Trotz vieler Widerstände im Verein ist Jermaine Jones zum Rückgrat des FC Schalke 04 geworden. Der ewige Hallodri entpuppt sich neuerdings als streitbarer Elder Statesman. Tim Jürgens hat seinen Wandel beobachtet.
Alles im Leben hat seine Zeit. Jermaine Jones hat hinter den Punkt „Überkandidelte Sportwagen fahren“ auf seiner ganz persönlichen To-do-Liste schon vor längerer Zeit einen Haken gemacht. Andere fangen erst in ihren Vierzigern mit tiefliegenden Lamborghinis an. Der 31-Jährige ist schon jetzt auf Familienkutschen umgestiegen. Bei längeren Fahrten in den Boliden bekam er zuletzt schon Rückenschmerzen. Auch den protzigen Hummer hat er verkauft – und lebt das Understatement eines Ernährers. Daheim versorgt Gattin Sarah fünf Kinder und freut sich, wenn er pünktlich zum Abendbrot daheim in Düsseldorf ist. Und sollte ihr Ehemann auf dem Platz doch mal einem Gegner die Fesseln rasieren, gibt’s beim Heimkommen einen sanften Rüffel. Als Papa ist er schließlich Vorbild. Der Älteste ist zwölf – und jeder Fehltritt des Vaters birgt Konfliktpotential für den Schulhof. „Zuhause“, sagt Jones, dem lange der Ruf des Schwererziehbaren vorauseilte, „hat definitiv meine Frau die Hosen an.“
„Ich gehe auf den Platz, um zu gewinnen. Da ist mir – blöd gesagt – fast jedes Mittel recht.“
Am ersten sonnigen Tag des Jahres sitzt Jermaine Jones in Adiletten und Kurzarmtrikot an einem Bistrotisch im Schalker Stadionrestaurant. Seine Arme sind so dicht bemalt, dass kaum helle Flecken zu erkennen sind. Insignien des Ghettokids am Körper eines Geläuterten. Vor ihm liegen mal wieder zehn spielfreie Tage, weil er wegen zweier Gelbsperren sowohl in der Bundesliga als auch in der Champions League nicht spielberechtigt ist. Denn auf dem Rasen gibt der selbsternannte Pantoffelheld unvermindert den Mann fürs Grobe. Den Agent provocateur, der auch mal dazwischen kloppt, um Ordnung ins Spiel zu bringen. Einen, den der Hass von der Tribüne eher beflügelt als einschüchtert. Der das Tempo bestimmt und Gegner allein mit physischer Dominanz in die Defensive zu drängen vermag. Sein Credo: „Ich gehe auf den Platz, um zu gewinnen. Da ist mir – blöd gesagt – fast jedes Mittel recht.“
Mit dieser Einstellung hat er vor gut einem Jahr im Pokal die Fußballnation gegen sich aufgebracht. Er trat Jungstar Marco Reus vor laufenden Kameras auf den gebrochenen Zeh. Die Medien veranstalteten eine Hexenjagd. Boulevardzeitungen forderten Sperren bis an die Grenze zum Berufsverbot. Seine Herkunft wurde zum wiederholten Mal als Erklärung ins Feld geführt: die Jugend im Frankfurter Problembezirk Bonames, wo er sich gegen Kleinkriminelle und Drogendealer behaupten musste. Wie Dominosteine fielen die Klischees und kulminierten in dem amorphen Bild des unberechenbaren Bad Boys, als der er seit Urzeiten dargestellt wird. Wie es zu der Übersprunghandlung kam, kann er sich indes gar nicht erklären: „Es war rein gar nichts zwischen uns vorgefallen. Ich wusste nur, dass Marco ein sehr guter Fußballer ist, der uns gefährlich werden kann.“
Widerstände ziehen sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Was waren das damals für Zeiten! Mit Anfang zwanzig schlug er eine Schneise durchs Frankfurter Nachtleben. Der Halbstarke aus der Vorstadt war zum Jungstar bei der Eintracht aufgestiegen. Die Türsteher der Nobeldiskos, die ihn lange abgewiesen hatten, geleiteten ihn nun devot in den VIP-Bereich. Ein rasantes Leben. Schnelles Geld, schneller Sex, schnelle Biere, schnelle Autos. Schnell wie Jones selbst, der mitunter so flink war, dass er mit dem Nachdenken gar nicht hinterherkam.
Bayer Leverkusen holte ihn 2004 in den damaligen Top-Kader. Coach Klaus Augenthaler war begeistert von seiner Dynamik. „So was“, sagt der Trainer heute, „kannte ich bis dahin nur von Lothar Matthäus.“ Mit 22 Jahren lief der Hallodri aus dem Frankfurter Norden schon in der Champions League auf. Sollte er noch Zweifel gehabt haben, war er nun endgültig überzeugt, der Größte zu sein. Fünf seiner Freunde hatte er gleich mit ins Rheinland gebracht, damit es ihm nicht fad wurde. Sie lebten zusammen in seiner Wohnung und frönten dem Hedonismus des neureichen Jungprofis.
