Zehn Jahre lang hat Michael Reschke bei Bayer Leverkusen Spieler verpflichtet und die Kader geplant. Nun wechselte er zum FC Bayern. In unserem Bundesliga-Sonderheft erklärt Reschke, was eine Mannschaft erfolgreich macht.
1. Was ist die ideale Größe für den Kader eines Bundesligisten?
Das hängt davon ab, ob ein Klub internationale Spiele zu bestreiten hat oder nicht. Aber in jedem Fall muss man wissen, dass es immer einen Kern von Spielern gibt, die einem die Ernte einfahren. Bei internationalen Spitzenklubs absolvieren die ersten 20 oder 21 Spieler des Kaders in der Regel über 95 Prozent der Nettospielzeit einer Saison. Bei deutlich mehr Spielern im Kader hat man womöglich ein hohes Investment, das in keiner Relation zu den Einsatzzeiten steht. Zudem birgt dies die Gefahr, dass Spieler unzufrieden werden. Bei einem Klub, der nicht international spielt, bilden 15 oder 16 Feldspieler plus zwei Torhüter den Kern. Damit ist man gut aufgestellt, wenn es daneben noch ein paar junge, talentierte Ergänzungsspieler gibt. Die maximale Kadergröße sollte 25 Spieler aber nie überschreiten. Bemerkenswert fand ich in der letzten Saison, wie effektiv Schalke 04 und besonders Borussia Dortmund mit den Verletzungen von wichtigen Spielern umgegangen sind. Der BVB ist trotzdem noch Zweiter geworden, und gute Nachwuchsspieler wie Durm oder Hoffmann haben den Durchbruch geschafft.
2. Gibt es ein ideales Durchschnittsalter bei Spielern?
Solche Fragen sind für mich graue Theorie. Wenn man zwei oder drei sehr gute Spieler hat, die über 30 sind und den Altersdurchschnitt im Team anheben, heißt das nichts. Für mich ist das völlig uninteressant.
3. Braucht man vor allem Spezialisten für eine bestimmte Position oder Spieler, die möglichst flexibel sind?
Natürlich gibt es immer wieder Spieler, die in mehrere Rollen schlüpfen können. In Leverkusen ist Gonzalo Castro ein gutes Beispiel dafür, er kann fünf oder sechs unterschiedliche Positionen problemlos besetzen. Aber auch vielseitige Spieler haben eine Kardinalposition, auf der sie am besten sind. Und es funktioniert nicht, lauter flexible Spieler zu haben, die etwa alle auch rechter Verteidiger spielen könnten, ohne einen ausgebildeten rechten Verteidiger im Team zu haben. Man braucht daher als Ausgangsbasis ein festes Kaderbild, in dem alle Positionen klar besetzt sind.
4. Müssen Spieler zu dem vom Trainer favorisierten Spielsystem passen, oder sollte ein Klub einfach gute Spieler suchen, aus denen sich ein Trainer seine Mannschaft zusammenbastelt?
Beides spielt eine Rolle. Bayer Leverkusen ist etwa in die Verhandlungen mit André Hahn vom FC Augsburg nicht eingestiegen, obwohl er ein sehr guter Spieler ist, an dem Borussia Mönchengladbach eine Menge Spaß haben wird. Aber Hahn ist aus meiner Sicht ein klassischer 4 – 2‑3 – 1‑Spieler, der in diesem Spielsystem über die Außenbahn kommen muss. Als es um eine mögliche Verpflichtung von Hahn ging, hieß der Trainer in Leverkusen aber noch Sami Hyypiä, und er hat ein 4 – 3‑2 – 1‑System bevorzugt. Das bedeutet, dass die beiden offensiven Mittelfeldspieler nicht auf der Außenbahn, sondern im Zentrum agieren und Hahn dort wahrscheinlich seiner Stärken beraubt gewesen wäre.
