoneri 2011 wird aus Prince mal eben Michael Jackson, als Boateng im über­füllten San Siro dessen Moon­walk“ auf­führt.

Ita­lie­ni­sche Zei­tungen beklagen tra­di­tio­nell, wie wenig aus dem Kader des AC Mai­land an die Öffent­lich­keit dringt, weil Ber­lus­conis Medi­en­kon­zern bewusst das blitz­saubere Image seiner Kicker för­dert. Doch Boateng ist der Gegen­ent­wurf zum che­misch gerei­nigten Befehls­emp­fänger. In der Woche des Inter­views ziert ein Papa­razzi-Foto das Titel­blatt des People-Maga­zins VIP“, das ihn auf einer Yacht eng­um­schlungen mit seiner neuen Gefährtin zeigt. Sie trägt einen Tanga-Bikini, er spannt die täto­wierten Mus­keln an.

Die Mit­spieler beim AC Mai­land nennen ihn Pop­star“, weil überall, wo er auf­taucht, junge Frauen zu juchzen beginnen. Auch im Restau­rant des Hotel Bul­gari“ kichern am Neben­tisch ständig drei Damen. Sie können ihren Blick nicht los­eisen von dem Fuß­baller mit dem Hipster-Iro und den Reh­augen. Und er liebt es, wie die Augen auf ihm ruhen. Den Trubel. Er sagt, an man­chen Tagen tauche er sogar am Mai­länder Dom auf, eigent­lich eine No-go-Area für pro­mi­nente Pro­fi­fuß­baller. Es sei doch schön, wenn er Men­schen mit einem Auto­gramm oder einem Foto den Tag ver­süßen könne. Sein Fahrer passt auf ihn auf. Wenn Leute zudring­lich werden, geht er dazwi­schen. Es erin­nert an Rapper-Rhe­torik, an die Poesie des Zukurz­ge­kom­menen, wenn er sagt: Ich wollte immer mehr als ein Fuß­baller sein. Ich wollte als Per­sön­lich­keit wahr­ge­nommen und respek­tiert werden.“

In der Som­mer­pause hat Coach Mas­si­mi­liano Allegri ihm das pres­ti­ge­träch­tige Trikot mit der Nummer zehn aus­ge­hän­digt. Vor ihm trug es jah­re­lang der unzer­stör­bare Cla­rence See­dorf. Eine Milan-Legende, der ein­zige Spieler, der je mit drei Klubs die Cham­pions League gewann. Ein unmiss­ver­ständ­li­ches Zei­chen: Boateng soll zukünftig den Ton angeben. Der Ber­lus­coni-Klub hat im Sommer Thiago Silva und Zlatan Ibra­hi­movic für ins­ge­samt 63 Mil­lionen Euro ver­kauft, weil die Tochter des Mäzens neu­er­dings die Geschäfte bestimmt. Im Gegen­satz zu ihrem Vater, der gerade mal wieder eine Rück­kehr in die Politik plant, ist sie nicht bereit, wei­terhin die Ver­luste des defi­zi­tären Ver­eins aus­zu­glei­chen. Insider gehen davon aus, dass Milan im Jahr 80 Mil­lionen Euro minus macht. Mit Mark van Bommel und Cla­rence See­dorf ver­schwanden wei­tere prä­gende Cha­rak­tere von der Gehalts­liste. Der AC Mai­land braucht diese Frisch­zel­lenkur. Der große Hoff­nungs­träger in diesem risi­ko­rei­chen Manöver ist nun der 25-jäh­rige Kevin Prince Boateng.

Die Odyssee, zu der er im Sommer 2007 auf­ge­bro­chen war, ist zu Ende. Für 7,9 Mil­lionen Euro war er damals von Hertha BSC zu Tot­tenham Hot­spur ver­kauft worden. Der Beginn einer langen Reise durch die euro­päi­schen Top­ligen, die in vielen Punkten einem Selbst­fin­dungs­trip glich.

