Das Pöbeln beim Fußball ist in letzter Zeit in Verruf geraten. 11FREUNDE-Chefredakteur Philipp Köster sieht das anders und verteidigt das Gemecker am Spielfeldrand in unserer aktuellen Ausgabe.
Mein Freund Wolfgang kann heute noch sehr lebendig von seinem größten Triumph als Stadionpöbler erzählen. Es war irgendwann in den achtziger Jahren, Arminia Bielefeld spielte daheim auf der Alm gegen Borussia Dortmund. Kurz nach der Halbzeit lief Frank Mill am Block vorbei, um einen Ball zum Einwurf zu holen, und Wolfgang begann spontan zu krakeelen: „Mill, du Blinder, du Niete, du kannst nix, lass dich auswechseln …“ Und so weiter. Das war nun weder besonders originell noch folgte es einer wie auch immer gearteten Logik. Was aber in dem Moment völlig egal war, als Frank Mill für den Bruchteil einer Sekunde prüfend hinauf in den Block schaute, welcher verwirrte Vogel ihn denn da so wüst beschimpfte und kaum wahrnehmbar mit der linken Hand abwinkte.
Für Wolfgang war dies ein Ritterschlag, nach all den Jahren fruchtlosen Gemeckers und Gezeters von den billigen Plätzen hatte endlich einmal ein Spieler reagiert. Alles machte plötzlich wieder Sinn. Danach musste er allerdings abermals fünf Jahre warten, bis wieder mal ein Spieler Wirkung zeigte. Ein Spieler der Spvg Marl, den Wolfgang über 20 Minuten hartnäckig der Fettleibigkeit geziehen hatte, drehte sich beim Einwurf um und machte eine Scheibenwischerbewegung. Wolfgang feierte den ganzen Abend.
Rentner entdeckt neues Schimpfwort
Wolfgang war ein Stadionpöbler alter Schule, wie es sie heute leider immer seltener gibt. Es sind dies Fans, die ihr Vergnügen beim Stadionbesuch nicht daraus ziehen, ihre Mannschaft siegen zu sehen oder hochklassigem Sport beizuwohnen, sondern allein daraus, während des Spiels möglichst vielen Anwesenden ihre grundlegende Abneigung mitzuteilen. Das mag angesichts der stattlichen Eintrittspreise skurril wirken. Da gute Stadionpöbler jedoch ihrem Tagwerk mit viel Kreativität und Passion nachgehen, haben letztlich alle etwas davon. Womit andererseits auch klar gestellt ist, dass Einfaltspinsel, die gegnerischen Torhütern auswendig gelernte Beleidigungen hinterherbrüllen, ebenso wenig dazu gehören wie jene Honks, die beim Pöbeln auf den ewig gleichen Basiswortschatz zurückgreifen müssen, mit dem man auch ein Handgemenge in Hellersdorf übersteht.
Wobei man wiederum einschränkend erwähnen muss, dass die Konzentration auf nur einen einzigen Ausdruck auf lange Sicht dann auch schon wieder ihren ästhetischen Reiz hat. In Bochum gab es früher einen Rentner, der irgendwann das schillernde Schimpfwort „Analbanane“ für sich entdeckte und es fortan beharrlich jedem gegnerischen Spieler an den Kopf schmiss. Was genau das nun sein sollte, blieb unklar. Klar hingegen, welchen Spitznamen der Rentner in den folgenden Jahren von den Umstehenden verpasst bekam.
Der echte Stadionpöbler ist jedoch weitaus variabler als dieser doch sehr fokussierte Senior, schon was die Zielobjekte angeht. Es gibt Zuschauer, die vorwiegend den Gegner attackieren, andere bevorzugen die Referees, wiederum andere konzentrieren sich auf die Heimmannschaft und nehmen beim ersten Fehlpass nach Anpfiff ihre Arbeit auf. Aber auch hier Vorsicht vor Kleingeistern! Denn es gibt sie ja doch in großer Zahl, jene in feinen Zwirn gekleidete Herren, die beim Spielstand von 2:1 missgünstig aufrechnen, dass sie pro Tor 25 Euro gelöhnt haben. Und jene bauchigen Vertretertypen, die tatsächlich davon überzeugt sind, dass die Mannschaft künftig erfolgreicher kicken wird, wenn sie kurz vor Schluss mit krebsrotem Gesicht Lagerhaft bei Wasser und Brot für alle Lizenzspieler fordern.
