Seit 1996 steht Moritz Herrmann mit Dauerkarte in der Gegengerade am Millerntor. Am Sonntag erstrahlte die Tribüne in neuem Glanz, der marode Oktopus ist einem Dezibelmonster gewichen. Und unser Autor fragt sich: Kehrt jetzt auch der Roar zurück?
Es ist eine Krux mit der Nostalgie. Sie taugt eigentlich nur für Menschen, die nicht an die Zukunft glauben. Am Sonntag aber, 3. Februar 2013, 12:46 Uhr, Heiligengeistfeld in Hamburg, da war der Drang immens, sich mit nostalgieverschleierten Augen alter Zeiten zu besinnen. Der FC St. Pauli weihte im Heimspiel gegen Energie Cottbus seine neue Gegengerade ein, und die alte Tribüne war omnipräsent. Man verglich: Stimmung, Bier, Wurst, Senf, Urinal, Sicht, Gesichter, Leben. Fünfzig Jahre hatte die bröckelnde Gegengerade überlebt; hier war all das gekeimt, wofür der Verein heute wahlweise geliebt, gehasst oder belächelt wird. Nennen wir das Gefühl also einfach schwelgerische Romantik. Ein letzter Blick zurück, bevor tausend Blicke nach vorne gehen.
Schon die Außendarstellung könnte sich eklatanter nicht gewandelt haben. Einst sah man rostige Stahlrohre, die den Sitzplatzbereich trugen, ein 1988 auf drei Jahre errichtetes Provisorium, das zur Konstante wurde. Die Verschraubung verhöhnte alle Sicherheitsauflagen, wurde aber bis zuletzt wider jede Vernunft lizensiert. Und in den TV-Wellblechverschlägen auf dem Dach schwitzten die Kameraleute, wenn die im Erfolgsfall hyperventilierende Masse ihre Vogelhäuschen wackeln ließ. Regelmäßig litten die Zuschauer des DSF an den unscharfen Bildern vom Millerntor. Heute ist das Rostrot einem Klinkerrot gewichen und das Fernsehen in den stabilen Pressebereich. Der graue Beton wirkt solide, fest, ewig. Es wird keine zittrigen Aufnahmen mehr geben.
„Das Wort Paaadie kann ja keiner mehr hören“
In den Gängen, am Bierstand, auf den Toiletten: Hitzige Debatten. Ey, wie findest du das Ding? Wo steht ihr jetzt? Bist du verkatert? Schöne Kacheln! Hässliche Kacheln! Mach‘ schneller da mit dem Astra! Bela B, Drummer der Ärzte, hat mal gesagt: „Das Wort Paaadie kann ja keiner mehr hören, seit es in jedem zweiten Bericht über das Millerntor vorkommt. Wenn ich hergehe, meine ich damit: Wurstessen, auf jeden Fall Biertrinken und mit den Leuten am Klo anstehen. Hier finden Gespräche statt, die garantiert nirgendwo anders so ablaufen, und da geht es nicht nur um Fußball.“ Vor dem Schlund, der die Fans in Block C ausspuckt, räsonieren zwei schiebermützentragende Mittfuffziger über ein Flugblatt vom Aktionsbündnis gegen Sexismus und Homophobie. Das ist doch aber! Man sollte trotzdem auch! Die Gleichgültigkeit ist nicht miteingezogen ins polierte Gemäuer.
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Glatte, ganz saubere Stufen. Wem hier die Wurst von der Pappe rutscht, der kann sie auflesen und weiteressen. Fehlt nur das Schild: Vorsicht, gebohnert. Man muss sich erst daran gewöhnen, dass die vertraute Fäulnis überbaut wurde. In der Vorgängerkurve sammelte sich der Regen zu stehenden Gewässern, die Bassinstufen verschlammten die Schuhe und jeder trug sein abgefucktestes Paar. Es war ein schönes Bild: Kids, Greise und Geschäftsleute, geeint durch ausgelatschte Turnschuhe und Gummistiefel. Später wurde diese Melange zum Klischee Banker-neben-Punker überhöht, im Kern aber war sie wirklich wahr. Wie zum Beweis bettet ein zerlebtes Partytier mit Irokesenschnitt, das den 5 Grad Celsius souverän im Unterhemd trotzt, seinen Kopf auf die feinen Schuhe des Nebenmannes. Ausruhen, auskatern, auschlafen. Der Kollege guckt erst pikiert, dann amüsiert, und lässt gewähren. Ein bisschen Frieden.
Ein Ozean aus Schals und Bannern
13:22 Uhr, acht Minuten bis Anpfiff. Marius Ebbers steht andächtig neben der Eckfahne und lauscht dem Chor der 13.000 Kehlen. Die Gegengerade singt Gerry & The Pacemakers „You’ll Never Walk Alone“, die klassische Version, mittlerweile ein Usus in deutschen Stadien, aber eingeführt vor zwei Jahrzehnten am Millerntor. Im Ozean aus Schals und Bannern schwillt der Refrain zum Crescendo, und Ebbers grinst wie der Totenkopf auf den Riesenfahnen. Vor einer Woche hat der betagte Stürmer erfahren, dass sein Vertrag auf St. Pauli nicht verlängert wird. Er gibt sich nochmal, was er bald missen muss. Eine spezielle Form des Masochismus.
