Genervt von den Widrigkeiten des modernen Fußballs? Wir erklären zum Valentinstag, warum wir den Fußball immer noch lieben. Trotzdem und jetzt erst recht und mehr denn je.
„Warum wir Fußball lieben“ – erschien ursprünglich als Titelgeschichte von 11FREUNDE #217. Hier bei uns im Shop erhältlich.
„Mit Borussia in Bielefeld? Das wollte ich auch“
Es ist acht Monate her, da zeigten die Fans im Dortmunder Westfalenstadion eine wundervolle Choreografie. Auf einer Fahne, die über den Block gezogen wurde, standen gemalt ein Mann und ein kleiner Junge hinter einem Wellenbrecher. Darunter war auf einem Spruchband zu lesen: „Als Kind bin ich mit meinem Vater gekommen und der wurde auch schon von seinem mitgenommen.“ Ich war 500 Kilometer entfernt von Dortmund, als die Fahne sich langsam über die Stehränge erhob, die ich so gut kenne wie nur wenige andere Orte, und musste daran denken, dass ich damals nicht von meinem Vater mitgenommen wurde. Er interessierte sich nicht für Sport, schon gar nicht für Fußball. Meinem zwölf Jahre älteren Bruder bedeutete das Spiel hingegen umso mehr.
Er ging schon in den Sechzigern zur Borussia, als der Klub noch in der Roten Erde spielte. Anfang der Siebziger gehörte er zu der sehr kleinen Gruppe von Dortmundern, die dem BVB selbst in der zweiten Liga überallhin folgten und dann den ersten richtigen Fanklub gründeten. Mein Bruder war sowieso wahnsinnig cool, er hatte lange Haare, trug Flickenjeans und hörte Rockbands, die kaum jemand kannte. Besonders faszinierend aber war es, wenn ich unsere Mutter fragte, wo er ist, und sie antwortete: „Der ist mit Borussia in Bielefeld.“ Ich hatte keine Ahnung, was Bielefeld ist, aber das wollte ich auch.
So begann mein Bruder, mich mitzunehmen. Zu Anfang gelegentlich, rasch regelmäßig. Erst viele Jahre später wurde mir klar, dass er wahrscheinlich lieber neben seinen Kumpels gestanden hätte, als darauf aufzupassen, dass sein kleiner Bruder beim Torjubel nicht die Südtribüne hinabstürzt. Aber da mein Vater es nicht tat, musste er diesen Job übernehmen.
So ist das eben, nicht nur in Dortmund. Ich stand also neben meinem Bruder, als Eike Immel die Bayern zur Verzweiflung brachte, als Borussia Bielefeld mit 11:1 deklassierte, als Jürgen Wegmann in letzter Sekunde den Abstieg verhinderte und als der BVB in Berlin den ersten Titel seit meinem Geburtsjahr holte. Dann, Anfang der neunziger Jahre, zog ich in eine andere Stadt. Nicht wirklich weit weg, dem Stadion war ich jetzt sogar näher als vorher. Aber doch so weit, dass ich meinen Bruder nur noch genau 19 Mal im Jahr sah: zu Weihnachten, am Geburtstag unserer Mutter und bei den 17 Heimspielen im Westfalenstadion. Dank Ottmar Hitzfeld wurden es später einige Termine mehr, vor allem mittwochabends, aber groß war ihre Zahl trotzdem nicht. Doch das war in Ordnung. Wir hatten nun beide eigene Familien, und es war völlig ausreichend, wenn wir uns zwei, drei Mal im Monat kurz austauschten, während unten auf dem Rasen unser Verein spielte.
Und dann zog ich wieder weg, diesmal ziemlich weit, und ließ nicht nur meinen Bruder zurück, sondern nun auch meinen Sohn. Doch es ist weiter in Ordnung. Denn es gibt etwas, das uns immer verbinden wird, und das sind nicht nur die Gene, sondern der Fußball. Wenn ich heute nach Dortmund fahre, dann freue ich mich auf mehr als nur das Spiel. Der untere Teil der Südtribüne ist weitgehend unverändert, deswegen gehe ich dieselben Stufen hoch wie vor 42 Jahren und habe denselben ersten Blick auf den Rasen, bevor ich mich nach rechts wende und zum Wellenbrecher gehe. Wo mein Bruder steht. Und neben ihm mein Sohn.
