Novem­ber­fuß­ball in Deutsch­land, das ist Flut­licht, klamme Kälte und manchmal auch Nebel, der langsam über die Tri­bünen hinweg in die Sta­di­on­schüssel wabert. Auch in die Alte Förs­terei zu Berlin zogen an einem Abend Ende 2002 dicke herbst­liche Dunst­wolken, so dass das Zweit­li­ga­spiel zwi­schen Union und Ein­tracht Frank­furt zur Farce geriet. Auf den Rängen rumorte es. Kein Gesang, kein Klat­schen oder Pfeifen war zu hören. Überall dis­ku­tierte man die Frage, ob und wann der Schieds­richter dem undurch­sich­tigen Treiben ein Ende setzen würde. Dann pas­sierte es, in die fast unheim­liche Stille des Blocks H hinein begann eine keh­lige Stimme zu for­dern: Wir woll’n die Mann­schaft seh’n, wir woll’n die Mann­schaft seh’n, wir woll’n, wir woll’n die Mann­schaft seh’n!“



Der Rufer hatte die Lacher auf seiner Seite und blieb nicht lange allein. Allein und ver­loren ist nur der, der sich auf das Thema Fan­ge­sänge ein­lässt. Kaum ein Genre bietet mehr Facetten, Betrach­tungs­winkel, Fall­stricke und Poten­zial. Schnell umschlingt den Wis­sens­durs­tigen eine Hydra. Aber gibt es eine Essenz, auf die all die Kalauer, Klas­siker und Sot­tisen am Ende zurück­ge­führt werden können? Kurz gesagt: Warum singst du, wenn du im Sta­dion bist? Zunächst sto­chert der Suchende in einem Nebel, der noch dichter ist als in der Alten Förs­terei, und wohl auch dichter als der im Sta­dion an der Anfield Road in Liver­pool an jenem Samstag vor 40 Jahren. Doch weil der Schieds­richter meinte, vom Anstoß­punkt aus beide Tore erkennen zu können, wurde auch dieses Spiel nicht abge­pfiffen. Nie­mand im Sta­dion hatte wirk­lich einen Über­blick, bis sich nach einem Angriff der Heim­mann­schaft langsam ein Raunen durch die Reihen fort­pflanzte. Der Kop, die berühmte Hin­ter­tor­tri­büne der Liver­pooler, jubelte jedoch erst aus voller Kehle, als die eigene Mann­schaft zurück­ge­laufen kam und der geg­ne­ri­sche Stürmer den Ball in den Mit­tel­kreis trug. Der harte Kern der Liver­pool-Fans wollte sich frei­lich nicht mit der bloßen Füh­rung zufrieden geben und begann aus meh­reren zehn­tau­send Kehlen in den Nebel hinein zu skan­dieren: Who scored the goal, who scored the goal?“ Kurz darauf ent­fal­tete sich vor den Zuschauern ein kleines Stück Magie, als es durch die weiße Wand dumpf zurück­schallte: Hateley scored the goal, Hateley scored the goal.“

Die Pop­kultur begann den Fuß­ball zu unter­wan­dern

Aber auch damit waren wir nicht zufrieden“, erin­nert sich Rogan Taylor an diesen Spieltag der Saison 1967/68. Natür­lich wollten wir auch wissen, ob Tony Hateley mit dem Fuß oder dem Kopf getroffen hatte. Und wir erfuhren es auf die gleiche Weise.“ Rogan Taylor ist eine Insti­tu­tion im eng­li­schen Fuß­ball. Gemeinsam mit ein paar Mit­strei­tern hat er nach dem Feuer von Brad­ford und der Heysel-Kata­strophe im Jahr 1985 die unab­hän­gige Foot­ball Sup­porters Asso­cia­tion (FSA) gegründet, um den Fans eine Stimme zu geben. Seine Dok­tor­ar­beit hat er irgend­wann einmal über pri­mi­tive Reli­gionen und Scha­ma­nismus geschrieben. Seit 46 Jahren geht er zum FC Liver­pool.





Taylor hat die Evo­lu­tion der Fan­ge­sänge aus der ersten Reihe erlebt: Natür­lich ist die Stim­mung heute nicht so wie in den 60ern. Wie soll das auch gehen in den Sitz­platz­sta­dien, in denen Leute neben­ein­ander hocken, die oft nicht zusammen passen und sich viel­leicht noch nicht einmal beson­ders gut leiden können?“ Wenn früher der Anwalt seine Tochter von der Pri­vat­schule abholte und dann auf einmal neben dem flu­chenden Dock­ar­beiter mit dem Tour­ette-Syn­drom und den drei Bäu­chen stand, dann ging er ein­fach ein paar Meter weiter. Heute wird das Unter­hal­tungs­pro­gramm von den Grals­hü­tern des Lord Taylor Reports und den Mar­ke­ting­chefs der Klubs bestimmt. Jeder­mann hat zu sitzen, allein schon das ist nicht gut für den San­ges­freund. Selbst in der Kirche steht man zum Singen auf, hebt den Kopf und weitet die Lungen“, befindet Taylor, dessen Namens­gleich­heit mit dem Ver­fasser des für die reinen eng­li­schen Sitz­platz­sta­dien ver­ant­wort­li­chen Reports rein zufällig ist.