In Berlin war er stets ein Anführer gewesen. Er war gesegnet mit einem her­aus­ra­genden Talent und ver­fügte über die fürs Pro­fi­ge­schäft nötige Robust­heit – psy­chisch und phy­sisch. Schon damals wurde deut­lich, dass er den Status quo des Jung­profis über alle Maßen genoss und Bling-Bling ihn magisch anzog. Doch für seine Trainer war er ein freund­li­cher Junge, der pünkt­lich zur Arbeit kam und im Sinne seiner Kol­legen den Job versah. Ein unge­schlif­fener Dia­mant.

In der legen­dären U 23 von Hertha BSC war KPB der Leader unter Spie­lern wie Ashkan Dejagah, Sejad Sali­hovic oder Patrick Ebert – obwohl die teil­weise älter als er waren. Den Sprung zu den Profis schaffte er ansatzlos.

Bis dato hatte Boateng nie weiter gedacht, als mit Hertha in der Bun­des­liga zu reüs­sieren. Doch ein Kon­flikt mit Coach Falko Götz im Früh­jahr 2007 führte zum Bruch mit dem Verein. Als der Trainer nach der Jugend­ar­beit des Klubs gefragt wurde, sagte Götz: Kevin hat viele Geschwister, alle von anderen Vätern. Aber das ist kein Makel. Berlin ist eben mul­ti­kul­tu­rell.“

Gemeinsam mit seinem Bruder Jerome stellte Boateng mit tief in die Stirn gezo­gener Base­ball­kappe den Übungs­leiter in der Kabine. Doch sowohl Götz als auch der Verein zeigten sich unfähig, die sorgsam aus­ge­bil­deten Youngster in gebüh­render Form zu besänf­tigen. Her­thas Kassen waren leer. Als das Angebot aus London kam, ergriff Manager Dieter Hoeneß die Gele­gen­heit. Er legte beiden Boatengs einen Wechsel nahe. Die Brüder, tief in ihrem Stolz getroffen, fackelten nicht lang und kehrten ihrem Aus­bil­dungs­verein den Rücken. Jerome ging zum HSV, Kevin Prince ins ferne London. Damals beschrieb er den Schritt als Flucht. Heute sagt er: Mit mir wurde Geld gemacht, und man hat mich gedrängt, diesen Schritt zu gehen.“ Die Wahr­heit liegt wohl irgendwo dazwi­schen.

Bei Tot­tenham eröff­nete ihm Trainer Martin Jol nach der Vor­be­rei­tung, dass er nicht mit ihm plane. Boateng hatte keine Ahnung, was er mit der Ansage anfangen sollte. Er war es nicht gewohnt, vor voll­endete Tat­sa­chen gestellt zu werden. Er doch nicht, der Junge aus dem Wed­ding, dem Stadt­teil, über den er selbst im Street­fighter-Duktus ver­kündet hatte: Da wird man Dro­gen­dealer, Gangster oder Fuß­baller“. Er reagierte mit Trotz, weil er nicht ver­stand, dass der schrul­lige Nie­der­länder ihn auf die Probe zu stellen ver­suchte – und begab sich 18 Monate in den Clinch mit seinem Ego.

Er ver­prasste Geld in Bars, kaufte Nobel­ka­rossen – einmal sogar drei in einer Woche –, suchte sein Glück abseits des Fuß­balls. Ich war schlicht und ein­fach unglück­lich.“ Luxus­güter gaben ihm für Momente so etwas wie Halt und Gebor­gen­heit. Kurz­zeitig war mir egal, dass ich auf der Tri­büne saß, nicht bei den Profis auf­lief und mitt­wochs bei den Ama­teuren vor drei Leuten spielte. Doch nach vier Wochen war das mit den Autos lang­weilig und die Pro­bleme des All­tags kamen zurück – mit voller Wucht.“ Seiner hoch­schwan­geren Frau Jenny wurde es zu viel. Das junge Ehe­glück zer­brach. Sie ver­ließ Eng­land und zog zurück nach Meer­busch ins Rhein­land, wo sie bis heute mit dem gemein­samen Sohn Jer­maine lebt.

