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Als Stefan Kieß­ling nach Lever­kusen kam, war er abends oft alleine. Vor den Spielen knab­berte er Erd­nüsse und trank eine Dose Cola, das hatte er sich in Nürn­berg ange­wöhnt. Er war nicht das, was man unter einem Mus­ter­profi ver­steht – aus Ein­sam­keit. Das erste halbe Jahr an der Dhünn geriet über­dies zum sport­li­chen Desaster. Kieß­ling ver­sprangen die Bälle, sein Spiel wirkte höl­zern. Und wenn der 1,91 Meter große und ziem­lich schlak­sige Stürmer zu Kopf­bällen hoch­steigen wollte, sank er ver­blüf­fend oft zu Boden. Und so ein Hänf­ling sollte 6,5 Mil­lionen Euro wert sein? Im Dezember 2006 nahm sich die Bild“-Zeitung der Sache an und titelte: Die teu­erste Brat­wurst, die je aus Nürn­berg kam“. Damit es auch jeder ver­stand, war dar­unter sei­ten­fül­lend ein Würst­chen abge­bildet.

Knapp sieben Jahre später ist Kieß­ling mit 25 Toren zum ersten Mal Bun­des­liga-Tor­schüt­zen­könig, doch für Bayer-Manager Michael Reschke ist damit längst nicht alles über seine Qua­li­täten gesagt: Er wird mir im Moment fast zu sehr auf seine Tore redu­ziert. Ihn macht aus, dass er so viel für die Mann­schaft arbeitet.“ Genau das hatte schon damals den Aus­schlag gegeben, ihn zu ver­pflichten. Die Bayer-Bosse hatten ihn schon länger im Blick, ein gemein­samer Besuch in Polen im August 2005 brachte end­gül­tige Klar­heit. Eine unfass­bare Lauf­leis­tung“, erin­nert sich Reschke an Kieß­lings dama­ligen Auf­tritt im U21-Natio­nal­team. Ich habe gedacht, das ist unmög­lich, was der gelaufen ist. Was musste dieser Spieler für einen Cha­rakter haben.“ Das bestä­tigte die Mei­nung der Scouts von Bayer. Sie hatten Kieß­ling zuvor bereits zig­fach beob­achtet und wie üblich auf einer Skala von eins bis zehn bewertet. Zehn“ bedeutet so viel wie Messi“. Kieß­ling erhielt die äußerst selten ver­ge­bene Höchst­note in der Kate­gorie Men­ta­lität / Ein­satz­be­reit­schaft“. Nur ein anderer Spieler wurde ein paar Jahre später genauso hoch ein­ge­schätzt: Lars Bender.

Wie einst Klins­mann

Der junge Franke im Natio­nal­trikot erin­nerte die Scouts an Jürgen Klins­mann, und zwar an den mit­rei­ßenden Klins­mann aus dem WM-Spiel gegen die Nie­der­lande 1990. Die Mil­lionen für Kieß­ling waren ver­fügbar, weil Dimitar Ber­batow am Ende der Saison in die Pre­mier League wech­selte. Die Bayer-Bosse waren sich dessen schon früh gewiss, weil Tot­tenham wild ent­schlossen um ihn buhlte. Kieß­ling selbst übri­gens denkt bis heute, er wäre ergän­zend zum bul­ga­ri­schen Sturm­führer ver­pflichtet worden. Die Bayer-Ent­scheider sahen ihn aber als Ber­batow-Nach­folger, ihre interne Pro­gnose lau­tete: Ten­denz zum inter­na­tio­nalen Spit­zen­spieler“. In Lever­kusen waren sie sicher, den neuen Ulf Kirsten gefunden zu haben.
Aller­dings war der damals 22-Jäh­rige in Nürn­berg nicht einmal Stamm­spieler gewesen. Auch plagte Kieß­ling anfangs das Heimweh, von Nürn­berg aus hatte er noch die Wäsche zu seiner Mutter in seinen frän­ki­schen Hei­matort Lich­ten­fels gebracht. Es war eine schwie­rige Zeit, zum ersten Mal 500 Kilo­meter von zu Hause ent­fernt zu sein“, sagt er heute. Kör­per­lich musste er eben­falls zulegen. Bei Bayer schickten sie ihn regel­mäßig in den Kraft­raum, den er in Nürn­berg gemieden hatte.

