In der einen Hand hielt er einen Keks, eine Banane in der anderen. Es war nach 23 Uhr, und der 18-jäh­rige Jung­spund, der gerade noch auf dem Platz des Olym­pia­sta­dions für Furore gesorgt hatte, war dabei, sich ohne großes Auf­sehen aus dem Staub zu machen. Heut­zu­tage würde Bas­tian Schwein­steiger nicht mehr im Traum daran denken, dem Inter­view­ma­ra­thon nach einem Cham­pions-League-Spiel zu ent­fliehen – es würde ja ohnehin nichts bringen. Vor zehn Jahren hieß Schwein­steiger im Volks­mund aber noch nicht Schweini“, er war kein Natio­nal­spieler, keine Füh­rungs­kraft im baye­ri­schen Star­ensemble. Er war Ama­teur­spieler, ein Nach­wuchs­ki­cker am Fuße einer Kar­riere, deren Ver­lauf noch in den Sternen stand. Er hatte soeben – gemeinsam mit Philipp Lahm – in der Partie gegen den RC Lens am 13. November 2002 sein erstes Pflicht­spiel für den FC Bayern Mün­chen bestritten.

Ein buben­hafter Flü­gel­flitzer

Den meisten Repor­tern fiel der junge Mann im Trai­nings­anzug noch nicht einmal auf, wäh­rend sie sich um kurze State­ments von Sali­ha­midzic, Liza­razu, Elber rissen. Dann aller­dings, als Schwein­steiger fast schon durch­ge­huscht schien, erin­nerte sich doch noch ein Jour­na­list an den for­schen Auf­tritt des buben­haften Flü­gel­flit­zers. Und so gab Bas­tian Schwein­steiger nach seinem ersten Pro­fi­spiel für den FC Bayern Mün­chen auch noch seine ersten Inter­views.

Den ersten Kon­takt zur Presse, ließ Schwein­steiger durch­klingen, hatte er bereits vor dem Spiel gehabt. Schließ­lich war es ein Lokal­re­porter gewesen, der ihn darauf auf­merksam gemacht hatte, dass Bayern-Trainer Ottmar Hitz­feld ihn in den Kader für das Spiel gegen die Fran­zosen berufen wird. Ich hab‘ erst gedacht, der will mich ver­ar­schen“, sei ihm da durch den Kopf gegangen, ent­geg­nete Schwein­steiger. Aber dann hat auch schon der Ger­land ange­rufen.“ Der Ger­land, der Her­mann, damals Ama­teur­coach, heute Co-Trainer bei den Profis, hatte nicht nur bei Schwein­steiger durch­ge­klin­gelt. Auch bei Lahm war ein Anruf ein­ge­gangen, er wurde gegen die Fran­zosen in der Nach­spiel­zeit ein­ge­wech­selt. Schwein­steiger durfte 17 Minuten lang ran. Dass mit den Kurz­ein­sätzen zweier 18- bezie­hungs­weise 19-jäh­riger Nobo­doys beim FC Bayern eine neue Ära beginnen würde, die auch noch zehn Jahre danach noch lange nicht abge­schlossen ist, ahnte nie­mand.

»>Bas­tian Schwein­steiger und Philipp Lahm: Die ersten Bilder ihrer Kar­rieren in der Galerie«<

Das Cham­pions-League-Spiel gegen den RC Lens am sechsten Spieltag der Vor­runde 2002/03 erweckte sport­lich gesehen kaum noch Inter­esse. Dafür hatte der FC Bayern in den vor­an­ge­gan­genen Wochen mit kata­stro­phalen Leis­tungen gesorgt. Der deut­sche Rekord­meister, Cham­pions-League-Sieger 2001, hatte in den ersten fünf Grup­pen­spielen gerade einmal einen mick­rigen Zähler ein­ge­fahren. Nie­mals zuvor oder danach hat der FC Bayern in Europas Königs­klasse so schwach aus­ge­sehen. Die Mün­chener gingen im Jahr 2002 gar als das schlech­teste deut­sche Team aller Zeiten in die Cham­pions-League-Geschichte ein. Was bei dem ein oder anderen Nicht-Bayern-Freund frei­lich Scha­den­freude aus­löste, schließ­lich hatte Karl-Heinz Rum­me­nigge zu Sai­son­be­ginn noch getönt, der FC Bayern gehe mit dem besten Kader aller Zeiten“ in die Spiel­zeit. Auf­grund der neuen hellen Aus­wärts­trikot war gar vom weißen Bal­lett“ die Rede gewesen.