Erst als Boateng sich im Winter 2009 an Borussia Dort­mund aus­leihen ließ, schien er langsam zurück in die Spur zu finden. Jürgen Klopp gab ihm das Ver­trauen, das er von Jol und dessen Nach­folger Harry Red­knapp nie bekommen hatte. Obwohl er von 17 Spielen nur zehn absol­vierte, oft sogar nur als Ergän­zungs­spieler, arbei­tete er akri­bisch daran, lang­fristig vom BVB ver­pflichtet zu werden. Er spürte die Auf­bruch­stim­mung, die Klopp in dem jungen Kader erzeugte. Ohne dass er es sich selbst ein­ge­stand, war es doch deut­lich spürbar: Boateng hatte Heimweh nach Deutsch­land.

Doch der BVB ver­passte die Qua­li­fi­ka­tion zur Europa League und konnte sich die Ver­pflich­tung der Leih­gabe nicht leisten. Schwerer noch wog, dass in dieser Phase ver­schie­dene Ereig­nisse sein Bild in der Öffent­lich­keit ver­än­derten. Das Image des Wed­dinger Halb­starken ver­dich­tete sich in den Medien zuse­hends zum Zerr­bild eines Fuß­ball­chaoten, der wie Nitro­gly­cerin ständig in Gefahr war zu explo­dieren: Für einen Tritt an den Kopf des Wolfs­bur­gers Makoto Hasebe, der mit sieben Sti­chen genäht werden musste, wurde er vom Platz gestellt. Bei einem Besuch in Berlin wurde er bezich­tigt, betrunken mit seinem Kumpel Patrick Ebert bei 13 Autos die Außen­spiegel abge­treten zu haben. Im Trai­nings­lager vor der U 21-Euro­pa­meis­ter­schaft kehrte er nachts von einem Dis­co­be­such mit ein­stün­diger Ver­spä­tung zurück. Junio­ren­trainer Horst Hru­besch, der ihn trotz vieler Zweifel beim Ver­band ins DFB-Team zurück­ge­holt hatte, schickte ihn nach Hause.

Boateng galt fortan als bera­tungs­re­sis­tent, unbe­re­chenbar und schwer­erziehbar. Und als er am 15. Mai 2010 im FA-Cup-Finale als Spieler des FC Ports­mouth Chel­seas Michael Bal­lack das Innen­band kaputt­trat und dem Capi­tano“ die WM-Teil­nahme ver­baute, war aus ihm end­gültig Deutsch­lands Staats­feind Nummer eins geworden.

Viele Profis wären an diesem Schlag­zei­len­mas­saker zer­bro­chen. Aber die Kar­riere des Kevin Prince Boateng kenn­zeichnet abge­sehen von zahl­rei­chen Brü­chen auch ein unbän­diger Selbst­er­hal­tungs­trieb. Jürgen Klopp schwärmte einst, er sei auch des­halb so ein beson­derer Spieler, weil er für jede Situa­tion hun­dert Lösungs­an­sätze und Ideen habe. Eine aus­sichts­lose Lage for­dert Boateng also erst heraus. Wie tief es ihn ver­letzte, dass seine Familie durch die Bal­lack-Causa in Mit­lei­den­schaft gezogen und ras­sis­tisch belei­digt wurde, kann nur er allein ermessen. Den­noch hat seine gewun­dene Vita die Über­zeu­gung reifen lassen, dass es immer wei­ter­geht: Natür­lich bedrückt es mich, wenn mich Leute für einen Bescheu­erten halten. Aber ich habe gelernt, die Dinge nicht zu sehr an mich her­an­zu­lassen. Es macht im Fuß­ball den Unter­schied aus, wie ein Spieler mit sol­chem Druck zurecht­kommt.“

So wird der tra­gi­sche Früh­ling 2010 auch zum Wen­de­punkt in Boatengs Kar­riere. In den Wochen des his­to­ri­schen Zusam­men­stoßes mit dem Kapitän der deut­schen Natio­nalelf trifft er in London erst­mals seinen neuen Berater Roger Witt­mann. Die Saison 2009/10 als Spieler des FC Ports­mouth ist ganz ordent­lich für ihn gelaufen. Coach Paul Hart, ein boden­stän­diger Fuß­ball­lehrer, beor­dert ihn ins zen­trale Mit­tel­feld und gestattet ihm alle Frei­heiten. Vor dem Auf­laufen flüs­tert er ihm ins Ohr: Spiel, Junge, mach, was du willst! Nur bitte, bitte keine Rote Karte.“