Gern denkt er an die chao­ti­sche Energie der frühen 60er Jahre zurück. Damals trat die Liver­pooler Pop­gruppe The Beatles ihren Sie­geszug um die Welt an und Bill Shanklys Arbeit begann an der Anfield Road Früchte zu tragen. Erst­mals wurde eine WM im Fern­sehen über­tragen, und aus Chile wurden die rhyth­mi­schen Bra-sil“-Rufe in die eng­li­schen Wohn­stuben gefunkt. Das zeigte Wir­kung. In den Sta­dien der Insel waren bis dahin alle Gesänge mit dem Anpfiff schlag­artig abge­ebbt und hatten ein akus­ti­sches Vakuum hin­ter­lassen, das Pfiffe, Flüche und Applaus nicht wirk­lich aus­füllen konnten. Doch die Ani­ma­tion aus Süd­ame­rika und par­allel der inter­na­tio­nale Erfolg der Beatles wehte einen fri­schen Wind über den Mersey, die Pop­kultur begann den Fuß­ball zu unter­wan­dern. Love me do“ und She loves you“ schallte es aus dem Kop. Schließ­lich nahmen die Liver­pud­lians 1963 You’ll never walk alone“ für sich in Beschlag und machten die Musi­cal­schnulze, die bis in die frühen 60er Jahre hinein bes­ten­falls auf Beer­di­gungen gespielt worden war, zur Fuß­ball­hymne schlechthin.

Den Kop von damals ver­gleicht Taylor mit einem rie­sigen, Furcht ein­flö­ßenden Monster, das langsam seine Mus­keln spielen ließ. Wie in Dantes Gött­li­cher Komödie“ waberten kon­zen­tri­sche Wellen um ein Epi­zen­trum aus reiner Energie. Wer dort stehen wollte, musste ver­dammt fit, moti­viert, trink­si­cher und vor allem pünkt­lich sein. Min­des­tens eine Stunde vor Anpfiff hatte sich ein­zu­finden, wer im Herzen des Kops stehen und sich mit dem harten Kern langsam ein­singen wollte. Und dieses Herz gab den Rhythmus für ganz Fuß­ball-Eng­land vor und schrieb eigene Psalme in die Bibel der Fan­ge­sänge.

Tommy Smith, show us your arse!“

1977, zwei Tage, nachdem Borussia Mön­chen­glad­bach im euro­päi­schen Cup­fi­nale von Rom geschlagen worden war, stand an der Anfield Road ein Abschieds­spiel für Tommy Smith auf der Agenda. Im Rausch des euro­päi­schen Tri­umphs erlebte das Sta­dion Szenen, die es so nicht wieder geben sollte. Tommy Smith, show us your arse!“, for­derte der Kop plötz­lich uni­sono den freien Blick auf das Gesäß des Jubi­lars. Auch die anderen Spieler mussten nach­ein­ander blank ziehen und den Voll­mond zeigen. Dann – in einer ruhigen Sekunde – for­derte ein Ver­we­gener: Anny Road: all sit down“, und der gesamte Block an der Anfield Road setzte sich geschlossen. Auch die Direk­torenbox blieb am Ende nicht ver­schont und musste sich auf das Kom­mando des viel­tau­send­stim­migen Zere­mo­nien­meis­ters erheben. Jahre nach dieser trotz­kis­ti­schen Mini-Revo­lu­tion hat Rogan Taylor einmal den dama­ligen Klub­chef Peter Robinson gefragt, was er eigent­lich über den Kop wisse. Die singen ganz gut“, lau­tete die schlichte Ant­wort.

Doch auch der Kop, das chao­ti­sche und doch so har­mo­ni­sche Mosaik, hat mit der Umstel­lung auf die All Sea­ters“ Federn lassen müssen. Von der eins­tigen Spon­ta­nität ist nicht viel übrig gebe­lieben. Trotzdem glaubt der Psy­cho­lo­gie­pro­fessor Clif­ford Stott noch an den Intel­lekt der Masse. Stotts Spe­zi­al­ge­biet ist die Erfor­schung großer Men­schen­mengen, und Fuß­ball gehört zu seinen Ste­cken­pferden. Neben der FA und der UEFA haben auch die Orga­ni­sa­toren der EM 2004 schon auf seinen wis­sen­schaft­li­chen Bei­stand gesetzt. Im aka­de­mi­schen Umfeld trifft er dagegen häufig auf Vor­ur­teile. Fuß­ball und seine Lieder, das soll ja angeb­lich der Rück­zugs­raum für die pro­le­ta­ri­schen Massen und ein Über­bleibsel unserer archai­schen Ver­gan­gen­heit sein. Das lang­weilt mich und ist zudem his­to­ri­scher Unsinn“, sagt Stott. Ver­gleich­bare Men­schen­an­samm­lungen kennen wir eigent­lich erst seit der indus­tri­ellen Revo­lu­tion. Das hat nichts mit Urinstinkten zu tun.“