Dieser Glanz war ver­schwunden, als sich gerade einmal 22.000 Zuschauer zum Spiel um die Ananas gegen den fran­zö­si­schen Vize­meister im Olym­pia­sta­dion ein­fanden. Die Unver­wüst­li­chen auf den Rängen mussten dem Geschehen unten im weiten Rund schon mit Gal­gen­humor begegnen, sonst wären sie wahr­schein­lich schon beim Ein­marsch der Teams vor Scham unter ihren Sitz­schalen ver­sunken. Statt sich musi­ka­lisch ob des anste­henden Abge­sangs zurück­zu­halten, hatte der Ton­ma­nager eine ganz beson­dere Scheibe in den CD-Player gelegt: Tina Turner, Simply the best“. Naja. Das Spiel lief so bescheiden wie die gesamte euro­päi­sche Saison: Vorne forsch mit zwei Toren zum 2:0. Hinten mit rie­sigen Lücken und Gegen­tref­fern zum 2:2. Es war kalt. Die Zuschauer sehnten dem Schluss­pfiff ent­gegen.

Rigo­bert Song sah nur seine Hacken

Dann kam Bas­tian Schwein­steiger. In der 76. Minute ein­ge­wech­selt, wir­belte der 18 Jahre junge Unbe­kannte auf der rechten Seite ent­lang, als wollte er sich auf ewig in der Mün­chener Stammelf fest­spielen. Rigo­bert Song sah drei Minuten vor dem Schluss­pfiff nur die Hacken des Blond­schopfs, der sich geschickt am Abwehr­chef der kame­ru­ni­schen Natio­nalelf vor­bei­ge­wu­selt hatte und den Ball anschlie­ßend auf Gio­vane Elber zir­kelte. Dessen Kopf­ball ging an die Latte. Markus Feulner staubte ab. 3:2. Dass Lens in der Nach­spiel­zeit noch zum Aus­gleich kam, inter­es­sierte die Bayern-Fans später wenig. Sie fragten sich: Wer ist dieser junge Mann auf der Außen­bahn?

Der kicker“ nannte Schwein­steiger am Tag nach seiner Pre­miere Sebas­tian“. Ein Fehler. Bas­tian wäre richtig gewesen. Die fal­sche Namens­ge­bung beglei­tete Schwein­steiger über Wochen. Erst als er seinen Bekannt­heits­grad gestei­gert hatte, wurde die unnö­tige Silbe in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung all­mäh­lich getilgt. Ein Reporter fragte bei Schwein­steiger nach, der Auf­klä­rungs­ar­beit betrieb. Gestatten, Bas­tian. Philipp Lahms Namen schrieben die Zei­tungen bereits am Tag nach dessen ersten Ein­satz richtig, auch wenn der kleine Außen­ver­tei­diger bei seiner knapp bemes­senen Ein­satz­zeit (ein­ge­wech­selt für Feulner, 90.+2) keine Flanke mehr geschlagen hatte. Dass sich aus dem Trio Schwein­steiger, Lahm und auch Feulner ein Spieler dau­er­haft oben würde fest­setzen können, erschien zunächst frei­lich unwahr­schein­lich.