Als Witt­mann Boateng das erste Mal sieht, wun­dert er sich über dessen Lei­bes­fülle. Er sagt: Du siehst ja aus wie ich!“ Die fett­reiche Ernäh­rung in Eng­land und der nicht immer pro­fes­sio­nelle Lebens­wandel tragen dazu bei, dass er bei einer Kör­per­größe von 1,85 Meter zeit­weise über 90 Kilo wiegt. Witt­mann ver­ordnet ihm einen Per­sonal Trainer. Er muss mehr tun, wenn er wei­ter­kommen will. Frü­here Berater haben sich den Mund fusslig geredet. Boateng war stets der Ansicht, er wisse selbst am besten, was gut für ihn ist.

Doch Roger Witt­mann, Chef von Rogon Sport­ma­nage­ment, einem glo­balen Unter­nehmen zur Ver­mitt­lung von Profis, trifft den rich­tigen Ton. Beim Inter­view wirken die beiden wie der seriöse Onkel und sein unsteter Neffe. Boateng sitzt ständig der Schalk im Nacken. Der Umgang zeugt von großer Wert­schät­zung, auch wenn Boateng jeden kleinen Rüffel iro­ni­sieren muss. Er fragt den Berater, ob es okay sei, wenn er nach der Pasta noch ein kleines Steak bestelle, und als Witt­mann weg­schaut, schnappt er sich dessen Wein­glas und trinkt mehr oder weniger heim­lich einen kleinen Schluck.

Die Gespräche mit dem neuen Berater bringen den Ber­liner zu der Erkenntnis, dass er in seiner Kar­riere genug Zeit ver­plem­pert hat. Witt­mann benutzt den Begriff Kapi­ta­li­sieren“, wenn er über das Poten­tial eines Spie­lers spricht. Zwei­fels­ohne hat Boateng das Zeug zum Welt­klas­se­spieler, doch im Gegen­satz zu seiner Reak­ti­ons­schnel­lig­keit auf dem Feld, fehlt es ihm im Leben bei der Umset­zung seiner Ansprüche offenbar öfter an Durch­blick. Der Spieler hat das Gefühl, dass ihm zum ersten Mal jemand zuhört – und sich nicht scheut, ihm die unge­schminkte Wahr­heit zu sagt.

Gerade am Anfang seiner Kar­riere sei er über­for­dert gewesen. Ich war zwanzig, bekam einen Haufen Geld und die Leute sagten: mach mal!“ Nie­mand habe ihn darauf hin­ge­wiesen, dass ein Profi jeden Tag aufs Neue ans Limit gehen muss, wenn er Erfolg haben will. Früher sei er zufrieden gewesen, wenn er von zehn Spielen zwei gute gemacht habe und er sich ein dickes Auto leisten konnte. Es schwingt Boxer-Pathos mit, wenn er davon spricht, wie hart er inzwi­schen für seine gesell­schaft­liche Stel­lung schuftet. Dass die Ita­liener ihn für das lieben, was er ist: Ein erfolg­rei­cher Fuß­baller, der hart arbeitet und sich nichts zuschulden kommen lässt.“

Denkt er manchmal zurück an die kleine Woh­nung im Wed­ding? Kann er sich vor­stellen, auf den Luxus, der ihn jetzt umgibt, das Leben in der High Society zu ver­zichten? Es sind Fragen, die nicht in sein Welt­bild passen. Profis denken pro­gressiv: Auf gar nichts will ich ver­zichten! Weil ich mir all das, was ich jetzt habe, hart erar­beitet habe und es auch mein gegen­wär­tiges Glück mit­be­stimmt. Warum sollte ich darauf ver­zichten?“

Als er im Sommer 2010 zum AC Mai­land wech­selt, hat er zwölf Kilo abge­speckt und sieht aus wie ein Modell­athlet. Es ist der Schritt in ein neues Leben. Er schwört sich, dass alle Eska­paden nun der Ver­gan­gen­heit ange­hören sollen. Die Welt soll den Fuß­baller Boateng end­lich in ihr Herz schließen.