Stott hält große Stücke auf den Humor und den Sprach­witz der Sup­porter. Wenn er ins Sta­dion geht, richtet er seinen Blick fast aus­schließ­lich auf die Massen und ihre Inter­ak­tion – sei es mit der Polizei, den Spie­lern oder den geg­ne­ri­schen Fans. Er glaubt nicht an die Theorie, dass ein Groß­teil der Fan­ge­sänge unter Labor­be­din­gungen kre­iert wird. Natür­lich gibt es das: Okay, nächste Woche spielen wir gegen XYZ, wie können wir die am besten durch den Kakao ziehen?“ Doch das seien Aus­nahmen, zumal solche prä­pa­rierten Arien in den heu­tigen Sta­dien von kleinen Gruppen schwer durch­setzbar sind. Viel­mehr glaubt Stott, dass der Fan­block eine Art kol­lek­tiver soli­da­ri­scher Iden­tität und Intel­li­genz ent­stehen lässt, in der sich der ein­zelne ver­lieren oder durch Wort­witz pro­mo­vieren kann. Eine Gemein­schaft ent­steht durch Abgren­zung. Fan­ge­sänge schaffen klare Fronten, und Fronten schaffen ein Wir und ein Die und damit Heimat. Von Tri­via­lität will Stott nichts hören. Das Han­deln der Masse ist rational und ver­dient mehr Unvor­ein­ge­nom­men­heit und wis­sen­schaft­liche Auf­merk­sam­keit.“

Inzwi­schen wird das auch in Deutsch­land so gesehen, zum Bei­spiel von Rein­hard Kopiez, der dem Phä­nomen gleich ein ganzes Buch wid­mete („Fuß­ball-Fan­ge­sänge – eine FANom­e­no­logie“, erschienen im Verlag Königs­hausen & Neu­mann). Als das Werk 1998 erschien, betraten der Musik­päd­agoge und sein Co-Autor Guido Brink weit­ge­hend unbe­kanntes Ter­rain, heute wird Kopiez sogar von einem katho­li­schen Jugend­ma­gazin“ zum Thema inter­viewt. Das liegt zum einen sicher daran, dass Fuß­ball spä­tes­tens seit der WM 2006 Folk­lore geworden ist, ande­rer­seits ist es ein Indiz dafür, dass sich in den deut­schen Sta­dien mitt­ler­weile eine leben­dige San­geskultur ent­wi­ckelt hat. Dabei beschränkten sich die Publi­kums­äu­ße­rungen hier­zu­lande zu einer Zeit, als in Liver­pool schon ganze Stro­phen geträl­lert wurden, noch auf ein­zelne Anfeue­rungs­rufe, Tor­jubel und dezentes Klat­schen. Noch in den späten 70ern gab es nur Sprech­chöre à la ›Hi, ha, ho, Ein­tracht ist k.o.‹, erin­nert sich Offen­bach-Fan Volker Goll, der lange Macher des Fan­zines Erwin“ war und heute in der Koor­di­na­ti­ons­stelle Fan­pro­jekte (KOS) arbeitet. Der Über­gang zum struk­tu­rierten Singen fällt für Goll zusammen mit dem Auf­kommen der Ultra-Bewe­gung“. Plötz­lich gab es einen Vor­sänger, der den Ton angab und das Reper­toire kon­trol­lierte. Mitt­ler­weile ist die Macht dieser Chant-Leader der­maßen groß, dass viele im Fan­block schon wieder genervt sind, weil der Mann mit dem Megafon alles domi­niert und eine spon­tane Reak­tion auf das Spiel­ge­schehen nicht mehr mög­lich ist. Aber das ist ein Kapitel für sich.

