Über siebzig Jahre lang haben die Steine geschwiegen. Geschwiegen von einer Zeit, die die meisten wohl am liebsten ein­fach ver­gessen hätten. Von den Jahren der Schande in Bra­si­lien, die so weit weg schienen, dass man dar­über heute nur ungläubig lächelnd die Köpfe schüt­telte, wenn doch einer von den Alten die Geschichte mit gesenkter Stimme zu erzählen begann. Geschwiegen von Aloísio Silva, der Nummer 23 – dem Kind, dem seine Kind­heit gestohlen wurde.

Viel­leicht wäre Aloí­sios Geschichte nie­mals erzählt worden, hätte nicht eines Tages José Tatao“ Maciel beschlossen, einen neuen Stall für seine Schweine zu bauen. Er wusste, dass die Steine, die er dafür ver­wenden wollte, aus dem Abbruch­ma­te­rial der alten Hazi­enda Cru­zeiro do Sul“ stammten. Doch was er nicht wissen konnte war, dass er damit Aloí­sios Schicksal wieder zum Leben erwe­cken würde. Als Tatao“ sich also daran machte, eine alte Mauer ein­zu­reißen, ent­deckte er auf den Steinen ein Symbol des Schre­ckens – das Haken­kreuz. Doch wie konnte das sein?

Der Herr warf aus seiner Tüte Süßig­keiten“

Rio de Janeiro, Anfang der drei­ßiger Jahre des ver­gan­genen Jahr­hun­derts: Aloísio Silva ist ein Junge von neun Jahren, voller Hoff­nungen und Träume von einer Kar­riere als Fuß­ball­spieler, wie seine Vor­bilder Arthur Frie­den­reich oder Her­mann Friese. Seit er ein kleines Kind war, wurde er im Wai­sen­haus Romão de Matteos Duarte“ von Nonnen auf­ge­zogen, seine Tage ver­bringt er mit Bolzen und Rau­fe­reien an Rios feinen Sand­stränden. Eines Tages erscheint der Groß­in­dus­tri­elle Osvaldo Rocha Miranda in seinem Heim, einer der reichsten und des­halb ange­se­hensten Männer seiner Zeit in Bra­si­lien, ein Mann, dem unfassbar große Län­de­reien gehören. Er macht Aloísio und seinen Freunden ein Ver­spre­chen: Wer mit­kommt auf seine Farm, der dürfe dort jeden Tag Zucker­rohr lut­schen und auf Pferden reiten. Am Ende des Tages folgen ihm 50 Jungen auf seine Farmen Cru­zeiro do Sul“und Santa Alber­tina“ in Cam­pina do Monte Alegre. Aloísio erin­nert sich auch noch Jahr­zehnte später an diesen Tag: Der Herr warf aus einer Tüte Süßig­keiten auf uns herab, und wir haben darum gerauft. Die­je­nigen, die am meisten fingen, wurden aus­ge­wählt, mit ihm zu gehen.“

Was keines von den Kin­dern im Alter von 10 bis 12 Jahren damals weiß: Sie sind betrogen worden. Man sperrt sie in von Hunden bewachte Bar­racken, miss­braucht sie zur Feld­ar­beit, nimmt ihnen sogar ihre Namen weg und ersetzt sie durch Num­mern. Der Herr“ hat keine Zeit und Lust, sich 50 Namen zu merken, und so wird aus Aloísio Silva Nummer 23. Als Will­kom­mens­ge­schenk erhielt jeder von uns eine Hacke.“ Aloísio und seine Freunde sind fast alle­samt schwarz, werden Opfer einer per­versen Ideo­logie, die sich von Deutsch­land aus sogar bin ins ferne Bra­si­lien aus­ge­breitet hat: des Natio­nal­so­zia­lismus. Die Familie Rocha Mirada ver­schleppt die Jungen im Namen des Inte­gra­lismus, einer Strö­mung dieser rechts­ra­di­kalen Gesin­nung. 1933, drei Monate nach der Macht­er­grei­fung Adolf Hit­lers in Deutsch­land und 45 Jahre nach dem offi­zi­ellen Ende der Skla­verei, hat der Inte­gra­lismus in Bra­si­lien rund eine Mil­lion Anhänger – noch heute sollen es zehn­tau­sende sein. Aloísio muss mor­gens den rechten Arm zum Gruß recken und Anaue“ rufen, was in der India­ner­sprache Tupi-Gua­raní Sei gegrüßt“ bedeutet. In jeden der Ziegel, aus denen die Farm besteht und die José Tatao“ Maciel 70 Jahre später finden soll, lässt die Familie Rocha Miranda das Haken­kreuz ein­brennen, auch ihre Tiere werden mit diesem Güte­siegel“ gebrand­markt, das sogar noch bis 1938 das offi­zi­elle Brand­zei­chen der Farm bleibt.