Sein Bruder George hat ihm mit auf den Weg gegeben: Denk immer dran, du bist Ber­liner. Die sind wie Cha­mä­leons, die können sich überall anpassen. In jeder Gesell­schaft, jedem Verein, auf jeder Straße.“ Am Abend vor dem ersten Trai­ning betrachtet er stolz die Trai­nings­kluft seines neuen Ver­eins. Nun ist er end­lich ange­kommen in der Bel­etage des euro­päi­schen Fuß­balls. Gemeinsam mit seinem Berater hat er sich gut vor­be­reitet. Milan hat ihn als Back-up auf der Sechs ein­ge­kauft. Auf der Posi­tion erwarten ihn zwei erfah­rene Kräfte mit einer langen His­torie im Klub: Mas­simo Amb­ro­sini und Gen­naro Gat­tuso.

Als er, begleitet von zackigen Jarrr“- und Neinnn“-Rufen, dem Ele­mentar-Deutsch seiner neuen Kol­legen, auf den Trai­nings­platz trottet und Andrea Pirlo ihn im Stile des Fuß­ball­weisen freund­lich mit Aus­fahrrrt lllinks“ begrüßt, will Gat­tuso dem Neu­an­kömm­ling gleich mal auf den Zahn fühlen. Im Trai­nings­spiel kommt es schon in den ersten Minuten zu kleinen Hake­leien. Doch Boateng hat viel­leicht Respekt vor dem Welt­meister, Angst aber hat er auf dem Feld noch nie emp­funden. Das Match ist keine zehn Minuten alt, da grätscht er den ita­lie­ni­schen Waden­beißer beherzt über die Sei­ten­aus­linie. Der Zwei­kampf läutet den längst über­fäl­ligen Gene­ra­ti­ons­wechsel im hono­rigen Mit­tel­feld des AC Mai­land ein. Es wird Gat­tusos letzte Saison im erwei­terten Kader der Rossoneri. Gegen Boatengs cou­ra­gierten Stra­ßen­fuß­bal­ler­instinkt ist der alternde Held chan­cenlos.

Nach dem Trai­ning lüm­melt Boateng auf dem Platz, schaut seinem Idol Ronald­inho zu, wie er mit dem Ball jon­gliert. Er bet­telt: Mach Tricks für mich.“ Der Bra­si­lianer ver­fügt über eine natür­liche Gabe, der selbst ein Aus­nah­me­ta­lent wie Boateng nur mit offenem Mund begegnen kann. Es gibt nichts, was er am Ball nicht kann. Mit eigenen Augen sieht er, wie Ronald­inho von der Mit­tel­linie so an die Latte des Tores schießt, dass die Plas­tik­kugel in einer prä­zisen Flug­bahn zurück zum Anstoß­punkt prallt.

Ansonsten fehlt es dem Bra­si­lianer zuse­hends an Biss. Wäh­rend der Mega­star seinen Ver­trag mit Kabi­nett­stück­chen aus­sitzt, trai­niert Boateng für die Welt­kar­riere. Im Spät­herbst stellt Coach Allegri ihn statt Ronald­inho im offen­siven Mit­tel­feld hinter den Spitzen auf. Der Welt­meister von 2002 ist mit knapp 30 Jahren zu langsam für die Serie A. Im Winter ver­lässt Ronald­inho Mai­land. Sein Nach­folger hat Ver­ständnis: Er hat drei Jahre auf dem höchsten Niveau gespielt – und alles gewonnen. Was hat ein Mensch da noch für Ziele?“