Die Bayern hatten vor der Saison 2002/03 kräftig inves­tiert und so ins­be­son­dere auf den Abgang Stefan Effen­bergs, der eine kurze und überaus erfolg­reiche Mün­chener Ära geprägt hatte, reagiert. Nicht nur Michael Bal­lack war nach seiner starken WM in Japan und Süd­korea an die Isar gewech­selt, auch Sebas­tian Deisler, der desi­gnierte Retter des deut­schen Fuß­balls, stand seit Juli an der Säbener Straße unter Ver­trag, fehlte aber noch ver­letzt. Zudem ver­stärkte Zé Roberto den Kader des Rekord­meis­ters. Der neue Star­auf­lauf im ohnehin mit Stars auf­ge­blähten Bayern-Kosmos gefiel Franz Becken­bauer aller­dings nur bedingt. Er wies wenige Wochen vor Schwein­stei­gers und Lahms Debüt darauf hin, dass es dem FC Bayern bei aller Liebe zu Star­trans­fers seit Jahren nicht mehr gelungen war, eigene Nach­wuchs­kräfte im Pro­fi­kader zu eta­blieren. Er lag mit dieser Ein­schät­zung nicht voll­kommen daneben. Außer Owen Har­gre­aves, Samuel Kuf­four und Markus Feulner standen zu Beginn der Saison 2002/03 keine Eigen­ge­wächse im Kader von Ottmar Hitz­feld. Und über Feulner sagte Hitz­feld nach dem Lens-Spiel kühl unter­legt: Er hat sich inter­na­tional durch­setzen können, muss jetzt aber im Ama­teur­be­reich Zei­chen setzen.“

Was aus lokal­pa­trio­ti­scher Sicht in diesen Tagen schwer wog: Ein baye­ri­scher Bub hatte den dau­er­haften Sprung nach oben seit einer gefühlten Ewig­keit nicht mehr geschafft. Als der FC Bayern am vierten Spieltag auf 1860 Mün­chen getroffen war, hatte nur ein gebür­tiger Bayer auf dem Platz gestanden – Ben­jamin Lauth im Trikot der Blauen. Es war auch diese Auf­stel­lung gewesen, die Becken­bauer dazu bewogen hatte, den mah­nenden Zei­ge­finger zu heben.

»>Bas­tian Schwein­steiger und Philipp Lahm: Die ersten Bilder ihrer Kar­rieren in der Galerie«<

Die ersten Ein­sätze Schwein­stei­gers (geboren in Kol­ber­moor, Ober­bayern) und Lahms (geboren in Mün­chen) stehen in der Retro­spek­tive beim FC Bayern für einen Wen­de­punkt. Mit Her­mann Ger­land hatten die Mün­chener bereits 2001 jenen Mann zurück ins Funk­ti­ons­team geholt, der schon in den Neun­zi­gern viele Talente für grö­ßere Auf­gaben in der Bun­des­liga auf­ge­baut hatte. Markus Feulner war der Erste, der davon pro­fi­tierte. Er kam bereits 2001 zu seinem ersten Ein­satz in der Cham­pions League, konnte sich auf Dauer jedoch nicht durch­setzen. Bas­tian Schwein­steiger hin­gegen schon. Er debü­tierte nur wenige Wochen nach seinem Cham­pions-League-Debüt auch in der Bun­des­liga, eine Saison später war er Stamm­spieler und fuhr im Sommer 2004 mit zur EM. Philipp Lahm nahm eben­falls eine rasante Ent­wick­lung, auch wenn er dafür einen Umweg über den VfB Stutt­gart ging. Nach zwei Jahren als Stamm­spieler im Schwa­ben­land und einer EM als kon­kur­renz­loser Außen­ver­tei­diger kehrte Lahm 2005 als Hoff­nungs­träger nach Mün­chen zurück. Mitt­ler­weile hatten Piotr Tro­chowski, Michael Rensing, Chris­tian Lell, Zvjezdan Misi­movic, Paolo Guer­rero und Andreas Ottl im Trikot des FC Bayern debü­ti­tert.

Ihnen folgten Holger Bad­s­tuber, Thomas Müller, David Alaba, Toni Kroos, Diego Con­tento und Emre Can.