Hinter den Eng­län­dern müssen sich die deut­schen Fans heute jeden­falls nicht mehr ver­ste­cken, was nicht zuletzt damit zusam­men­hängt, dass in den hie­sigen Sta­dien etwas bewahrt wurde, das für das Singen essen­tiell ist: die Steh­plätze. Von den Sitz­plätzen aus wirst du einen koor­di­nierten Gesang nicht hin­kriegen“, weiß Volker Goll. Anhänger in Sta­dien mit einem hohen Sitz­platz­an­teil wie Mün­chen oder Ham­burg können im wahrsten Sinne des Wortes (k)ein Lied davon singen. Ein anderes Pro­blem der modernen Zeiten setzt den sin­genden Fans dagegen fast überall zu. Die Ein­spie­lungen aus den Sta­di­on­laut­spre­chern können sämt­liche Akti­vi­täten ersterben lassen“, sagt Rein­hard Kopiez. In der Tat ist die ohren­be­täu­bende Dau­er­be­schal­lung aus Wer­be­jin­gles und einem musi­ka­li­schen Ein­heits­brei von DJ Ötzi bis Hermes House Band hoch­gradig kon­tra­pro­duktiv, ein seriöses Ein­singen vor dem Spiel kaum noch mög­lich. Wohl dem, der da nicht in einem der neuen Fuß­ball­tempel, son­dern in einem in die Jahre gekom­menen Sta­dion zuhause ist wie Volker Goll: Das Glück bei uns in Offen­bach ist, dass an man­chen Stellen die Laut­spre­cher­an­lage nicht mehr richtig funk­tio­niert.“

Fuß­ball­ge­sänge sind nichts für poli­tisch Kor­rekte


Warum aber singen Fans über­haupt? Kopiez und Brink unter­scheiden in ihrem Buch vier Motive: die Anfeue­rung der eigenen Mann­schaft, die Hul­di­gung ein­zelner Spieler und des Ver­eins, eine Ven­til­funk­tion zur Kom­pen­sa­tion emo­tio­naler Anspan­nung sowie die Schmä­hung und Ver­höh­nung des Geg­ners. Letz­teres kann sich auch auf den Spiel­leiter beziehen, wie im dada­is­ti­schen Klas­siker Schieds­richter Telefon, deine Alte wartet schon“. Gleich zwei Fliegen mit einer Klappe wurden mit dem Spruch Schiri, wir wissen, wo dein Auto steht – Gau­dino hat’s, Gau­dino hat’s“ geschlagen, zu einer Zeit, als gegen den dama­ligen Frank­furter Mau­rizio Gau­dino wegen Auto­schie­be­reien ermit­telt wurde. Über­haupt sind Fan­ge­sänge nichts für poli­tisch Kor­rekte und zarte Seelen. So wird in Old Traf­ford Always look on the bright side of life“, der spöt­ti­sche Chant der ManU-Fans in Rich­tung eines unter­le­genen Geg­ners, gerne mit der Ant­wort Always look on the runway for ice“ gekon­tert, die auf den Flug­zeug­ab­sturz der Busby Babes“ 1958 in Mün­chen anspielt. Harm­loser, aber ein biss­chen unap­pe­tit­lich ist der Gesang Was ist grün und stinkt nach Fisch?“ in Rich­tung des SV Werder Bremen. Die Zeile ist frei­lich so betagt, dass Bremer Anhänger in Bezug auf ihn eine gewisse Schlag­fer­tig­keit ent­wi­ckelt haben und Kon­tra­henten gerne mit der Replik Deine Mutter“ ins Wort fallen.

Wer übri­gens glaubt, fre­ne­ti­sche Anfeue­rungs­rufe und fan­ta­sie­volle Gesänge seien geeignet, das eigene Team dem Sieg näher zu bringen, der irrt. Der Ein­fluss der Zuschauer wird über­schätzt“, sagt der Müns­te­raner Sport­wis­sen­schaftler Bernd Strauß, der sogar ein Traktat mit dem pro­vo­kanten Unter­titel Wenn Fans ihre Mann­schaft zur Nie­der­lage klat­schen“ ver­öf­fent­licht hat. Hilf­reich, so hätten Stu­dien gezeigt, seien Anfeue­rungen höchs­tens da, wo kon­di­tio­nelle Fähig­keiten gefragt sind. Bei allem, was mit der Koor­di­na­tion des Kör­pers zu tun hat, sei die Anwe­sen­heit des Mobs dagegen eher stö­rend. Warum aber glauben dann 81 Pro­zent der Bun­des­li­ga­profis, von der Unter­stüt­zung der Fans zu pro­fi­tieren? Warum gibt es über­haupt einen Heim­vor­teil? Die Ant­wort von Strauß ist ein biss­chen ernüch­ternd: Das Wesent­liche ist der Glaube daran, dass es einen Heim­vor­teil gibt.“ Ein klas­si­scher Pla­cebo-Effekt also, oder die sich selbst erfül­lende Pro­phe­zeiung. Was nichts daran ändert, dass Bernd Strauß ein Lieb­haber der Fan­kultur im all­ge­meinen und der Gesänge im Beson­deren ist: Fan­ge­sänge tragen enorm zur Attrak­ti­vität des Gesche­hens bei, auch wenn sie sport­lich irrele­vant sind. Sie stiften Iden­ti­fi­ka­tion und sind ein Allein­stel­lungs­merkmal für die Anhänger, um sich von anderen abzu­grenzen.“