KPBs Körper gleicht zuse­hends einer his­to­ri­schen Land­karte. Wie Kon­ti­nente liegen die rund 40 Täto­wie­rungen über den Torso ver­teilt. Gerade erst hat er sich ein Spin­nen­netz überm linken Knie ste­chen lassen. Sein neur­al­gi­scher Punkt. Wie viele Behand­lungen und OPs hat es schon über sich ergehen lassen? Mit den Knie­be­schwerden sei es wie mit Spinn­weben in den dunklen Ecken der Woh­nung, erklärt er. An einem Tag feu­delt man sie weg, tags drauf sind sie wieder da. Tat­toos sind für glo­be­trot­tende Profis offenbar ein Weg, Nach­hal­tig­keit in ihrem unsteten Leben zu schaffen. Ein Dasein, das wenig Raum für Refle­xion und Muße lässt. Täto­wie­rungen ermög­li­chen es Kevin Prince Boateng, Gedanken und Gefühle fest­zu­halten. Es ist ein schnelles Leben und ein schneller Beruf“, sagt er mit dem Hart-aber-herz­lich-Blick des Anfüh­rers der Motor­rad­gang, Fuß­ball ist ein Tages­ge­schäft – es geht schnell rauf und schnell wieder runter.“

Längst nicht jeder Ent­schluss hat sich als richtig ent­puppt. Er gibt zu, dass er zwar oft der Leader gewesen sei, aber weiß Gott nicht immer ein vor­bild­li­cher. Doch man kauft Boateng ab, dass er mit dem bis­he­rigen Ver­lauf seines Lebens zufrieden ist. Alles, was falsch gelaufen ist oder was ich ver­loren habe, hat mich an diesen Punkt gebracht.“

Inwie­weit das auch auf seine Ver­ban­nung aus der U 21 zutrifft, ist frag­lich. Es war die düs­terste Stunde seiner Kar­riere. Seit seiner Jugend hegte er den Traum, für Deutsch­land zu spielen. Im Jahr 2009 sollte er die U 21 als Kapitän in Schweden ins EM-Finale führen. Am Tag vor seiner Sus­pen­die­rung wurden noch gemeinsam Lauf­wege trai­niert. Die Elf strotzte vor Selbst­be­wusst­sein – so wie Boateng.

Nachdem Hru­besch ihm seine Ent­las­sung mit­ge­teilt hatte, war er über­zeugt, dass es für ihn keinen Weg mehr zurück gab. Aus Ghana machten sie ihm das Angebot, bei der WM als Stamm­spieler mit­zu­wirken. Bis zu diesem Zeit­punkt war Boateng noch nie in der Heimat seines Vaters gewesen. Die Tür schlug vor meiner Nase zu“, sagt er heute, und mir blieb nichts anderes übrig, als durch eine andere, die sich öff­nete, hin­durch­zu­gehen.“ Über Nacht ent­schied er, für Ghana zu spielen. Roger Witt­mann sagt, er hätte, wäre er damals schon für ihn zuständig gewesen, seinem Schütz­ling abge­raten. Viel­leicht wäre mit etwas Abstand noch mal eine Annä­he­rung an den DFB mög­lich gewesen. Denn es ist kein Geheimnis, dass in der Nach­wuchs­ab­tei­lung des Ver­bandes einige nach den Beru­hi­gungs­pillen griffen, als sie von dem Ent­schluss Wind bekamen.

Inzwi­schen hat er, nach nur neun Län­der­spielen, im Herbst 2011 das Ende seiner Natio­nal­mann­schafts­kar­riere bekannt­ge­geben. Als Grund gab er die anstren­genden Reisen zum Aus­wahl­team bei gleich­zeitig stei­gendem Leis­tungs­druck in Mai­land an. Die Reak­tionen in Ghana waren heftig. Ihm wurde Oppor­tu­nismus vor­ge­worfen. Er habe die WM nur als Bühne nutzen wollen.

Wie auch immer, man mag sich gar nicht vor­stellen, welche Durch­schlags­kraft das Team von Jogi Löw ent­falten könnte, wenn dem Bun­des­trainer im offen­siven – wahl­weise auch im defen­siven – Mit­tel­feld ein Spieler wie Kevin Prince Boateng zur Ver­fü­gung stände. Als Deutsch­land im EM-Halb­fi­nale auf Ita­lien traf, habe er seinem Bruder Jerome die Daumen gehalten, sagt er trotzig. Der Aus­gang des Spiels sei ihm egal gewesen. Und er fügt hinzu: Es lohnt sich nicht mehr, dar­über nach­zu­denken und sich unnötig Stress zu machen.“