Der dama­lige Trainer Michael Skibbe, der viele junge Spieler wie René Adler, Gon­zalo Castro oder Simon Rolfes ins Team ein­baute, ver­schaffte dem zuvor als Wurst ver­spot­teten Kieß­ling nach der Win­ter­pause 2007 auf unge­wohnter Posi­tion eine neue Chance. Wahl­weise über Rechts- oder Links­außen belie­ferte Kieß­ling in der Sturm­mitte den Rou­ti­nier Sergej Bar­barez. Mit jedem Flan­ken­lauf gewann Kieß­ling an Selbst­ver­trauen. End­gültig ange­kommen beim Bun­des­liga-Spit­zen­klub war er, als Sport­vor­stand Rudi Völler im Dezember 2008 öffent­lich fest­stellte: Er fällt nicht mehr um.“ Die Meta­mor­phose vom Vor­be­reiter zum Voll­stre­cker hatte aber gerade erst begonnen. Im Sommer 2009 sollte ein Trainer in sein Leben treten, der noch einmal alles ver­än­derte. Jupp Heyn­ckes, der selbst einst Bun­des­liga-Tor­jäger war, star­tete in der frisch reno­vierten BayA­rena sein viel beach­tetes Spät­werk. Auch Kieß­ling pro­fi­tierte davon.

Wenn er heute über seine Ex-Trainer redet, sagt er der Skibbe“, der Lab­badia“ und – der Jupp“. Heyn­ckes lenkte seinen Kampf­geist und seine Lauf­be­reit­schaft in pro­duk­tive Bahnen. Außerdem sprach er mit seinem wich­tigsten Stürmer, eigent­lich immer, wenn er mich gesehen hat“. Dann legte Heyn­ckes mit­unter den Arm väter­lich um ihn und ver­sorgte ihn mit Stür­mer­weis­heiten. Deine innere Ruhe macht das Spiel schnell“, erklärte der Meis­ter­trainer seinem Mit­tel­stürmer. Schnauf beim Abschluss noch mal durch, mach die Aktion etwas lang­samer.“ Der große Blonde hielt sich dran und erzielte 21 Bun­des­li­ga­treffer, so viele wie nie zuvor – nur Edin Dzeko vom VfL Wolfs­burg traf häu­figer. Dann reiste er mit der Natio­nal­mann­schaft zur WM nach Süd­afrika.

Der Ticket­ver­teiler

Wie sehr Kieß­ling die Geschichte mit der Brat­wurst gewurmt hatte, lässt sich daran ablesen, dass er sie bis heute auf­be­wahrt hat. Im Sommer 2010 wurden in den Zei­tungen aber längst seine Stärken beschrieben. Nun galt er als Pro­totyp des schuf­tenden Stür­mers. Man erkannte, wie er immer mit voller Wucht in die Zwei­kämpfe ging und in den letzten Spiel­mi­nuten oft am eigenen Sech­zehner klärte. Die Schwä­chen in der Ball­an­nahme und Ball­mit­nahme hatte er abge­stellt und mit Co-Trainer Peter Her­mann dreimal in der Woche zusätz­li­ches Flan­ken­trai­ning gemacht. So hat Kieß­ling inzwi­schen rund die Hälfte seiner Bun­des­li­ga­tore für Bayer per Kopf­ball erzielt und zuletzt fast fünfzig Pro­zent seiner Kopf­ball­du­elle gewonnen, was der Liga-Spit­zen­wert ist.