Mitt­ler­weile wird das Thema von allen mög­li­chen Ecken aus erforscht. Musik­wis­sen­schaftler, Sport­wis­sen­schaftler, Anthro­po­logen ver­su­chen sich daran, und sogar ein Lin­guist. Der aus Glad­beck stam­mende Schalke-Fan René Schiering arbeitet an der Uni­ver­sität Leipzig und hat sich der Fan­ge­sänge aus sprach­wis­sen­schaft­li­cher Sicht ange­nommen. Dazu kehrte er in die alte Heimat zurück und stellte sich für einen groß ange­legten Feld­ver­such eine Saison lang mit einem Ton­band­gerät in die Schalker Fan­kurve. Eine Hoff­nung, näm­lich bei der Geburts­stunde eines Klas­si­kers wie Steht auf, wenn ihr Schalker seid“, dabei zu sein und somit etwas über die Ritua­li­sie­rung der Gesänge her­aus­finden zu können, erfüllte sich leider nicht. Statt­dessen kam Schiering einem anderen Phä­nomen auf die Spur: Obwohl unter jungen Leuten im Ruhr­ge­biet in den letzten Jahren eine Renais­sance der lokalen Mundart zu beob­achten ist, ver­wei­gern sich aus­ge­rechnet die ver­meint­lich pro­le­ta­ri­schen Schalker Anhänger diesem Trend. Viel­leicht liegt es daran, dass sie sich in einer öffent­li­chen Situa­tion befinden, und dass im Ruhr­ge­biet, anders als etwa in Süd­deutsch­land, keine dia­lek­tale Gesangs­tra­di­tion exis­tiert“, ver­mu­tete der Lin­guist. Man sieht, es gibt noch viel zu erfor­schen.

Weit­ge­hend ermit­telt ist dagegen, wel­ches Liedgut die Leute in der Kurve bevor­zugen. Ein­fach muss es sein und tun­lichst in einer End­los­schleife zu singen. Das Reper­toire ist über­wie­gend kon­ser­vativ, text­liche Aneig­nungen von aktu­eller Pop­musik sind selten. Als vor einigen Jahren Werder Bremen seine Fühler nach dem Bie­le­felder Patrick Owo­moyela aus­streckte, adap­tierten die Bie­le­felder Fans einen Song der Gruppe Fettes Brot“ und dich­teten Lasst die Finger von Owo­moyela“ – doch solche aktu­ellen Bezüge bleiben die Aus­nahme. Statt­dessen singen die Fans die Unter­hal­tungs­musik aus dem Keller ihrer Eltern“, sagt Rein­hard Kopiez. Viele Lieder werden mitt­ler­weile so stark mit dem Fuß­ball asso­zi­iert, dass man Mühe hat, die Ori­gi­nale zu benennen. Dass Zieht den Bayern die Leder­hosen aus“ auf dem Beatles-Klas­siker Yellow Sub­ma­rine“ beruht, erin­nert man noch. Ebenso, dass Olé, hier kommt der BVB“ und Steht auf, wenn ihr Schalker seid“ Cover­ver­sionen des Pet-Shop-Boys-Hits Go West“ sind (der wie­derum eine Inter­pre­ta­tion eines Songs der Vil­lage People ist).

Und ihr wollt Deut­scher Meister sein?“

Dann aber wird es schwie­riger. Cottbus, Cottbus, 2. Liga, wie ist das schön, euch nie mehr zu seh‘n“? Richtig, die Titel­me­lodie der TV-Serie Flipper“. Bruno Lab­badia, oh-oh-ho-ho-ho“? Der Italo-Disco-Smasher Vamos à la playa“. Doch wer weiß schon, dass Und ihr wollt Deut­scher Meister sein?“ eine Adap­tion des Gos­pels Over in the Glo­ry­land“ dar­stellt, und dass der so genannte Soccer-Rhythmus mit dem Finale Deutsch­land!“ oder Sieg!“ seinen Ursprung im Song Hold Tight“ der Gruppe Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich“ aus dem Jahr 1966 hat?





Als gesi­cherte Erkenntnis gilt, dass die Fans sich nicht vor­schreiben lassen, was sie zu singen haben. Ver­suche von offi­zi­eller Seite, den Anhän­gern einen Chant quasi von oben zu ver­ordnen, sind in der Regel zum Schei­tern ver­ur­teilt. Die Tri­bünen sind da ein im besten Sinne anar­chis­ti­sches Refu­gium. Gegen­bei­spiele gibt es wenige, eines aller­dings ging um die Welt. Als wäh­rend der EM 1996 der Sta­dion-DJ Steve Kemsley beim Spiel Eng­land gegen Schott­land das Stück Three Lions“ mit der mar­kanten Refrain­zeile Football’s coming home“ ein­spielte, war dies die Geburts­stunde eines inzwi­schen euro­pa­weit ver­brei­teten Sta­dion-Ever­greens.