5. Gibt es in einem Kader das richtige Mischungsverhältnis aus Knallköpfen und braven Spielern?
Man sollte vorsichtig sein, nicht zu sehr die Klischees zu bedienen. Sicherlich gibt es immer ein paar sogenannte „Typen“ in einer Mannschaft, aber die heutige Spielergeneration ist so professionell, dass man von „Knallköpfen“ eigentlich nicht mehr sprechen kann. Ein Kevin Großkreutz beispielsweise, der zuletzt hin und wieder für Schlagzeilen gesorgt hat, ist aufgrund seiner Leistungen im Training und im Spiel ein absoluter Musterprofi. Wichtiger finde ich, dass viele deutschsprachige Spieler im Kader stehen, denn die Kommunikation fällt dann leichter.
6. Kann man Hierarchien in einem Kader planen und wer dort Führungsspieler wird?
Nein, bei Lars Bender etwa gab es in Leverkusen zwar von Beginn die Vision, dass er aufgrund seiner Leistungen und seiner Mentalität mal in eine bedeutende Rolle hineinwachsen könnte. Das ist ihm auch gelungen, aber letztlich beurteilt man bei der Verpflichtung eines Spielers dessen aktuelle und perspektivische Leistungsfähigkeit. Die Persönlichkeit und der Stellenwert in einer Mannschaft sind Folge eines Entwicklungsprozesses, den man nicht konkret planen kann.
7. Gibt es eine Obergrenze, wie viele Spieler eines Beraters in einer Mannschaft stehen sollten?
Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Wie ich überhaupt die Rolle der Berater nicht dämonisieren möchte, weil es unter ihnen auch sehr viele kompetente und vernünftige Leute gibt. Und selbst wenn man eine imaginäre Obergrenze von Spielern eines Beraters im Kader erreicht hätte, würde man trotzdem einen weiteren Spieler von ihm verpflichten, wenn er eine absolute Toplösung ist.
8. Wie sehr kann man im schnelllebigen Fußballgeschäft überhaupt vorausplanen?
Man muss sich klarmachen, dass es unterschiedliche zeitliche Ebenen gibt. Eine davon ist kurzfristig, da schaut man von einer Transferperiode zur nächsten. Die nächste Ebene ist die mittelfristige. In Leverkusen war schon im August 2012 weitgehend klar, dass André Schürrle uns im Juli 2013 verlassen würde. Dann kann man sich früh nach Alternativen auf dem Markt umschauen. Und schließlich gibt es noch wichtige Perspektivverpflichtungen, so wie in Leverkusen zuletzt mit Julian Brandt und Levin Öztunali. Adrian Babic, unser Nachwuchsscout hatte mir ein Jahr lang bei jedem Treffen immer wieder Brandt ans Herz gelegt. Bei einem Spiel der U17-Nationalmannschaft in Hannover gegen Italien habe ich mich dann selbst von Brandt überzeugen können. Bevor er in der zweiten Hälfte eingewechselt wurde, konnte ich auch Öztunali sehen und mir war sofort klar: Der Junge ist auch etwas Besonderes! Leverkusen hat für beide Spieler eine Gesamtablöse von 520 000 Euro gezahlt. Heute, nur ein Jahr später, müsste man weit über 15 Millionen Euro bieten, damit Leverkusen überhaupt anfangen würde zu überlegen, diese beiden Juwele zu verkaufen.
9. Kann man auch bei den Transfers gestandener Spieler noch echte Schnäppchen machen?
Die gibt es immer wieder mal, etwa weil ein Spieler ablösefrei zu haben ist, wie in diesem Sommer Aaron Hunt oder Maxim Choupo-Moting. Nur relativieren sich diese vermeintlichen Schnäppchen oft durch die dann entsprechend höheren Gehaltsvorstellungen bzw. Handgeldforderungen.