Die Könige der Zunft sind jedoch ohnehin Allrounder, die es mit der UN-Menschenrechtscharta sehr ernst nehmen. Alle Menschen auf dem Spielfeld sind gleich, wenn es darum geht, eine stattliche Breitseite zu kassieren. Diese Generalisten erkennt man bereits in den Minuten vor dem Spiel daran, dass sie zum Warmmachen entrüstet einzelne Namen aus der Stadionzeitung vor sich hinschnaufen. Alles Versager, Zeckenzüchter und Triefaugen, die er nie und nimmer aufgestellt hätte. Nach dem Anpfiff konzentriert er sich dann erst einmal auf den Referee und nimmt bereits eine umstrittene Einwurfentscheidung auf Höhe der Mittellinie zum Anlass, das gesamte Gespann samt viertem Offiziellem und Schiedsrichterbeobachter auf der Tribüne lautstark der Käuflichkeit, wahlweise der Niedertracht zu bezichtigen, um sich dann noch in den ersten fünf Minuten des Spiels den Gegner vorzuknöpfen. Meist greift er sich einen Spieler mit irgendeinem Handicap heraus. Läuft er ein wenig unrund, hat einen leichten Silberblick oder kommt vom Hamburger SV – das perfekte Kanonenfutter für unseren Pöbler.
Der Beobachter erkennt dabei schnell den Unterschied zwischen Rookies und Routiniers. Anfänger sind ungeduldig und unsouverän, trinken zuviel Alkohol und haben bereits Mitte der ersten Halbzeit ihr Pulver verschossen. Bei einem Bundesligaspiel zwischen Schalke und Duisburg stand ich mal neben einem MSV-Anhänger, der zunächst ein wahres Feuerwerk an ehrabschneidenden Bemerkungen abfeuerte, ab der 40. Minute jedoch arg abbaute und die komplette zweite Hälfte nur noch zu Tode erschöpft einen einzigen Satz repetierte: „Schweine seid ihr!“ Ob er damit die Schalker, die Duisburger oder seinen Sachbearbeiter bei der Agentur für Arbeit meinte, wusste keiner. Die Umstehenden bekamen jedoch eine Ahnung von den schrecklichen Qualen der chinesischen Wasserfolter.
Das Objekt seines Hasses war Victor Agali
Echte Routiniers hingegen haben einen Matchplan. Mit Bedacht haben sie sich zuvor Standort und potentielle Angriffsobjekte ausgewählt und sind doch flexibel genug, auf aktuelle Ereignisse wie Fehlentscheidungen und Stockfehler zu reagieren. Dann warten sie auf den richtigen Moment, ihre Kernbotschaften zu platzieren. Sie wissen, dass noch die ausgefeilteste Gemeinheit untergeht, wenn zeitgleich nebenan der Capo der Gastmannschaft ins Megaphon blökt. Wenn sich hingegen gerade Stille über das Rund gesenkt hat, entfaltet eine mit Wumms hinausgebrüllte Verbalinjurie eine erstaunliche Wirkung. Wobei der Pöbler nicht um die Anerkennung anderer Zuschauer bettelt. Nichts ist ihm peinlicher als jene Zeitgenossen, die irgendein austauschbares Schimpfwort in Richtung Rasen brüllen, um sich dann beifallheischend umzudrehen: „Na, wie war ich?“ Nein, er ist ist ein einsamer Wolf, der nichts weniger braucht als den Applaus all jener, die nicht wie er auf der dunklen Seite des Spiels stehen. Aus purer Überzeugung, das richtige zu tun, gibt er stets alles. Von einem Anhänger der Münchner Löwen wird berichtet, dass er einmal im Derby gegen den FC Bayern das ganze Spiel durchschrie und pünktlich zur 90. Minute keinen Ton mehr herausbekam. Die Stimme war und blieb auch am nächsten Tag weg, dummerweise war dies auch der Tag seiner eigenen Hochzeit. Das Ja-Wort wurde mutmaßlich per Klopfzeichen übermittelt.
Die größte Angst ist jedoch stets die vor dummen Flüchtigkeitsfehlern. Nie darf die Konzentration nachlassen, der Teufel steckt oftmals im Detail. „Typisch Ossi!“, schrie ein Besucher der Bielefelder Haupttribüne während des Spiels gegen Hansa Rostock immer wieder wutentbrannt, nachdem ein Rostocker eine dreiste Schwalbe im Strafraum produziert hatte. „Typisch Ossi!“ Bei den Banknachbarn sorgte das für große Heiterkeit. Das Objekt seines Hasses war Victor Agali.
