Selt­sames trug sich diese Woche im Goodison Park zu Liver­pool zu. Wäh­rend des Spiels des FC Everton gegen Man­chester City ket­tete sich ein Mann mit Hand­schellen an den Pfosten des Gehäuses von City-Keeper Joe Hart. Es dau­erte einige Minuten, bis der Mann von Sicher­heits­kräften mit einem Bol­zen­schneider befreit und ins Kitt­chen über­führt werden konnte. Angeb­lich wollte er mit seinem Tun gegen die Per­so­nal­po­litik der bri­ti­schen Bil­lig­flug­linie Ryanair demons­trieren, was Erin­ne­rungen an einen anderen großen Stö­ren­fried des Fuß­balls weckt, den legen­dären Bie­le­felder Flitzer Ernst Wittig alias Ernie“.

Jen­seits schnöden hedo­nis­ti­schen Flit­zer­tums war auch Ernie“ ein Mann des poli­ti­schen State­ments. Jedem, der es hören wollte (und auch allen, die es nicht hören wollten), beschied er, dass er sich für die Frei­heit der Kunst nackig machte. Denn sein Körper sei ein Gesamt­kunst­werk, amen. Okay, auch Jimmy Jump läuft nach eigener Aus­sage für die Auto­nomie Kata­lo­niens und gele­gent­lich für Tibet, doch im Gegen­satz zu ihm hat Ernie für sein Werk richtig geblutet. Wäh­rend die inter­na­tio­nalen Stars der Flit­zer­szene meist glimpf­lich davon­kommen, hat Ernst Wil­helm Wittig geraume Zeit seines Lebens im Gefängnis ver­bracht, weil er die für seine Aktionen ver­hängten Geld­strafen nicht zahlen konnte. Er hat trotzdem immer weiter gemacht, ein echter west­fä­li­scher Dick­schädel.

Sein größter Tag: Nackt vor 77.000 Zuschauern

Seinen größten Tag hatte Wittig 2005 beim Bun­des­li­ga­spiel zwi­schen Borussia Dort­mund und Arminia Bie­le­feld, als er seinen für einen fast 60-Jäh­rigen erstaun­lich straffen Corpus 77.000 Zuschauern im West­fa­len­sta­dion prä­sen­tierte. Auch auf dem Mön­chen­glad­ba­cher Bökel­berg und der Bie­le­felder Alm hatte er umju­belte Auf­tritte. Doch der Mann war nicht wäh­le­risch, er enterte Box­kämpfe oder den Welt­kon­gress der Sozio­logen in Köln.

Im Bie­le­felder Alltag war Ernie“ ohnehin nicht zu über­sehen. Oft kam er mit seinem Rennrad in die Uni­halle, wo seine Auf­tritte stets nach dem glei­chen Schema abliefen. Er stellte sein Fahrrad ab und ent­klei­dete sich langsam bis auf Rad­ler­schuhe und Socken. Dann folgte eine minu­ten­lange Per­for­mance mit Body­bil­der­posen, Stich­wort: Gesamt­kunst­werk. Ähn­li­ches pas­sierte regel­mäßig in der Bie­le­felder Fuß­gän­ger­zone oder auf Volks­festen. Manchmal dachten die Leute: Och nee, er schon wieder.“ Doch im Grunde mochten sie ihn.

Die Kar­riere als Speer­spitze der Kunst ist beendet

Nun wird nie­mand behaupten wollen, dass der Mann noch alle auf dem Lat­ten­zaun hatte, doch im Rahmen seines etwas spe­zi­ellen Wer­te­sys­tems war er ziel­strebig und kon­se­quent. Sogar dann, als ihm das Wasser schon bis zum Hals stand: Als Wittig einst in Duis­burg vor Gericht stand, weil er sich bei einem Damen­fuß­ball­spiel in Rhein­hausen nackt am Spiel­feld­rand gezeigt hatte, machte er sich in der Beru­fungs­ver­hand­lung erst mal unten rum frei. Das Strafmaß hat dies gewiss nicht gemin­dert.

Falls sich übri­gens wer wun­dert, dass Ernie“ schon länger nir­gends auf­ge­taucht ist: Der rüs­tige Senior hat seine Kar­riere als Speer­spitze der Kunst beendet. Nicht etwa, dass er sich mitt­ler­weile seines Kör­pers schämt, er mag ein­fach nicht mehr ins Gefängnis gehen. Zitat: Dort sind keine netten Leute und es wird zuviel geraucht.“

Dagegen könnte unser Sports­freund aus Liver­pool erst am Anfang einer langen und schil­lernden Lauf­bahn stehen. Der Auf­tritt vom Goodison Park war sein zweiter nach einer Pro­test­ak­tion am John-Lennon-Flug­hafen, und es heißt, seine Wut auf Ryanair sei sehr groß. Mal sehen, was ihm zu den Olym­pi­schen Spielen in London ein­fällt. Wir halten Augen und Ohren offen.