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Als sich das neue Schalke die Köpfe heiß redet, liegt das alte in tiefem Schlummer. In der hoch­mo­dernen Arena auf Schalke, die seit Jahren nach einer Brauerei benannt ist, haben sich 9000 Klub­mit­glieder ver­sam­melt, um einen neuen Auf­sichtsrat zu wählen und über den 3,6 Mil­lionen Euro teuren Deal des FC Schalke 04 mit der Ticket-Platt­form Viagogo zu streiten. Die Klub­füh­rung würde aller­dings am liebsten nicht streiten und hat des­halb zu einem Fami­li­entag geladen, bei dem einiges geboten ist. Karten für die neue Saison werden ver­kauft, Auto­gramme geschrieben und Aus­züge aus dem Musical We Will Rock You“ auf­ge­führt. Die dahin­ter­ste­hende Stra­tegie ist selbst für naive Gemüter leicht zu ent­schlüs­seln: Amü­siert euch gefäl­ligst und küm­mert euch nicht um unsere Geschäfts­prak­tiken! Doch dieser Plan geht nur teil­weise auf, die kri­ti­schen Fans ver­sinken kei­nes­wegs in der Masse des auf gefäl­lige Unter­hal­tung bedachten Event­pu­bli­kums. Noch nie waren auch nur annä­hernd so viele Men­schen auf einer der tra­di­tio­nell leb­haften Mit­glie­der­ver­samm­lungen auf Schalke, und nach sieben Stunden mit unzäh­ligen Rede­bei­trägen, Abstim­mungen und Buh­rufen ver­spricht der Vor­stand, ein wach­sames Auge auf die umstrit­tene Ticket­börse zu haben, wäh­rend der trotz der Unruhen im Amt bestä­tigte Auf­sichts­rats­chef Cle­mens Tön­nies seufzt: Wir haben Prügel bekommen, wie ich sie in 19 Jahren noch nicht erlebt habe.“

Glückauf-Kampf­bahn

Das alte Schalke hat von dem ganzen Auf­ruhr nichts mit­be­kommen. Es liegt etwa drei Kilo­meter süd­lich der Arena – ent­lang der Kurt-Schu­ma­cher-Straße, die selbst aus­ge­wie­sene Ruhr­ge­biets-Enthu­si­asten als abgrund­tief häss­lich bezeichnen würden. Die Gegend rund um den Schalker Markt ist der Nucleus, aus dem einst der Mythos vom Pro­leten- und Pola­cken­verein ent­stand, der Schalke 04 bis heute trägt. Hier lebten die echten Knappen, die in der Zeche Con­so­li­da­tion schuf­teten, hier liegt die Glückauf- Kampf­bahn, in der Schalke zu einem der popu­lärsten deut­schen Fuß­ball­klubs wurde. Heute ist die Gegend so gut wie tot, das Sta­dion wird bloß noch von einem Kreis­li­gisten bespielt, viele Woh­nungen und die Mehr­zahl der Laden­ge­schäfte stehen leer und der Schalker Markt ist nur mehr ein Park­platz. Der ruhm­reiche FC Schalke 04 ist vor vielen Jahren nach Norden in den Stadt­teil Erle geflüchtet – erst ins Park­sta­dion, später in die fun­kelnde neue Arena.

Zweites Zen­trum der königs­blauen Selig­keit

Oli­vier Krusch­inski liebt Schalke den­noch, nicht nur den Verein, auch den Stadt­teil. Und es tut ihm in der Seele weh, dass viele von denen, die heute in die Arena pil­gern, kaum etwas von der Ent­ste­hungs­ge­schichte dieses Klubs wissen, den er für den groß­ar­tigsten der Welt hält. Gerade wegen seiner His­torie. Es gibt mitt­ler­weile Gene­ra­tionen von Schalke-Fans, die noch nie einen Fuß auf Schalker Boden gesetzt haben“, sagt er. Um das zu ändern, ver­su­chen Krusch­inski, den hier alle nur Oli4 nennen, und ver­schie­dene Mit­streiter die Gegend wie­der­zu­be­leben. Nicht, dass sie den Nie­der­gang der Indus­trie­kultur rück­gängig machen und die Leer­stände besei­tigen könnten, aber zumin­dest ein zweites Zen­trum der königs­blauen Selig­keit abseits des Arena-Geländes soll hier wieder ent­stehen.