Bei der WM in Süd­afrika spielte er den­noch nur 24 Minuten – acht gegen Eng­land und 16 gegen Uru­guay. Im Team­hotel Vel­more Grande zog sich für ihn die Zeit wie Kau­gummi. Er kam mit dem Gefühl nach Lever­kusen zurück, dass ihn die WM-Teil­nahme nicht wei­ter­ge­bracht, son­dern zurück­ge­worfen hatte. Als er dann Anfang der Saison vom Nürn­berger Ver­tei­diger Andreas Wolf böse gefoult wurde und anschlie­ßend vier Monate pau­sieren musste, fiel er in ein tiefes Loch. Wenn ich vom Kopf her anders drauf gewesen wäre, wäre es auf dem Platz viel­leicht gar nicht zu dieser Situa­tion gekommen“, meint er heute. Er verlor seinen Stamm­platz an Eren Der­diyok und wurde nach seinem Come­back zeit­weise zum Ein­wech­sel­spieler. Die Saison endete mit immerhin noch sieben Tref­fern, im Jahr darauf waren es schon wieder 16.
Als Sascha Lewan­dowski und Sami Hyypiä im April 2012 die Bayer-Profis von Robin Dutt über­nahmen, wun­derten sie sich, dass Kieß­ling nicht im Mann­schaftsrat ver­treten war. Im Sommer beför­derten sie ihn in das Gre­mium, um ihren zuver­läs­sigen Tor­schützen noch stärker zu machen, und die Wert­schät­zung nach innen und außen zu doku­men­tieren. Lewan­dowski beein­druckte, dass Kieß­ling an jedem Tag der erste Profi beim Trai­ning war und jeden Morgen Trainer wie Betreuer begrüßte, um ein Schwätz­chen zu halten. Nach der Som­mer­pause kam er sogar drei Stunden früher zum Dienst und fragte die Phy­sio­the­ra­peuten, wo sie ihren Urlaub ver­bracht hätten. Und wenn sie mit der Mann­schaft reisen, ver­teilt Kieß­ling am Flug­hafen die Tickets und im Hotel die Schlüssel.

Zugunsten von Kieß­ling ver­än­derten Lewan­dowski und Hyypiä die offen­sive Grund­ord­nung. Das neue 4 – 3‑3-System mit einem Neuner und zwei hän­genden Spitzen, war für den Stürmer in der Mitte beson­ders vor­teil­haft, weil die anderen beiden Spitzen (Schürrle und Sam bzw. Castro) sehr dicht neben ihm spielten. Die hoch ste­henden Außen­ver­tei­diger sorgten für Flanken, der Tor­jäger bekam dadurch im Spiel ins­ge­samt mehr Chancen.
Als BVB-Ver­tei­diger Mats Hum­mels mal gefragt wurde, welche Stürmer ihm die größten Pro­bleme berei­teten, nannte er Demba Ba und Stefan Kieß­ling. Ihre Gemein­sam­keit: ath­le­ti­scher Körper, starker Fuß. Jupp Heyn­ckes hat Kieß­ling sei­ner­zeit mit Marco van Basten ver­gli­chen, weil er so selten den Ball ver­lieren würde wie der Hol­länder. Bei den Fans gilt er wegen seiner Kopf­ball­stärke als rhei­ni­scher Didier Drogba. Kieß­ling fand in der Saison, die seine erfolg­reichste werden sollte, aber auch seinen Meister. Luisao, der bul­lige Innen­ver­tei­diger von Ben­fica Lis­sabon, stoppte ihn in der Europa League, am Boden und in der Luft.

Sid, hau ab!“

Ins­ge­samt aber spielte Kieß­ling in der letzten Saison unglaub­lich kon­stant. So war zum Ende der Saison die Tor­jä­ger­ka­none greifbar, aber im Fern­duell mit BVB-Tor­jäger Robert Lewan­dowski zählte jeder Treffer. Als im letzten Heim­spiel gegen Han­nover 96 der etat­mä­ßige Straf­stoß­schütze Kieß­ling gefoult wurde, schnappte sich Sidney Sam den Ball zum Elf­meter (und ver­schoss auch noch). Ein klarer Bruch der Genfer Kon­ven­tionen für funk­tio­nie­rende Mann­schafts­ge­füge. Kieß­ling sagte hin­terher zwar, er sei stink­sauer und ange­fressen gewesen, aber wohl nicht son­der­lich lange. Schon in der Kabine sprach er wieder freund­schaft­lich mit dem jün­geren Kol­legen, der sich zuvor bei ihm ent­schul­digt hatte. In Lever­kusen sagen sie: Ein Füh­rungs­spieler mit einem anderen Natu­rell hätte schon auf dem Platz gesagt: Sid, hau ab!“

