Lew Jaschin, der Tor­wart, der seine Allein­stel­lung in dieser Rolle nicht insze­nierte, dessen Leben und dessen Bon­mots sich trotzdem so lesen, als seien sie gesagt worden, um irgend­wann das Fun­da­ment seines Mythos zu legen. Der Tor­wart, den zeit­le­bens eine gehem­nis­volle Aura beglei­tete, die Licht­ge­stalt hinter dem Eisernen Vor­hang, auf die sich alle Fuß­baller in Ost­eu­ropa einigen konnten. Jaschin, der Tor­wart, der jen­seits des Platzes so gar nicht in diese Scha­blone Fuß­baller“ hin­ein­passen wollte.

Was genau Lew Jaschin am 9. Juli 1960, jenem Samstag vor dem Finale der ersten Euro­pa­meis­ter­schaft tat, ist nicht erzählt. Jahre nach seinem Tod ver­riet seine Frau Walen­tina aller­dings: Vor den Spiel­tagen ging Lew fischen, und wenn er etwas fing, schaute er dem Spiel gelassen ent­gegen.“ 

Und als Lew Jaschin am 10. Juli 1960 den Rasen des Parc des Princes in Paris betritt, schaut er tat­säch­lich so: gelassen, fast weise. Die UdSSR spielte eine über­ra­gende Qua­li­fi­ka­tion, vor über 100.000 Zuschauer besiegte die Sbor­naja“ Ungarn im Mos­kauer Lenin­sta­dion mit 3:1. Im Halb­fi­nale wurde die Tsche­cho­slo­wakei mit 3:0 aus­ein­ander genommen. 

Jeder Angriff der Welt

Nun, gegen Jugo­sla­wien, lässt Trainer Gawriil Kat­schalin exakt die­selbe For­ma­tion wie gegen die CSSR auf­laufen, doch die Domi­nanz auf dem Feld scheint zunächst dahin. Beson­ders Dra­go­slav Seku­larac, Publi­kums­lieb­ling und genialer Regis­seur der Jugo­slawen, hält die sowje­ti­schen Abwehr­spieler auf Trab. Es ist ein hartes Spiel, kein unfaires, und Lew Jaschin durch­denkt es wie eine Schach­partie, er ahnt jeden Schuss voraus, er anti­zi­piert jeden Laufweg der Gegner, er hechtet durch den Straf­raum, und mit schein­barer Leich­tig­keit ver­ei­telt er die Vor­stöße der jugo­sla­wi­schen Angreifer, die fast im Minu­ten­takt auf sein Tor rollen. 

Auf der Tri­büne sitzen die Reporter mit Stift und Zettel, ver­zau­bert, die Ersatz­spieler der Jugo­slawen indes ein paar Meter neben dem Feld mit offenen Mün­dern, ent­geis­tert. Sie kennen Lew Jaschin bereits von den Olym­pi­schen Spielen 1956 in Mel­bourne, von der WM 1958 in Schweden, doch diese erste EM, die im Jahr 1960 noch Euro­pokal der Nationen heißt, und die der deut­sche Natio­nal­trainer Sepp Her­berger als reine Zeit­ver­schwen­dung“ abwe­delt, wird ihn zum unum­stritten besten Tor­hüter seiner Zeit machen. Schon wäh­rend des Spiels schreibt ein fran­zö­si­scher Jour­na­list der Zei­tung L’Equipe“ in seinen Block: Dieser Tor­wart hätte ver­mut­lich jeden Angriff der Welt zur Ver­zweif­lung gebracht.“ 

Starr steht Jaschin kaum, jede Bewe­gung fließt in eine neue, in eine noch ele­gan­tere. Es sieht unan­ge­strengt aus, wenn Jaschin die Fäuste hoch­reißt, so ein­fach und unbe­schwert, wenn er eine Flanke über den Köpfen der jugo­sla­wi­schen Stürmer her­un­ter­fischt, den Ball per Drop­kick nach vorne schlägt oder einen Schuss aus der Ecke kratzt. Und eigent­lich, wenn man Jaschin dabei zusieht, hechtet er gar nicht, er schwebt. Wie schwe­relos. Wie ein Astro­naut.