Klaus Augenthaler half ihm auf die Sprünge
Die Party sollte nie enden. Doch das Licht ging schneller an als gedacht. Jones’ Lebenswandel machte sich vermehrt in kleinen und größeren Verletzungen bemerkbar. Doch ihm selbst fiel es schwer, diesen Zusammenhang zu erkennen. Erst als Augenthaler ihn nach nur einem Jahr aussortierte, weil er seine Einstellung für untherapierbar hielt, fiel der Groschen.
Beratungsresistent und verletzungsanfällig – kein ideales Führungszeugnis für die Jobsuche. Der Ruf des aufsässigen Partykickers hatte Kreise gezogen. Angebote von Top-Klubs blieben aus. Jones fürchtete, in den Abgründen der zweiten Liga neu anfangen zu müssen, als ihn Friedhelm Funkel nach Köln in ein Café lud. Der damalige Trainer von Eintracht Frankfurt hatte den Rat seines Bosses Heribert Bruchhagen ignoriert, der Jones auf keinen Fall zurückhaben wollte. In einem dreistündigen Gespräch rang Funkel dem Geschassten das Versprechen ab, künftig ein profigerechtes Leben zu führen. Nur dann bestehe noch Hoffnung für ihn und seine Karriere. Der reuige Jungstar willigte ein. „Vielleicht war es das wichtigste Gespräch meines Lebens“, sagt er heute. Ein halbes Jahr später kehrte Eintracht in die Bundesliga zurück. Jones haute sich derart rein, dass der Trainer ihn bald zum Kapitän ernannte.
Der Fußball hat kein Langzeitgedächtnis, wenn der Erfolg zurückkehrt. Der FC Schalke 04 machte ihm ein Angebot, das er nicht ablehnen konnte. Aber Jones verpasste den richtigen Moment, um den Frankfurter Fans seinen Abschied zu verkünden. Am Ende wurde er mit „Judas“-Rufen verjagt. Die Medien hatten einen weiteren Stein für das Image-Mosaik vom begabten, aber ehrlosen Outlaw. Dass Friedhelm Funkel sich bei Jones dafür bedankte, dass er sein Versprechen gehalten hatte, bekam in dem Chaos keiner mehr mit.
„Im Leben kriegt man alles zurück – im Positiven wie im Negativen.“
Auf dem linken Arm von Jermaine Jones steht in schwarzen Lettern: „Only God Can Judge Me.“ Ein Rapper-Stereotyp, der Stolz des Gebrandmarkten. Symbol für seine Überzeugung, auf der Suche nach dem Glück stets auf sich allein gestellt zu sein. Sein Schwiegervater hat einen christlichen Verlag geleitet. Mit ihm diskutiert er oft über Gott. Er hat ihm gesagt, dass man nicht jeden Tag beten oder in die Kirche gehen muss, um auf die Hilfe von oben zählen zu können. Jones glaubt an eine überirdische Gerechtigkeit: „Im Leben kriegt man alles zurück – im Positiven wie im Negativen.“
Seit sechs Jahren ist er nun auf Schalke, dieser als Fußballklub getarnten Titanic, die sich auf lyrische Art als unsinkbar stilisiert, so dass selbst beim Untergang noch auf allen Decks im Rhythmus der Kapelle geschwoft würde. Die Liaison ist wie all seine vorherigen im Profigeschäft keine einfache.
2011 hatte er S04 bereits aus seinem Herzen verbannt. Felix Magath hatte Jones zu den Amateuren geschickt, angeblich weil der sich weigerte, nach einer Verletzung frühzeitig ins strapaziöse Training einzusteigen. Um weiter auf Top-Niveau zu spielen, ließ Jones sich zu deutlich schlechteren Konditionen zu den Blackburn Rovers ausleihen. Als die Knappen im Mai 2011 in Berlin den Pokal holten, fühlte er sich im fernen England wie Napoleon auf Elba. Abgeschoben und vergessen. Kein Anruf kam aus Deutschland. Für Jones war klar: Dahin wollte er nie mehr zurück. Doch kein anderer Verein war bereit, ihn zu den luxuriösen Konditionen, die er im Pott genießt, zu verpflichten. Als das Leihgeschäft in Blackburn auslief, kam er also widerwillig zurück nach Gelsenkirchen. Immerhin: Magath war weg.
Anfangs lebte er im Hotel am Schalker Stadion. Eines Abends traf er einige Fans an der Bar. Ein netter Plausch, ein paar Biere, es wurde spät. Am nächsten Tag teilte Magaths Nachfolger Ralf Rangnick mit, dass er nicht mehr mit ihm plane. Der nächste Rückschlag.