Um die Pöbler zu diskreditieren, wird gerne ein Zusammenhang zwischen den Verbalinjurien auf den Rängen und anschließenden Hauereien auf den Vorplätzen konstruiert. Das ist aber dummes Gerede. Stadionpöbler fahren ihr ganz eigenes Rennen. Ihre erratischen Rundumschläge eignen sich nahezu nie zur gezielten Aufwiegelei. Außerdem wird bei dieser kruden Beweisführung gerne übersehen, dass Stadionpöbler ja mitnichten verbitterte Hausmeistertypen sind, die auch im richtigen Leben Glasscherben nach spielenden Kindern werfen. Stattdessen verwandeln sie sich mit dem Passieren der Stadiontore nach dem Spiel schnurstracks wieder in umgängliche Zeitgenossen, die angeregt über Theaterpremieren oder Sylturlaube parlieren und gerne auch mal den mitgeführten Nachwuchs vergnügt in die Seite puffen: „Na, wie hat‘s dir gefallen! Ich fand‘s einfach toll!“
Ausnahmen bestätigen auch hier natürlich die Regel. In Kaiserslautern beschimpften Pensionäre die auswärtigen Spieler früher nicht nur, wenn die zur Ausführung von Eckbällen antraten, sondern stocherten auch mit ihren Spazierstöcken durch den Zaun hindurch nach den Akteuren. Alten Kämpen wie Hermann Gerland werden beim Gedanken an solch herzliche Anteilnahme noch heute die Augen feucht. Persönlich erlebte ich einmal den Kontrollverlust eines Anhängers im Stadion des VfR Sölde. Optisch ein Wiedergänger des Schlagzeugers der Flippers, hatte sich der Fan den Linienrichter, einen dürren Mittzwanziger mit Bürstenschnitt, als Objekt seiner Tiraden ausgesucht. Geschlagene 70 Minuten lang beschimpfte er ihn ausdauernd als „Nuttenpreller“. Nun sah der Linienrichter weder danach aus, als habe er schon mal der käuflichen Liebe gefrönt, noch als sei er anschließend den vereinbarten Lohn schuldig geblieben. Nur konsequent, fühlte er sich also nicht angesprochen und reagierte nicht auf die Prellerschleife. was den Shouter schließlich derart in Rage brachte, dass er über die hüfthohe Balustrade sprang, sich von hinten an den Unparteiischen heranschlich, ihm die Fahne mopste und unter Gejohle der Umstehenden wieder zurück in den Block rannte.
Aber noch einmal: Absolute Ausnahmen waren das. Es gab in den vergangenen Dekaden übrigens stets Spieler, welche die Attacken von den Rängen richtig einzuordnen wussten, als höchste Form der Anerkennung nämlich. „Wenn keiner ›Kirsten, du Arschloch!‹ ruft, dann weiß ich, dass ich schlecht bin“, schloss Ulf Kirsten messerscharf. Ein Oliver Kahn badete geradezu in der Abneigung, die ihm aus den Kurven entgegen schlug. Und der alte Grätscher Michael Schulz war stets kurz davor, seinen Rufnamen „Schulz-Dusau“ auch im Personalausweis eintragen zu lassen.
Im Alter von etwa 55 Jahren beginnt die Metamorphose des Stadionpöblers
Man wünscht den Vereinen die Weitsicht, den Pöblern im Stadion ein Überleben als eigenständige Spezies zu ermöglichen. Ihr natürlicher Lebensraum wird derzeit leider immer weiter eingeschränkt. Früher war es etwa möglich, sich auf den Tribünen frei zu bewegen. Hatten sich die Krakeeler in der ersten Halbzeit darauf konzentriert, den gegnerischen Torwart mit Schimpfkanonaden zu zermürben, konnten sie ihr Werk in der zweiten Hälfte problemlos hinter dem anderen Tor fortsetzen. Heute undenkbar, stattdessen kommen grimmige Ordner schon mit der Reitpeitsche angelaufen, wenn auch nur ein Viertelfuß in den Treppenaufgang hineinragt. Problematischer noch ist die weit fortgeschrittene Ächtung deftiger Ausdrücke. Ein Klassiker wie „Tod und Hass dem BVB“, vorgetragen mit geballter Faust und kalter Kippe im Mundwinkel, führt heute schon dazu, dass nebenan im Familienblock Väter ihrem Nachwuchs schnell die Ohren zuhalten. Wenn sich dieser Trend verstetigt, wird womöglich bald auch der Stadionpöbler nur noch in seiner hässlichsten Form überleben, als krankhaft ehrgeiziger Vater am Spielfeldrand von F‑Jugendspielen.
Im Profifußball gibt es übrigens eine klare Altersgrenze. Im Alter von etwa 55 Jahren beginnt die Metamorphose des Stadionpöblers zum Meckerrentner. In die Leidenschaft, mit der die Verwünschungen und Ehrabschneidungen vorgetragen werden, mischt sich dann ein deutlicher Zug von Verbitterung. Während der Stadionpöbler immer von der vagen Hoffnung angetrieben wird, dass doch noch einmal ein Spieler oder Schiedsrichter auf seine Tiraden reagiert, weiß der Meckerrentner, dass das niemals passieren wird. Schimpfen tut aber auch er. Er kann nicht anders. Schließlich weiß er aus Erfahrung: Alles Schweine und Nuttenpreller! Typisch Ossis.