Sport. Ganz im Sinne der Nazi-Ideo­logie

Wenn die Jungen nicht bis zum Umfallen schuften, müssen sie Fuß­ball spielen: Die Rocha Mirandas sind neben dem Inte­gra­lismus auch glü­hende Anhänger des Sports, haben ihre Finger auch beim Verein Flu­mi­nense Foot­ball Club aus Rio im Spiel. Auf der Farm unter­stützt man, ganz im Sinne des natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Gedan­ken­gutes, eine sport­liche Her­an­bil­dung. Aloísio ist einer der kräf­tigsten, wen­digsten und schnellsten, wird bald dazu aus­ge­wählt, seine Hazi­enda Santa Alber­tina“ als Spieler zu ver­treten. Seine weißen Gegner belei­digen ihn nicht selten als Carioca“ („Bra­si­lianer“), er zahlt es ihnen mit Toren heim. Er klaut ihnen wäh­rend des Spiels ihre Hüte vom Kopf und ver­spottet sie sei­ner­seits, was er sich nur erlauben kann, weil der Tor­wart seines Teams Sergio da Rocha Miranda ist, einer der Erben der Farm. Man nannte uns nur das ›Team von der Weide‹“, erin­nert sich Aloísio. Meist haben wir 90 Minuten gespielt und uns danach noch fünf Minuten mit der anderen Mann­schaft geprü­gelt.“

Doch abseits des Spiel­feldes erleidet Aloísio Höl­len­quallen und wird oft stun­den­lang ein­ge­sperrt, wenn er sich wider­setzt. Mehr als einmal hetzt man Hunde auf ihn, weil er ver­sucht, zu türmen. Erst 1938 endet sein Mar­ty­rium, als ein Putsch­ver­such der Inte­gra­listen gegen den dama­ligen Staats­chef und Dik­tator Getúlio Dor­nelles Vargas schei­tert, und der die bra­si­lia­ni­schen Nazis dar­aufhin ver­folgen lässt. Die Familie Rocha Miranda ist ein­fluss­reich und wohl­ha­bend genug, sämt­liche Spuren ihres fünf­jäh­rigen Ter­ror­re­gimes auf den Hazi­endas schnell zu ver­wi­schen. Die Mauern mit den Haken­kreuz-Zie­geln werden ver­klin­kert, Uni­formen und Abzei­chen muss Aloísio eigen­händig unter einer Flug­zeug-Land­bahn ver­graben. Doch erst Anfang der vier­ziger Jahre kommen er und seine Mit­in­sassen end­gültig frei. Viele ver­su­chen ent­lang der Eisen­bahn­strecke zu Fuß zurück in ihre über 400 Kilo­meter ent­fernte Heimat Rio zu gelangen. Nur ein Junge, die Nummer 2, bleibt. Er wird auf­grund vor­bild­li­chen“ Ver­hal­tens von Frau des Groß­grund­be­sit­zers adop­tiert, noch zu Zeiten der Schre­ckens­herr­schaft der Rocha Mirandas war er zum Vor­ar­beiter auf­ge­stiegen.

Aloísio folgt seinem frü­heren Traum, wird Fuß­ball­profi für den Club Estrada de Ferro Sor­oca­bana“, später kickt er noch für Derac Ita­pe­t­i­ninga“ und das Ama­teur­team von Tatuí“. Seine Kar­riere beendet er beim Clube Atlé­tico Juventus“ in Sao Paulo, wo er zwar noch trai­nieren darf, aber nicht mehr allzu oft zum Ein­satz kommt. Und obwohl auch Aloísio Santa Alber­tina“ ver­lässt, werden ihn die Jahre dort sein ganzes wei­teres Leben lang begleiten, wird die Farm immer ein Teil seines Schick­sals sein. Anfang der sech­ziger Jahre kehrt er noch einmal dorthin zurück, als der Krupp-Erbe Arndt von Bohlen und Hal­bach das ehe­ma­lige Rocha-Miranda-Anwesen erwirbt und dort rau­schende Par­ties feiert. Aloísio ist einer der Musiker, die zum Tanz auf­spielen. Noch heute lebt er, mitt­ler­weile 90 Jahre alt, in Cam­pina do Monte Alegre.

Marício Vidal da Rocha Miranda, der Groß­neffe von Aloí­sios Team­kol­legen Sergio, dem Tor­wart, ver­suchte kürz­lich in einem Inter­view, die Hölle, durch die die als Num­mern­men­schen“ bekannt gewor­denen Kinder gehen mussten, zu rela­ti­vieren: Das Mar­ken­zei­chen der Farm, das Haken­kreuz, war tat­säch­lich an den Natio­nal­so­zia­lismus ange­lehnt – das war aller­dings, bevor dieses Symbol durch die Scheuß­lich­keiten, die Hitler begangen hat, ent­weiht wurde. Die NSDAP hatte viele Anhänger in Bra­si­lien, und mein Groß­onkel war einer von ihnen. Doch sobald er sich bewusst wurde, was für schreck­liche Taten von den Nazis verübt wurden, hat auch er sie ver­dammt.“

Der Alb­raum wird nie ganz ver­gessen werden

Aloísio selbst schüt­telt nur den Kopf, wenn er an diese Zeit zurück denkt, viel­leicht hat das Alter ihn milde werden lassen. Als Vater von acht Kin­dern hat er ein gutes Leben gelebt, mit seiner vom Staat gezahlten Rente von umge­rechnet 130 Euro im Monat ist er zufrieden. Manchmal kommt ihm sein anderes Leben als Num­mern­mensch in Santa Alber­tina mitt­ler­weile wohl selbst wie ein Alb­traum vor, doch ver­gessen können wird er wohl nie wirk­lich ganz: Sogar das Vieh auf der Farm hatte Urkunden und Stamm­bäume. Ich hatte noch nicht einmal einen Namen.“