„Kampfansagen, Treueschwüre und Offenbarungseide“
Bevor die Telegrafie erfunden war, dauerte es geschlagene drei Wochen, bis berittene Boten einem Bischof in Irland die Depesche überbrachten, dass in Rom der Papst gestorben war. Mit noch größerer Verzögerung erreichte mich neulich die Nachricht, dass es gar nicht gut um den FC Bayern stehe. Ich entnahm sie einer zwei Monate alten Ausgabe des „Kicker“. Regelmäßig, aber in großen Abständen, immer wenn er mal beim Postamt vorbeikommt, schickt mein lieber Vater seine ausgelesenen Hefte zu mir nach Berlin, damit ich, wie er sagt, „auf dem Laufenden“ bleibe. Er hat eine ganz eigene Vor-stellung von Aktualität: Etwas passiert erst dann, wenn er davon erfährt. Politiker treten um 20 Uhr zurück, in der „Tagesschau“. Und noch eine Stunde nach dem Abpfiff einer Partie des SV Werder ist er in der Lage, auf den Sieg zu hoffen. Die Zusammenfassung in der Sportschau läuft ja erst um 18.30 Uhr, bis dahin ist rein gar nichts entschieden.
Von Livetickern und Pushmeldungen weiß er nichts. Er lebt in einem anderen Jahrhundert als ich, ich vermute, es ist das zwanzigste. Dort ist die Telegrafie zwar schon erfunden, es gibt auch die ersten Fernseher. Doch es bleibt eine Sensation für ihn, dass Stimmen und Bilder aus immenser Ferne den Weg in seine Stube finden. Und solche Kleinode wie den „Kicker“ kann er doch nicht einfach wegwerfen. Die sind doch noch gut! Also schickt er sie mir, stapelweise.
Ich lese darin Kampfansagen, Treueschwüre, Offenbarungseide, und nicht selten ist der, der sie von sich gab, längst gefeuert, abgestiegen oder Invalide. Der „Kicker“ aus dem vorletzten Monat: ein Zeugnis der Vergänglichkeit. Und trotzdem sind diese Hefte auch für mich von zeitloser Schönheit. Denn mein Vater hat es sich zur Aufgabe gemacht, sie penibel durchzuarbeiten, mit angespitztem Rotstift. So greift er hier einen Kolumnisten an („So was nennt sich Experte?“), verlacht dort die Transferpolitik des Hamburger SV („Schon wieder so ’n Blinder!“) oder lobt Bremens Trainer Florian Kohfeldt („Guter Mann!“) und gleich den ganzen Verein („Werder, die Weltmacht!“).
Glanzlicht einer jeden Ausgabe ist die rituelle Tätowierung des Uli Hoeneß durch meinen Vater: Sobald das Präsidentengesicht auftaucht, schreibt er ihm das schönste Wort auf die Stirn, das die Sprache seiner Heimat kennt: „Ömmes!“ Was so viel heißt wie: etwas zu groß geratenes Ding. Ich halte es für möglich, dass es sich um einen Voodoozauber handelt, vielleicht ist Hoeneß deshalb so oft gereizt. Ihn verbindet eine innige Feindschaft mit meinem Vater. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass er nichts davon weiß.
Ich liebe diese Hefte, gerade wegen ihrer frappierenden Inaktualität. Dank der Kommentare meines Vaters haben sie etwas von den Inschriften in alten Karzern, die dort von eingebuchteten Schülern an die Wand gekritzelt wurden: Sie behalten ihre emotionale Wucht, auch wenn die Zeit über sie hinweggeht. Und ich liebe den Fußball an sich, weil er meinen Vater vor der Gleichgültigkeit des Alters bewahrt. Für ihn, das beweist mir jede „Kicker“-Ausgabe, ist und bleibt Uli Hoeneß ein „Ömmes“.