Dass er dabei auf den FC Schalke nicht zählen kann, weiß Krusch­inski. Der Verein koket­tiert mit seiner Grün­dungs­ge­schichte und macht damit Mar­ke­ting, aber er hat sich vom Stadt­teil abge­wendet“, sagt er. Alles, was in der Gegend pas­siert, kommt durch die Fans. Oli4 selbst, einer der Köpfe des Schalker Sup­porters Club, bietet Füh­rungen an: zur Kampf­bahn, zu Ernst Kuz­orras Geburts­haus, zum Schalker Markt. Es gibt mitt­ler­weile eine S‑Bahn-Hal­te­stelle, die Schalker Meile“ heißt, Strom­masten wurden in Ver­eins­farben ange­malt, leere Schau­fenster deko­riert und Schilder auf­ge­stellt. Immer noch würde nie­mand von blü­henden Land­schaften reden, doch auf den 800 Metern zwi­schen der Glückauf-Kampf­bahn und der Ber­liner Brücke resi­dieren heute die wich­tigsten Fan­or­ga­ni­sa­tionen.

Der Schalker Fan­club-Ver­band (SFCV), Dach­or­ga­ni­sa­tion der blau-weißen Anhänger mit rund 90 000 Mit­glie­dern, betreibt die Kneipe Auf Schalke“, die ehe­ma­lige Gast­stätte Well­hausen. Die Sup­porters ver­kehren in einem eigenen Lokal, das sin­ni­ger­weise Anno 1904“ heißt. Die Fan­in­itia­tive hat ihren Laden auf der anderen Stra­ßen­seite. Sogar die Hau­draufs von der Gelsen-Szene“ wohnen mit ihrem Pri­vate Mem­bers Club“ in der Nach­bar­schaft.

Das Kind kommt ins Kin­der­heim“

Und dann gibt es noch das Bosch. Das liegt direkt an der Kampf­bahn und ist viel­leicht das authen­tischste Lokal an der Meile. Früher tranken auch die Spieler hier, die Pla­kette an einer Sitz­bank ver­weist auf den Stamm­platz des legen­dären Ernst Kuz­orra. Frei­lich ist das lange her, der letzte Aktive, der sich sehen ließ, war Youri Mulder. Und ja, der sehr junge Manuel Neuer ist einmal spät abends wegen einer Bulette vor­stellig geworden. Heute ist das Bosch die Heimat des Fan­klubs Kuz­orras Enkel“, dessen Vor­sit­zender Ralph Barth­lo­maycyk heißt, und weil das kaum jemand aus­spre­chen oder unfall­frei schreiben kann, sind alle erleich­tert, wenn er sagt: Hallo, ich bin der Batto.“

Batto ist nach eigener Aus­sage eine Schalker Haus­ge­burt“ und hat das königs­blaue Fantum in seiner DNA fest­ge­schrieben. Hätte ich damals gesagt, ich werde Doof­mund oder Bayern-Fan, hätte es geheißen, das Kind kommt ins Kin­der­heim!“ Der 47-Jäh­rige kann erdige Geschichten über den Verein und das Viertel erzählen. Über die Stra­ßen­gangs, die – Schalker Straße gegen Grenz­straße, Herd­straße gegen Gril­lo­straße“ – einst gegen­ein­ander kickten oder sich auf die Fressen hauten. Oder beides. Er erzählt von den letzten Schalker Spielen in der Glückauf-Kampf­bahn, die seine ersten als Zuschauer waren, und natür­lich von 2001, als S04 vier Minuten lang Deut­scher Meister war.

Ich stand auf der Gegen­ge­rade und hab auf der Groß­bild­lein­wand gesehen, dass das Spiel in Ham­burg noch nicht vorbei war. Die ersten waren schon unten, mein Kumpel Geiger hat mit dem Taschen­messer einen Qua­drat­meter Rasen aus­ge­sägt. Ich hab’ geschrien: „›Geiger, schmeiß den Rasen weg, das Spiel ist nicht zu Ende!‹“ Er schrie zurück: ›Du Pes­si­mist, du scheiß Schalker!‹“ Und dann traf 400 Kilo­meter ent­fernt Patrick Anderson. Aber ist es nicht für den Schalker Mythos fast schöner, dass es so aus­ging? Weil es die bes­sere Geschichte und gla­mou­rö­sere Legende abgibt als eine schnöde errun­gene Meis­ter­schaft? Nun, das hat man davon, wenn man als post­mo­dern geschulter, zwang­haft iro­ni­scher Schrei­ber­ling an die Sache her­an­geht: Battos Blick könnte ver­ständ­nis­loser nicht sein. Zweiter besser als Erster? Warum denn das?