Sein rasantes Leben lässt keinen Platz für näch­te­langes Grü­beln. Boateng löf­felt inzwi­schen mit der Gleich­mä­ßig­keit eines Schau­fel­rad­bag­gers das Tira­misu im Hotel Bul­gari“. Er genießt das Leben – und er genießt schnell. Fast 320 000 Twitter-Fol­lower halten er und seine Freundin Melissa mit Lie­bes­be­kun­dungen über den Stand ihrer Zunei­gung auf dem Lau­fenden. Das Gla­mour-Paar plant, sich einen Gitar­ren­lehrer zu suchen. Es sei doch wichtig, dass Paare gemein­same Hobbys hätten, weil dies den Zusam­men­halt stärke. Boateng lacht, wenn er solche Weis­heiten aus Bezie­hungs­rat­ge­bern wie­der­käut. Obwohl er öffent­lich keine Gele­gen­heit aus­lässt, dem Model, das vor ihm fünf Jahre mit Chris­tian Vieri liiert war, seine Liebe zu gestehen, wirkt er manchmal, als sei die Sache zwi­schen den beiden für ihn nur ein großer Spaß. Ein ero­ti­scher Tango im Blitz­licht­ge­witter.

Auf die Frage, ob es abseits der zahl­losen Skan­dal­mel­dungen über ihn auch eine Schlag­zeile gebe, die ihn gefreut habe, ant­wortet er, eine deut­sche Zei­tung habe vor kurzem mit Boateng, der Sex­gott“ geti­telt. Und wieder lacht er sich halb schlapp. Melissa Satta hatte der ita­lie­ni­schen Presse erzählt, die beiden hätten zwi­schen vier und sieben Mal Sex in der Woche. Dar­aufhin mut­maßten einige Blätter, ob Boatengs mus­ku­läre Pro­bleme, die ihn in der ver­gan­genen Saison oft pau­sieren ließen, womög­lich mit seinen Akti­vi­täten im hei­mi­schen Schlaf­zimmer zusam­men­hingen. Im Ernst: So toll fand ich das nicht“, stellt er richtig, Sie hat da leider etwas ama­teur­haft geant­wortet.“ Immer wieder legt Satta in den ita­lie­ni­schen Medien mehr oder weniger pikante Details aus dem Leben mit dem Fuß­ball­star offen. Und Boateng hat genug zwi­schen­mensch­liche Ver­wer­fungen erlebt, um auf der Hut zu sein. Doch sein Ritt als Cham­pa­gner­korken auf den Wogen des Bou­le­vards gefällt ihm gerade wohl zu gut, um etwas dagegen zu unter­nehmen. Er kann es halt. Er ist Ber­liner. Ein Cha­mä­leon. Die Auf­merk­sam­keit macht mehr aus ihm als einen guten Fuß­baller. Boa“, wie die Ita­liener ihn ehr­furchts­voll rufen, ist auf dem besten Weg zur Marke. So wie vor ihm Becks“, Il Fen­omeno“ oder Zizou“ das Bild des glo­balen Fuß­bal­lers prägten, will auch Boa“ es tun. Wie nannten ihn die Kol­legen beim AC Milan doch noch gleich?

Die kichernden Damen vom Neben­tisch sind mit Auto­gramm­bü­chern an den Tisch getreten. Sie fragen nach einem Foto. Handys werden gezückt, im Halb­dunkel des mon­dänen Restau­rants fla­ckert Blitz­licht. Roger Witt­mann nölt, Boateng solle daran denken, dass die Bilder in den sozialen Netz­werken auf­tau­chen. Die ita­lie­ni­sche Presse hätte in Erman­ge­lung anderer Gla­mour-News nie Gewis­sens­bisse, ein Abend­essen mit Jour­na­listen zur wilden Par­ty­nacht mit High-Society-Girls hoch­zu­jazzen. Boateng hört gar nicht hin, geduldig lässt er die Damen knipsen. Er genießt den Rummel, er hat lange darauf warten müssen.

Ist noch Zeit für eine letzte Frage? Aber wir haben doch alles bespro­chen“, sagt Kevin Prince Boateng und lacht: Sie können ruhig schreiben: ›Ja, ich bin der beste Fuß­baller der Welt.‹“