Eines muss man den Briten lassen: Sie sind für viele Klas­siker des Genres ver­ant­wort­lich. Einer der berühm­testen stif­tete gar den Titel für ein Buch über Fan­ge­sänge, Two Andy Gorams“. Als näm­lich bei der Tor­hü­ter­le­gende der Glasgow Ran­gers Schi­zo­phrenie dia­gnos­ti­ziert wurde, sangen schot­ti­sche Fans es zur glei­chen Melodie wie Es gibt nur ein‘n Rudi Völler“: Two Andy Gorams, there’s only two Andy Gorams.“ Nicht immer leicht hatte es auch der Stürmer Bobby Zamora aus Brighton, über den die eigenen Anhänger zahl­reiche Chants zur Weise des Dean-Martin-Gas­sen­hauers Amore“ dich­teten. Kei­nes­wegs alle davon waren schmei­chel­haft, wie das fol­gende Bei­spiel demons­triert, das wohl illus­trieren soll, dass Mr. Zamoras Chan­cen­ver­wer­tung sub­op­timal war: When you are in row Z and the ball hits your head – it’s Zamora.“ Dass die Brighton-Fans den fehl­baren Angreifer den­noch liebten, zeigt diese Modi­fi­ka­tion: When the ball hits the net and the women get wet – it’s Zamora“. Alles eine Frage der Tages­form.

Natür­lich sind nicht alle Gesänge lustig (und lustig gemeint). In der DDR-Ober­liga ent­liehen sich unter­schied­liche Fan­gruppen den Song Lady in Black“ von Uriah Heep und sangen darauf den bit­teren Text: 1000 Meter im Qua­drat, Minen­feld und Sta­chel­draht! Wisst ihr, wo ich wohne? Ich wohne in der Zone!“ Dass das Lied in man­chen ost­deut­schen Sta­dien noch heute into­niert wird, sagt einiges über den Stand der Wie­der­ver­ei­ni­gung aus.
Schott­lands Tartan Army“ gilt als eines der fairsten und krea­tivsten Fan­lager. Wir frit­tieren euch die Pizza“, schmet­terten sie unlängst gegen Ita­lien, in Anspie­lung auf die urge­wal­tige Kol­li­sion zweier fuß­bal­le­ri­scher und kuli­na­ri­scher Extreme. Doch von den posi­tiven Schwin­gungen der Län­der­spiele ist in der Liga wenig zu spüren. Im Gegen­teil, die schot­ti­sche Pre­mier League SPL hat seit Sai­son­be­ginn das Singen zumin­dest teil­weise ver­boten. Lieder mit reli­giösem oder poli­ti­schem Hin­ter­grund sind nun tabu. Starker Tobak und ein wei­terer Nacken­schlag von Seiten der poli­tisch Über­kor­rekten, die ja auch Ziga­retten aus dem Sta­dion ver­bannt haben, mag der Außen­ste­hende denken. Doch die neuen Regeln sind Teil einer natio­nalen Initia­tive zur Aus­rot­tung des so genannten Sek­tie­rer­tums. Katho­liken und Pro­tes­tanten, Repu­bli­kaner und Unio­nisten können sich nun einmal nicht rie­chen, und die Fuß­ball­sta­dien sind zu Arenen für die ver­bale Aus­tra­gung des Kon­flikts ver­kommen. Vor allem das so genannte Old-Firm-Derby zwi­schen Celtic und den Ran­gers wird regel­mäßig zum Brenn­punkt. Die Song­texte haben es in sich, gerne wird in Blut gebadet oder der Papst als Nazi ver­un­glimpft.

In den Sta­dien pas­siert meis­tens nichts“, weiß Richard Ben­jamin von der Kam­pagne Nil By Mouth“, die sich der Aus­rot­tung des Fana­tismus ver­schrieben hat. Diese Lieder werden aber auch durch das Fern­sehen über­tragen. Die Leute hören sie, gehen nach draußen und schlagen auf den nächst­besten ein, der das fal­sche Trikot trägt. Die Pro­vo­ka­tion der geg­ne­ri­schen Fans ist immer Teil des Fuß­balls gewesen, doch wenn sie die Reli­gion zum Gegen­stand macht, gehört das in die­selbe Kate­gorie wie Ras­sismus und muss auch genau so geahndet werden.“ Als Strafe für den Fan, der ver­se­hent­lich die fal­sche Seite im Gesangs­buch auf­ge­schlagen hat, drohen bis zu zehn Jahre Haus­verbot in allen schot­ti­schen Sta­dien sowie bei Aus­wärts­spielen der Natio­nal­mann­schaft.