Lega­li­sierter Stra­ßen­handel

Später stößt sein Fan­klub-Kumpel Michael Otte dazu. Es wird ein sehr unter­halt­samer Abend, weil beide anschau­lich erzäh­lende Zeugen des Schalker Lebens sind. Es wird ein die kör­per­liche Unver­sehrt­heit beein­träch­ti­gender Abend, weil der Zapf­hahn im Bosch locker sitzt. Und es wird ein etwas anstren­gender Abend, weil man den Namen der Stadt Dort­mund nicht in den Mund nehmen darf. Sobald man ver­gisst, Doof­mund“ zu sagen, was als zur Neu-tra­lität ver­pflich­teter Jour­na­list durchaus pas­sieren kann, ver­schwindet ein wei­terer Euro im Spar­schwein des Fan­klubs Kuz­orras Enkel“. Also besser nicht über den schwarz-gelben Nach­barn reden, son­dern über das neue Schalke. Es ist der Tag vor der Mit­glie­der­ver­samm­lung und Ralph Barth­lo­maycyk, Schal­kefan qua Geburt, ist stolz, weil er morgen für seine 25-jäh­rige Ver­eins­mit­glied­schaft geehrt wird. Er freut sich auf das Unter­hal­tungs­pro­gramm und wird seine Töchter mit­nehmen, doch die Sache mit Viagogo schlägt auch ihm auf den Magen. Ich find’ das abso­lute Scheiße, für mich ist das lega­li­sierter Stra­ßen­handel.“ Schon heute könnten sich viele Schalke-Anhänger die Tickets nicht mehr leisten, und über­haupt, unter Rudi Assauer wäre das nicht pas­siert. Hätte, wäre, wenn … Batto reißt sich am Riemen und schüt­telt den Kopf. Hätte meine Tante Klötze, wär’ sie mein Onkel.“ Drei Neue, bitte.

Schalke Unser

Stößt sich schon Batto – der, ohne ihm zu nahe treten zu wollen, kein beson­ders poli­ti­scher Fan ist – an man­chen Phä­no­menen der Schalker Gegen­wart, so gilt dies erst recht für die Leute von der Fan­in­itia­tive. Die sind bekannt für ihr uner­müd­li­ches Enga­ge­ment gegen Ras­sismus, unter­halten einen Fan­laden, machen Kul­tur­ar­beit und geben das beliebte Fan­zine Schalke Unser“ heraus. An diesem Morgen aber, wenige Stunden vor der Mit­glie­der­ver­samm­lung, haben Susanne Franke und Helmut Schiffer die Krise. Das ist ein Fami­li­en­event, nicht mehr das höchste Gre­mium einer demo­kra­ti­schen Ver­an­stal­tung“, klagt Susanne Franke. Man muss in der Tat kein Ver­schwö­rungs­theo­re­tiker sein, um zu kon­sta­tieren, dass die Ver­eins­füh­rung die Ver­samm­lung genial vor­be­reitet hat – so als hätte ein Spin Doctor dabei Regie geführt. Ist es Zufall, dass die Bild“-Zeitung just an diesem Morgen meldet, Schalke hätte ein Angebot für Julian Draxler in Höhe von 45 Mil­lionen Euro abge­lehnt? Natür­lich nicht!“, stößt Susanne hervor. Opium fürs Volk.

