Er schafft erhabene Momente am Ball von kaum greifbarer Substanz. Seine Pässe aus dem Nichts sind schwarze Löcher im Spiel. Eine Lobpreisung von Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht.
Nach dem 4. Juli 1954, da war ich sechs Jahre und 19 Tage alt, lag mir nie mehr viel an der deutschen Nationalmannschaft – bis zum Achtelfinale bei der Weltmeisterschaft in Südafrika, das ich während eines Urlaubs in der Karibik verfolgte. Es gibt Momente aus den Spielen dieser neuen Nationalmannschaft mit den anderen Gesichtern, an die ich mich bis zum Ende meines Lebens erinnern werde. In der Mitte der unlöschbaren Bilder sind Bewegungen von Mesut Özil – und auch sein Gesicht, das mich nicht an das Gesicht von Nemo erinnert, da haben seine zehn Freunde von Real Madrid unrecht, sondern an das Gesicht eines türkischen Prinzen aus der Fantasie des 19. Jahrhunderts.
Die großen Momente von Mesut Özil sind so minimal, dass man sie kaum fassen kann
Allerdings fällt es schwer, diese besonderen Momente in den Fokus des Gedächtnisses zu bringen, denn als Erinnerungen sind sie eher heitere Glücksgefühle als konturierte Bilder. Sie fügen sich nicht zu einer Form, einem „Tiki-Taka“ oder einem „Rasenschach“, zusammen. „Erhaben“ finde ich sie, im klassischen philosophischen Sinn dieses Worts, weil man sie nicht wirklich fassen kann. Nur einen gemeinsamen Nenner gibt es: Mesut Özil. Keine Torszenen sind mir bewusst, und von den Toren dieser Mannschaft weiß ich fast nichts mehr, was eigenartig ist, nur von den Toren gegen sie, von Puyols gewaltigem Kopfball im Halbfinale und von Diego Forláns Fast-Freistoßtor am Ende des kleinen Finales. Auch Mesut Özil schießt manchmal Tore, aber die vergesse ich; es sind auch nicht barocke Dribblings wie die von Mané Garrincha oder majestätische Mittelfeldüberquerungen wie die von Franz Beckenbauer, die ihn so groß machen; nicht einmal die sprichwörtlichen „Pässe aus der Tiefe des Raums“. Die großen Momente von Mesut Özil sind so minimal, dass man sie kaum fassen kann (in der doppelten Bedeutung des Worts), auf mich wirken sie wie die Steigerung und die bisher schönste Konzentration des One-Touch- Soccers.
Özils Momente sind kurz und haben kaum greifbare Substanz – wie jene Elemente in Teilchenbeschleunigern, die nur für Sekundenbruchteile bestehen. Er lässt einen schnellen Pass im letzten Moment weiterlaufen, statt den Ball zu stoppen; er stoppt den Ball und steht plötzlich so zu ihm, dass die Bewegung seines Gegners ihren Bezugspunkt und alle Kontrolle verliert; dann spielt er Pässe, die eher aus dem Nichts zu kommen scheinen als aus der epischen Tiefe des Raums. Man entdeckt Mesut Özil erst, wenn aus dem Pass schon beinahe ein Tor wurde. Sein Minimalismus ist eine Variante jenes Grundprinzips, auf das immer schon (bewusst oder unbewusst) anspielte, wer seit der europäischen Renaissance das Wort „Eleganz“ gebraucht hat. Genau so sprechen wir zum Beispiel von „eleganten Lösungen“ in der Mathematik: Es sind Verfahren und Argumente, die schneller, sparsamer gleichsam, Orientierung und ihre Ziele finden, als es die konventionellen Methoden vorschlagen.
Der Taxifahrer schwärmt, die Zuschauer stehen auf, wenn der orientalische Prinz gegen den Ball tritt
Deshalb sprechen die Taxifahrer in Madrid gleich von „Ozil“ (ohne „Ö“ und mit lispelndem „s“), wenn man am Flughafen ins Auto steigt – und schwärmen weiter, weit über die Peripherie der Stadt hinaus; deshalb stehen die Zuschauer im Santiago Bernabéu zu einer Ovation auf, wenn der orientalische Prinz zurück zur Bank beordert wird in der Verlängerung eines großen Spiels, das die Mannschaft ihrer Herzen verlieren wird. Sie alle scheren sich natürlich überhaupt nicht um Begriffe aus der philosophischen Ästhetik, aber sie wollen die Schönheit des Fußballs auf und unter ihrer Haut spüren. Dass Mesut Özil hart arbeitet, dass im entscheidenden super clásico dieses Jahres nur Xabi Alonso den Spielern aus Barcelona mehr Bälle abnahm als er, all das steigert seinen Wert für die Mannschaft und auf dem Markt. Doch es verschwindet auch in seinen großen Augenblicken, die sich zum Spiel verhalten wie schwarze Löcher zum Universum: Sie absorbieren Energie und kondensieren sie zum Ereignis.
Soll man da noch „kritisch“ sein und nach den strategischen Kosten solch minimalistischer Eleganz fragen? Eigentlich liegt mir das nicht, so wenig wie den Zuschauern im Bernabéu. Aber wenn schon: Schwarze Löcher werden nur Energie absorbieren, die vorher produziert ist; durchlassen kann ein Spieler nur Bälle, die ihm zugespielt werden; und Pässe aus dem Nichts, das ist banal, sind angewiesen auf Spieler, die sich für sie freilaufen. Ein Spiel umzudrehen ist nicht die Sache von Mesut Özil, er sieht nicht aus wie ein Kämpfer, obwohl ihm dazu kaum der Wille fehlt. Eher hat er es in sich, große Mannschaften zu großartigen Mannschaften zu machen, dramatische Spiele zu beglückenden Siegen. Das Wort „rackern“ kommt mir nicht in den Sinn, wenn ich an diesen orientalischen Prinzen denke, der in Schalke zur Welt kam. Aber was wäre Sir Simon Rattle ohne die Berliner Philharmoniker und ohne die ausgezeichnete Kondition unter dem Frack.
Auf nichts freue ich mich mehr diesen Sommer als auf Mesut Özils minimalistische Eleganz.
Hans Ulrich Gumbrecht ist Albert-Guérard-Professor für Literatur an der Stanford University und ständiger Gastprofessor u. a. am Collège de France und an der Zeppelin University. Sein Buch „Lob des Sports“ wurde in zwölf Sprachen übersetzt.