Erst als auch Rangnick sein Amt niederlegte, erkannte der streitbare Huub Stevens in Jones den idealen Sortierer für seinen Rückraum – und er war wieder im Rennen. Wie zwei angriffslustige Panther balgten sich die beiden immer wieder lautstark um die Taktik – und verstanden sich blendend. Als der Trainer erwog, ihn sogar zum Kapitän zu berufen, legte plötzlich Aufsichtsratschef Clemens Tönnies sein Veto ein. Offenbar traute der Schalker Boss dem kantigen Sechser mit Mangel an Diplomatie diese Verantwortung nicht zu.
Jones, einer, der in der Krise vorangeht
Magath, Rangnick, Stevens – Jones hat sie auf Schalke alle überlebt. Sogar den Willen des mächtigen Wurstfabrikanten Tönnies unterlief er schließlich. Nachdem sich der Profi wegen der Intervention in der Kapitänsfrage auch aus dem Mannschaftsrat zurückgezogen hatte, nahm ihn nach der Demission von Huub Stevens im Winter plötzlich Sportdirektor Horst Heldt beiseite. Das Team brauche jetzt einen Typen wie ihn. Einen, der marschiert. Einen, der in der Krise vorangeht.
Nach den entbehrungsreichen Monaten fühlte es sich irgendwie gut an, gebraucht zu werden. Jones reagierte wie ein Krisenmanager. Er sprach dem glücklosen Joel Matip Mut zu. Er solle aufhören, sich so viele Gedanken zu machen. Zur Not auch mal ein Bierchen trinken gehen, um lockerer zu werden. Er sagte: „Das Leben – besonders das eines Profis – besteht nur aus Momentaufnahmen.“ Am einen Tag ein Held, am nächsten ein Arschloch. So ist das Geschäft. Er wusste genau, wovon er sprach: Er hatte es alles selbst erfahren.
Jones avancierte in der Orientierungslosigkeit um den Jahreswechsel zum guten schlechten Gewissen der schlingernden Truppe. In bester Effenberg’scher Manier gibt er heute den opferwilligen Teamplayer: „Wenn ich das taktische Foul machen muss – und die Mannschaft am Ende der Saison oben steht – dann mache ich es halt.“
Eine Konsequenz dieser Haltung ist nun, dass er eine Wette gegen Horst Heldt verloren hat. Nachdem Jones in der vergangenen Saison mit 14 Gelben Karten Spitzenreiter in der Ligastatistik war, wettete er vor dieser Serie, maximal vier Verwarnungen zu bekommen. Ein aussichtsloses Unterfangen. Bereits jetzt hat er die Marke gerissen. Der rustikale Weltmeister Klaus Augenthaler adelt ihn nachträglich: „Ich war weiß Gott kein Kind von Traurigkeit, aber gegen Jermaine hätte ich nicht spielen mögen.“
Lange Zeit spielte er nur unter Schmerztabletten
Doch auch in dieser Hinsicht hat Jones dazugelernt. Zu Frankfurter Zeiten hat er sich im Training so halsbrecherisch in jeden Zweikampf gestürzt, dass er in wiederkehrenden Zyklen auf der Krankenstation vorstellig werden musste. Heute springt er bei den Einheiten auch mal hoch, bevor es auf die Knochen geht. Im linken Knie hat er zwei Schrauben, im Schienbein eine weitere. Jones: „Da kann also nicht mehr viel kaputtgehen.“ Die Zeiten, in denen er praktisch mit jeder Mahlzeit auch Schmerzmittel zu sich nahm, sind lange vorbei.
Sein Körper hat die Strapazen der 13 Profijahre weggesteckt. Sollte sein Vertrag nach 2014 auf Schalke nicht verlängert werden, erwägt der Elder Statesman den Wechsel in die amerikanische Profiliga. Er hat ein Haus in Los Angeles gekauft, unweit des Wohnorts seines Vaters, der aus den USA stammt. Dorthin will er mit der Familie nach dem Karriereende auswandern. Es scheint, als seien die Widerstände, mit denen er im Land seiner Väter zu kämpfen hat, irgendwie unbedeutender als die hier in Deutschland. Obwohl er im Juniorenalter für den DFB spielte, entschied er 2008, nachdem Jogi Löw ihn trotz guter Vorbereitung nicht für die Europameisterschaft nominiert hatte, fortan für die USA aufzulaufen. Dort hat sein Wort Gewicht. Nationalcoach Jürgen Klinsmann hat ihn gerade zum Kapitän gemacht.
Jermaine Jones, wenn sich im Leben immer alles ausgleicht, wie steht es um Ihr Gerechtigkeitskonto? Er überlegt. Summiert die vielen Verletzungen, die er als Quittung für seine Exzesse in jungen Jahren versteht. Er streicht über die tätowierten Arme und sagt: „Ich habe frühzeitig die Kurve gekriegt, ich bin noch fit, um ein paar Jahre zu spielen. Es ist wohl etwas mehr auf der Haben-Seite.“ Dann steigt er in seine klobige Familienkutsche und drückt aufs Gas. Die Gattin wartet mit dem Abendbrot.