Was aus der Distanz wie unver­hält­nis­mä­ßiger Aktio­nismus wirkt, ist vor Ort trau­riges All­tags­ge­schäft. Durch Schott­land ver­läuft ein tiefer Riss. Vor jedem Spiel sto­cken die Kran­ken­häuser ihre Beleg­schaft auf. Selbst in den Not­auf­nahmen besingen ver­letzte Ran­gers-Fans die grün geklei­deten Ärzte noch als Fenians (mili­tante iri­sche Natio­na­listen, Anm.d.Red.) und beschimpfen Celtic-Fans die Schwes­tern wegen ihrer blauen Arbeits­klei­dung“, weiß Ben­jamin. Welche Sym­bol­kraft die Songs haben, zeigte vor einigen Jahren der tra­gi­sche Fall des 16-jäh­rigen Thomas McFadden, der von zwei Ran­gers-Fans ersto­chen wurde. Zuvor hatten sie sich ein Gesangs­duell gelie­fert. Augen­zeugen berich­teten im Pro­zess, wie McFadden schwan­kend und mit vier Mes­ser­sti­chen im Ober­körper die Celtic-Hymne Fields of Athenry“ sang, bevor er wenig später auf dem OP-Tisch starb.

Alles, was zu dumm ist, um gespro­chen zu werden, wird gesungen

In Ser­bien hin­gegen wünscht man sich mit­unter den Stumm­film oder zumin­dest Fern­sehen ohne Ton zurück. Wenn etwa Roter Stern Bel­grad ein Heim­spiel bestreitet, gerät das regel­mäßig zur Freak­show der übelsten Res­sen­ti­ments. Von ras­sis­ti­schen Ent­glei­sungen über kol­lek­tive Hit­ler­grüße bis hin zur Ver­herr­li­chung ser­bi­scher Kriegs­ver­bre­chen in Sre­bre­nica („Ein Messer, ein Sta­chel­draht – Sre­bre­nica!“) ist alles zu haben. So gilt das Match gegen Dynamo Zagreb im Mai 1990 für viele His­to­riker als ein Aus­löser des Bal­kan­krieges, obwohl es nach nur zehn Minuten ein Ende fand, weil natio­na­lis­ti­sche Fan­ge­sänge eine Sta­di­on­schlacht epi­schen Aus­maßes ange­sta­chelt hatten. Zwei Jahre später kam es im span­nungs­ge­la­denen Stadt­derby gegen Par­tisan Bel­grad zu einer bizarren Macht­de­mons­tra­tion ser­bi­scher Milizen, die durch Zur­schau­stel­lung kroa­ti­scher Orts­namen die beiden ver­fein­deten Fan­lager in Hass­ge­sängen gegen den Nach­barn ver­einten. Die Kroaten wie­derum lassen sich auch nicht lumpen. So wird von den Anhän­gern der kroa­ti­schen Natio­nalelf noch heute gesungen: Oh, du Mutter Kroa­tiens, du sollst nicht trauern. Alle Falken werden für dich ihr Leben geben.“ Wie sagte doch einst Vol­taire? Alles, was zu dumm ist, um gespro­chen zu werden, wird gesungen.

Bei man­chen Spielen ist es viel­leicht tat­säch­lich besser, wenn sie nicht statt­finden, so bei einem Freund­schafts­spiel des FC Mill­wall, das durchaus Poten­zial für die Geschichts­bü­cher gehabt hätte. Kurz nach den Lon­doner Ter­ror­at­ta­cken auf Busse und U‑Bahnen hatte der Klub – ohnehin nicht gerade das kos­mo­po­li­ti­sche Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum des eng­li­schen Fuß­balls – eigent­lich einen Kick gegen die Natio­nalelf des Iran auf dem Zettel gehabt. Das Spiel fand nie statt, weil die Sicher­heits­be­denken zu groß waren. Etwas schade, wie man mit Blick auf all das ver­schwen­dete Hirn­schmalz kon­sta­tieren muss. Mit großer Inbrunst hatten die Mill­wall-Fans bereits mar­kige Sprüche für die Iraner gebüf­felt und dabei echte Perlen geboren. You’re next and you know you are“ sollte einer der Songs sein und die Iraner ele­gant auf ihre Posi­tion auf der Schwarzen Liste des Pen­ta­gons hin­weisen. Oder, als Remi­nis­zenz an einen alten Gazza-Klas­siker und adres­siert an die ver­schlei­erten ira­ni­schen Damen: Get your face out for the lads“.