Welche Veränderung erfährt ein Publikum, wenn sich seine Heimat wandelt? Oder, anders gefragt: Entsteht in einem neuen Stadion automatisch eine neue Atmosphäre? Die Gegengerade bietet nun Platz für 13.000 Menschen, gerade mal 3000 davon sitzen. Mit der verdoppelten Kapazität stellt sie fast die Hälfte aller Besucher, gegen Cottbus sorgen 26.578 für einen Zuschauerrekord. Der höchste Platz liegt 20 Meter über dem Rasen. Aber diese Zahlen allein garantieren keine Stimmung. Nicht die Bausubstanz prägt eine Kurve, sondern der Fan. Die Gegengerade ist eine Hülle, die es mit Leben zu füllen gilt. Schwer wiegt das Erbe der Vorgängerin, zahlreich ranken sich die Legenden.
Das Meer der Verrückten schlug wilde Wellen
Hier hisste Doc Mabuse den ersten Totenkopf, hierher pilgerten die Besetzer der Hafenstraße. Die Dagegen-Gerade wurde sie genannt, der linken Protestkultur wegen. Zwar ist der Ruf über die Jahre ausgezehrt, aber lustig und laut blieb die Kulisse trotzdem. In den besten Momenten war sie ein um sich greifender, besoffener Oktopus, ein Höllenzirkus zwischen Charme und Scham, angefixt von der Singing Area. Manchmal dümpelte der Sound vor sich hin, aber häufiger noch, wenn es gut lief (und auch sonst), schlug das Meer der Verrückten wilde Wellen, die ihre abgekämpften Spieler mit neuem Adrenalin flutete, über den Wadenkrampf hinaus.
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Wie beim legendären 4:3 über Hertha BSC im Pokal. Wie bei Marcus Marins rettendem Last-Minute-Treffer gegen Oberhausen. Wie beim 2:1 über Carl Zeiss Jena im November 1997. Natürlich wie im Jahrhundertspiel gegen Bayern München. Spiele voller Furor, Katharsis und großer Ouvertüre, initiiert durch die hysterische Gegengerade, die, auf der Vorstufe zum Exitus, kaputt und meschugge, zu swingen, zu summen, zu sieden begann. Eine Dauerkarte war das ticket to ride ins Sündenbabel, durch das Marihuananebel und Bierdunst waberten. Der Millerntor Roar verwandelte die Gegengerade zu besonderen Anlässen in ein Ungeheuer, eine Zwölf auf der Zehnerskala des Wahnsinns.
Laid-back, relaxed und friesisch-herb
Dieser Tage, so gemeinhin der Vorwurf, roart es nur noch selten. Die Singing Area ist gealtert und über die ganze Breite der Tribüne zerstreut. Ihrer statt animiert USP (Ultra Sankt Pauli) aus der Südkurve zu Gesängen. Vieles ist jetzt, mal mit den „Beginnern“ gesprochen: Laid-back, relaxed und friesisch-herb. Das muss nicht schlimm sein, in die Leere kann neue Energie stoßen. Und die Ironie, die Spontanität früherer Tage hat sich die Gegengerade trotzdem bewahrt. Als sich Energie-Manager Christian Beeck allzu energisch echauffiert, skandiert die Masse am Sonntag: „Hinsetzen! Hinsetzen!“
Schließlich wird er in der 81. Minute auf die Tribüne verwiesen. Im Fernsehbericht sieht man, wie es in seinem Gesicht arbeitet, langsam realisiert Beeck, dass kein Sitzplatz hinter der Bank wartet und er in die tobende Menge muss. Hohnsalven: „Du hast Angst! Du hast Angst!“ Beeck sagt später: „Zumindest konnte ich so an der Premierenfeier teilnehmen. War gar nicht mal so schlecht.“
Der Cottbusser steht in der Tradition von Werner Lorant und Felix Luz. Lorant empfingen, als er mit 1860 München ans Millerntor tingelte und dem Rauchen angeblich entsagt hatte, fliegende Zigarettenpackungen. Sogar eine ganze Stange klatschte dem Trainer vor die Füße.
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Und als Luz im Trikot der abstiegsbedrohten Oberhausener auf den Kiez zurückkehrte, schmetterte die Gegengerade zur Melodie von Es-gibt-nur-ein‘-Rudi-Völler: „Sportlich verbessert! Du hast dich sportlich verbessert!“ Der Blondling, ehedem Idol der Fans, war im Winter 2006 nach Augsburg gewechselt, um seine Chancen auf die erste Liga zu mehren. Die Gegengerade verfügt über ein intaktes Gedächtnis.
Das erste Heimspiel vor neuer Tribüne endet schließlich 0:0. Die Leistung der Braun-Weißen gegen Cottbus lässt viel Luft nach oben, auch die Dezibelstärke von den Rängen ist noch ausbaufähig. 273 Tage nach dem Abschied von der alten Ruine, zwölf Millionen später, fremdeln manche Fans noch, bei den meisten aber ist die Resonanz positiv. Ein Schmuckstück! Wenn jetzt noch der Roar einzieht und die Wache nicht!
Es heißt nochmal kämpfen!
Es ist der letzte zu fechtende Streit im Stadion, und einer mit richtungsweisendem Charakter: Viele Anhänger glauben die Fankultur nur dann intakt, wenn sie die überdimensionierte Polizeistation im Betonbauch verhindern und ein Vereinsmuseum durchsetzen. Wenn die Wache wie bisher in der Nähe angesiedelt bleibt, restauriert mit Vereinsgeldern, dem Publikum zuliebe. Es heißt nochmal kämpfen, wie gegen den Millerntaler und den Verkauf des Stadionnamens. Danach können tausend Blicke nach vorne gehen.