Vor dem letzten Sai­son­spiel beim HSV pre­digte Sascha Lewan­dowski seinen Spie­lern, dass sie wieder ganz normal angreifen sollten. Ihm war auf­ge­fallen, dass der Ball nur noch auf Kieß­ling gespielt worden war. Der Hin­weis zahlte sich aus. Sam konnte ihm den Ball in der 90. Minute auf­legen, und Kieß­ling erzielte den Treffer, der ihn in die Geschichts­bü­cher beför­derte. Die anderen Spieler trugen ihn hin­terher auf Händen, wie man das sonst nur von Meis­ter­trai­nern kennt. Wahr­schein­lich ist ein Tor­schüt­zen­könig noch nie so gefeiert worden wie Kieß“. Michael Reschke, der Bayer-Manager, sagt: Ich habe auf der Tri­büne geju­belt, als hätten wir die Deut­sche Meis­ter­schaft geholt.“

Kein echter Neuner

Lever­kusen kann also doch Titel gewinnen“, sagt Kieß­ling augen­zwin­kernd ein paar Wochen später, kurz nach Trai­nings­auf­takt. Die Tro­phäe hat er zu Hause in den Tisch­ten­nis­raum gestellt. Wie wichtig der inzwi­schen 29-Jäh­rige für den Klub geworden ist, stellte in der Som­mer­pause der Sport­vor­stand klar. Als immer wieder beacht­liche Offerten von aus­län­di­schen Klubs ein­trafen, viele davon aus dem rus­si­schen Sprach­raum, sagte Rudi Völler: Stefan ist das Herz von Bayer. Ein Fix­punkt, wie früher Ulf Kirsten.“ Denn auch wegen Kieß­lings Zuver­läs­sig­keit hat sich Bayer als dritte Kraft in der Bun­des­liga eta­bliert. Die Plat­zie­rungen in den ver­gan­genen vier Jahren: 4., 2., 5., 3.

Im Bayer-Umfeld nimmt man es inzwi­schen eher ach­sel­zu­ckend hin, dass der Bun­des­trainer auf ihren erfolg­reichsten Stürmer ver­zichtet. Viel­leicht sei es gar nicht so schlecht, dass Kieß­ling nicht zu Län­der­spielen reisen müsse. Weil sein Spiel so auf­wendig sei, könne er die Zeit gut gebrau­chen, um zu rege­ne­rieren. Kieß­ling selbst hat sich zuletzt eine gesunde Gelas­sen­heit zum lei­digen Thema antrai­niert. Was soll er auch machen? Er hat ein­fach das Pech, dass neben den gesetzten Miroslav Klose und Mario Gomez so viele Mit­tel­feld­spieler wie noch nie auch als Stürmer spielen können. Des­halb muss der dritte Stürmer im 23er-Kader kein echter Neuner sein. Und warum, sagt man im DFB-Trai­ner­stab hinter vor­ge­hal­tener Hand, sollten wir plötz­lich wieder mit hohen Flanken han­tieren? Joa­chim Löw hat auch gestört, dass ihm Bild“ eine Zeit­lang vehe­ment Kieß­lings Nomi­nie­rung nahe­legte, denn auf solche Ein­mi­schungs­ver­suche reagiert der Bun­des­trainer all­er­gisch. Und es ent­behrt zumin­dest einer gewissen Komik nicht, dass die Ex-Brat­wurst nun wohl sogar zu viel gelobt wurde.