Borussia Mönchengladbach ist der deutsche Konsensklub. Doch auf dem Weg zu alter Größe braucht es auch etwas Wahnsinn.
Lucien Favre schaut an den Zuhörern vorbei, als er über „Francfort“ spricht. Sein Blick flackert hin und her, wie er das meistens tut. Der Trainer von Borussia Mönchengladbach erklärt den Journalisten, wie viel fußballerisches Potential die Eintracht habe und man ahnt, dass dabei reihenweise Spielszenen durch seinen Kopf rattern. Hat er noch was übersehen? Gibt es vielleicht noch einen taktischen Kniff?
Auch für dieses Spiel hat Favre sich wieder die letzten vier Partien des Gegners angeschaut. Wie immer mit dem Finger auf der Fast-Forward-Taste des DVD-Spielers, um sofort weiterzuspulen, sobald der Ball nicht im Spiel ist. Wenn man das nicht gewöhnt sei, bekomme man schnell Kopfschmerzen davon, sagen die, die ihn dabei beobachtet haben.
Der verrückte Professor der Bundesliga
Die Reporter notieren Favres Warnungen geduldig, hinten im Presseraum warten zur Belohnung schon Rouladen mit Rosenkohl und Kartoffeln. Die meisten halten den kauzigen Schweizer für den besten Trainer, der in den letzten Jahrzehnten bei Borussia Mönchengladbach gearbeitet hat. Wie er das genau macht, ist aber auch nach fast vier Jahren irgendwie undurchschaubar. Klar ist nur: Favre ist der verrückte Professor unter den Bundesligatrainern. In einem amerikanischen Kinderfilm würde er eine übergroße Brille mit schwarzem Rand tragen und ein Perpetuum mobile bauen, aus dem unaufhörlich Bonbons plumpsen. In der Kinderwelt des Fußballs hat er Borussia Mönchengladbach durch einen „Time Tunnel“ geführt und aus der Vergangenheit eine Zukunft gemacht.
Neulich etwa hat Favre einen jahrzehntealten Rekord von Hennes Weisweiler gebrochen. 18 Pflichtspiele hintereinander ohne Niederlage, das war nicht einmal dem alten Meistertrainer gelungen, der vier der fünf Deutschen Meisterschaften und den UEFA-Pokal nach Gladbach geholt hat. Und wie selbstverständlich stellte sich die Frage, die bei diesem Klub im Erfolgsfall immer kommt: Wie viel Vergangenheit ist in der Gegenwart möglich? Oder anders gefragt: Wie viel Fohlenelf steckt in der Mannschaft von heute?
Herbert Wimmer, den noch immer alle „Hacki“ nennen, war dabei, als 1965 ein bis dahin unbedeutender Provinzverein mit einer Mannschaft, die im Durchschnitt kaum älter als 21 Jahre alt war, in die Bundesliga aufstieg. Fünf Jahre später wurde Wimmer erstmals Meister mit der Fohlenelf, die man nicht nur wegen ihrer Jugend, sondern auch wegen ihres stürmischen Ungestüms so nannte. Bis heute kommt er zu jedem Spiel und gesellt sich unauffällig an den Traditionsstammtisch, den es gibt, seit der Klub 2004 den Borussia-Park bezogen hat. Zwei Dutzend ehemalige Spieler kommen jedes Mal und werden bemerkenswert herzlich betreut.
Große Momente, große Zeiten
Wimmer ist an diesem Traditionsstammtisch nicht nur einer der treuesten, sondern einer der scheuesten Gäste. Auch mit 70 Jahren ist der einstige Wasserträger von Günter Netzer ein fast schüchterner Mann. Erinnert ihn die Mannschaft von heute an früher? „Am ehesten, wenn sie schnelle Konter spielen“, sagt Wimmer leise, „aber wir hatten mehr Einheimische.“ Klar, Jupp Heynckes, Günter Netzer und Herbert Laumen wurden in Mönchengladbach geboren, Berti Vogts kam aus Korschenbroich, ein paar Meter die Straße runter, und Wimmer selbst aus der Nähe von Aachen. So was gibt es heute weder in Gladbach noch eigentlich sonst irgendwo.
Wimmer mag eine Legende des Vereins sein, aber er ist auch ein prosaischer Mann, dem die Idee einer Wiedergeburt der Fohlenelf im Geiste des 21. Jahrhunderts fremd ist. Und worum würde es da eigentlich gehen? Um hinreißenden Konterfußball, um europäische Flutlichtnächte durchzogen von niederrheinischen Nebelfetzen, um Pfostenbruch und Büchsenwurf? Überall im Stadion und in der Geschäftsstelle wird diese Historie beschworen. Auf den Gängen und in den Büros, in den Logen und an den Wänden der VIP-Ebene hängen Fotos in Schwarz und Weiß. Große Momente, große Zeiten, goldene Vergangenheit.