Die Schalker Meile ist ein Symbol für den schwie­rigen Spagat, den das moderne Schalke ver­sucht. Eigent­lich müsste ein sol­cher Stra­ßen­ab­schnitt für die Klub­füh­rung ein gefun­denes Fressen sein, die Folk- lore zu pflegen, die in diesem tra­di­ti­ons­schwan­geren Verein immer noch wichtig ist. Als Horst Heldt neu im Amt war, hat er sich inter­es­siert“, sagt Susanne Franke. Er war im Bosch, beim Dach­ver­band, im Anno und bei uns in der Fan-Ini. Er wollte es för­dern und hier mal einen Schalke-Tag ver­an­stalten.“ Dann ist die gute Idee des Mana­gers wohl irgendwie im Tages­ge­schäft unter die Räder gekommen. Doch es ist auch nicht leicht für den Vor­stand in einem Klub, dessen Anhänger einer­seits ihren Gel­sen­kir­chener Barock pflegen und sich ande­rer­seits nach dem großen Erfolg sehnen. Nach dem UEFA-Cup-Sieg 1997“, erzählt Helmut Schiffer, standen die Alten hier mit Tränen in den Augen am Stra­ßen­rand und seufzten: So schön! Aber einmal die Deut­sche!“ Seit 1958 ist Schalke 04 nicht mehr Deut­scher Meister geworden. Heute indes holt den Titel nie­mand mehr, der in erster Linie die nost­al­gi­sche Karte spielt. Wie aber geht die Balance zwi­schen Tra­di­tion und Kom­merz? Es ist eine Frage von gera­dezu faust­schen Dimen­sionen: Will man die Seele dem Teufel ver­kaufen, um etwas zu bekommen, was man sich so sehr wünscht? Den Schalker Kreisel kriegst du nicht mehr zurück“, sagt Helmut Schiffer.

Kurz darauf machen er und Susanne Franke sich auf den Weg in die Arena. Auch die Sup­porters, die sich vor dem Anno 1904“ ver­sam­melt hatten, sind in die Schlacht gezogen. Wil­helm Ple­nkers sitzt der­weil in seiner Kneipe im acht Kilo­meter ent­fernten Ücken­dorf. Der Mann, den alle nur Trom­peten-Willy“ nennen, weil er im Sta­dion seit 1981 zur Attacke bläst, hat eine ein­leuch­tende Begrün­dung dafür: Er ist kein Klub­mit­glied. Ich bin aus­ge­treten, als Eich­berg Prä­si­dent wurde“, sagt er. Damals habe ich mir geschworen: Bevor ich wieder ein­trete, ent­schul­digt sich der Vor­stand für Eich­berg oder Schalke wird Deut­scher Meister.“ Beides ist bisher nicht pas­siert.

Euro aus der Tra­di­tion

Trom­peten-Willy“ gibt den Außen­seiter in dieser Geschichte. Nicht nur, dass er kein Mit­glied ist, er sitzt mit seiner Kneipe auch nicht auf der Schalker Meile. Warum eigent­lich nicht? Meinst du wirk­lich, du belebst die Meile, wenn du da fünf Kneipen hin­haust, die sich gegen­seitig die Gäste weg­nehmen?“, fragt er. Willy hat seinen eigenen Umgang mit dem Schalker Mythos: Er ist Klein­un­ter­nehmer in Sachen Königs­blau. Da ist ja nicht nur die Fuß­ball­kneipe. Er war Prot­ago­nist in einer gerade abge­drehten Doku­men­ta­tion über Fuß­ball­fans, Der 12. Mann“. Er hat in ver­schie­denen Fern­seh­for­maten wie Fan­tausch“ und Frau­en­tausch“ mit­ge­wirkt. Und er schreibt seine Memoiren. Im Grunde ver­sucht der ehe­ma­lige Hartz-IV-Emp­fänger auf seine Weise nichts anderes als der Verein selbst: mit der Tra­di­tion seinen Euro zu machen. Aber darf man ihm das übel nehmen? Ein red­lich bekloppter Schalker ist er allemal. Als er auf dem 50. Geburtstag von Cle­mens Tön­nies die Trom­pete blasen sollte, war er fel­sen­fest ent­schlossen, dem Schalke-Boss eine run­ter­zu­hauen, weil der einst sein Idol Rudi Assauer ent­lassen hatte. Willys Frau konnte ihn erst unter Schei­dungs­an­dro­hung davon abhalten.

So gesehen hat Cle­mens Tön­nies schon meh­rere brenz­lige Situa­tionen über­standen. Die Sache mit Viagogo nahm kurz nach der Mit­glie­der­ver­samm­lung übri­gens eine über­ra­schende Wen­dung: Der Vor­stand kün­digte den Ver­trag mit der Ticket­börse fristlos. Ob das tat­säch­lich ein Tri­umph der Fans war, sei dahin­ge­stellt. Es hat zumin­dest den Vor­teil, dass man sich auf Schalke erst mal wieder aufs Sport­liche kon­zen­trieren kann. Der Verein soll ja eine junge, sehr inter­es­sante Mann­schaft haben, wie man hört.