10. Kann es vorkommen, dass ein Spieler auf dem Platz überzeugt und im persönlichen Gespräch durchfällt?
Das ist schon vorgekommen, aber selten. Was ein Spieler sagt, ist sicherlich nicht ganz unwichtig, aber wirklich wichtig ist vor allem seine Sprache auf dem Platz. Und diese Sprache muss man verstehen. Lucio oder Arturo Vidal sind nicht gerade hochtrabende Vielsprecher, aber auf dem Platz sind sie dominante Weltklassespieler.
11 Seit Jahren gibt es eine These, die besagt: Eine Mannschaft ist so gut
wie ihr schlechtester Spieler. Also beseitige deine Schwachstellen, anstatt einen spektakulären Spieler zu verpflichten. Stimmt das? Ja, besonders bitter ist es, wenn diese Schwachstelle der Torwart ist. Dann kannst du machen, was du willst und wirst deine Saison trotzdem nicht mehr retten. Deshalb musste Bayer Leverkusen auch reagieren, als sich René Adler in der Vorbereitung zur Saison 2011/12 verletzte und klar war, dass er lange fehlen würde. Daraufhin haben die Torwarttrainer Nachtschichten eingelegt, um Alternativen zu finden und hatten eine Reihe interessanter Kandidaten ausgemacht, auch Nationalspieler aus anderen Ländern. Weil Adler damals aber auch in seinem letzten Vertragsjahr war, hatte ich schon länger Kontakt zu Uli Ferber, dem Berater von Bernd Leno, und Bernd war unser Favorit. Die Scouts von Bayer sind dann zum Trainingslager des VfB Stuttgart nach Österreich gereist und haben jede einzelne Trainingseinheit von Bernd Leno angeschaut. Schließlich ging es um einen Torhüter, der zu diesem Zeitpunkt noch keine Minute im professionellen Fußball gespielt hatte. Er war aber für alle so überzeugend, dass wir keinen Zweifel hatten, mit seiner Verpflichtung die richtige Entscheidung zu treffen.
12 Was ist beim Scouting eines Spielers am wichtigsten: Erfahrung, Spieldaten, Bauchgefühl? In Leverkusen fließen statistische Daten nur marginal in die Urteilsfindung ein. Entscheidend waren immer die Gesprächsrunden mit den Scouts auf der Basis ihrer Reports, in denen alle wichtigen Beobachtungen detailliert festgehalten sind. Wie so ein Entscheidungsprozess gehen kann, zeigt das Beispiel Daniel Carvajal. Ich hatte bei einem Treffen den Chefscout vom FC Barcelona gefragt, welchen Nachwuchsspieler von Real Madrid er gerne verpflichten würde. Er schwärmte von Carvajal, der damals aber nur in der zweiten Mannschaft von Real spielte, in der dritten Liga und trotzdem fünf Millionen Euro kostete. Also haben die Scouts von Bayer 04 und ich ihn insgesamt rund zwanzig Mal beobachtet. Dann haben wir uns zusammengesetzt und ausführlich besprochen, ob wir uns sicher waren, dieses Risiko einzugehen. Wir haben es gemacht, und Dani war ein Volltreffer. Leider zog Real schon nach einem Jahr die Rückkaufoption. Aber zurecht: Carvajal war Stammspieler beim Champions League Sieger. Das freut einen natürlich, aber trotzdem muss man sich klarmachen, dass es beim Scouting von Spielern nur um Wahrscheinlichkeiten geht und es keine Sicherheiten gibt. In Leverkusen wurde in den letzten zehn Jahren trotzdem kein Transfer getätigt, der uns im Nachhinein mehr als 1,5 Millionen Euro Verlust eingebracht hat. Bayer hat zudem in diesem Zeitraum eine nahezu ausgeglichene Transferbilanz. Wenn man nun einen Blick auf den aktuellen Wert des Spielerkaders sowie die sportlichen und wirtschaftlichen Perspektiven wirft, ergibt das eine schöne Gesamtbilanz.