In Lon­doner Sta­dien schätzt man den herz­haften Humor und kennt keine Selbst­zweifel. Viel­leicht ist der AFC Wim­bledon eine der wenigen Aus­nahmen. Der Klub hat seine inof­fi­zi­elle Fan­hymne vom Vor­gänger FC Wim­bledon über­nommen, der vom Eigen­tümer ja bekannt­lich nach Milton Keynes ver­schleppt worden ist. Im Cham­pa­gner Song“ geht es deftig zur Sache, er ist eine Reak­tion auf die Läs­ter­mäuler der Gäs­te­tri­büne, die sich über die Fuß­ball­fans aus dem feinen Haupt­stadt­be­zirk lustig gemacht hatten. Wir trinken Cham­pa­gner und schniefen Koks, und wir haben hier echte Ladies. Ihr habt Scheiß­jobs, macht’s mit euren Hunden und eure Frau geht auf den Strich.“ Im eng­li­schen Ori­ginal war der Song mal ganz lustig, vor allem, als es in bes­seren Tagen gegen Liver­pool oder New­castle ging. Nun aber muss sich der neu gegrün­dete Klub erst wieder die Divi­sionen hoch­ar­beiten. Und wenn in einem Spiel gegen Fisher Ath­letic 323 zah­lende Zuschauer gezählt werden und in der Gegen­kurve nur zwei alte Männer stehen, fehlt der Cham­pa­gner­nummer der Pfiff. Oben­drein ver­schreckt der Text die eigenen Anhänger, junge Fami­lien zum Bei­spiel oder ältere Herr­schaften. Nicht wenige Fans würden des­halb lieber ganz auf ihn ver­zichten oder ihn erst dann aus der Mot­ten­kiste holen, wenn es irgend­wann wieder gegen grö­ßere Kaliber geht.

Auch bei den Nach­barn an der White Hart Lane haben sich Zweifel über das eigene Liedgut ein­ge­schli­chen. Als 1936 die Mosley-Faschisten durch die Straßen mar­schierten und auch in Tot­tenham Get rid of the yids“ blökten, da begannen die Spurs-Fans damit, sich mit ihren Gesängen neben ihre jüdi­schen Nach­barn zu stellen. Yid Army“ heißt seitdem ihr Schlachtruf. Was einmal ein rüh­render Akt der Soli­da­rität und Iden­ti­täts­stif­tung war, ist heute für Viele zu einem Ärgernis geworden. Dau­er­kar­ten­be­sitzer Mark Per­ryman macht sich so seine Gedanken: Wenn ich selbst, wie die über­große Mehr­heit der Spurs-Fans, kein Jude bin, darf ich auch diesen Begriff nicht ver­wenden, der schlichtweg abschätzig ist.“ Das eigent­liche Pro­blem aber ist die Reak­tion der geg­ne­ri­schen Fans. Gas a Jew, Jew, Jew – Put him in the oven cook him through“, singt man bei Chelsea, und hier soll ganz bewusst auf eine Über­set­zung ver­zichtet werden.

Unser Liedgut beruht auf Arte­fakten der impe­rialen Ver­gan­gen­heit“

Wenn­gleich Mark Per­ryman den Yid-Army“-Sprechchören lieber früher als später ein Ende setzen würde, so weiß er doch um die rei­ni­gende Kraft eines ordent­li­chen Sta­di­on­ge­sangs. Im Dienste dessen hat er auch als Koor­di­nator der London Eng­land Fans“ viel um die Ohren. An das Deutsch­land-Spiel im August denkt er nicht gerne zurück: Ihr habt nicht nur gewonnen, son­dern auch mehr Lärm gemacht. Aber wenn man in Wem­bley den gesamten zweiten Rang mit 18 000 Scampi-Essern besetzt, die zehn Minuten vor der Halb­zeit gehen, zehn Minuten nach Anpfiff wie­der­kommen und nicht einen ein­zigen Song singen, dann ist da nicht viel zu machen. Euer ›Heim­spiel in Wem­bley‹ hat es ganz gut getroffen.“ Per­ryman ist einer von den Eng­län­dern, die nicht gleich Pus­teln am Hals kriegen, wenn sie über Deutsch­land spre­chen, im Gegen­teil. Wir Eng­länder machen zwar immer viel Lärm, uns fehlt aber das krea­tive Moment aus der Klub­kultur, das die Gesänge in den Ligen so ein­zig­artig macht. Was sollen wir singen? God save the queen? Bri­tania rules the Waves? Unser Liedgut beruht auf Arte­fakten der impe­rialen Ver­gan­gen­heit.“

Die Eng­länder sind aller­dings nicht die ein­zigen, die dieses Pro­blem haben. Wie man über­haupt sagen muss, dass das Tri­bü­nen­singen auf Klub­ebene besser funktio-niert als im Natio­nal­mann­schafts­kon­text. Für einen Experten wie Rein­hard Kopiez war des­halb auch die WM 2006 eine Ent­täu­schung: Da ist wenig hängen geblieben. Es sind aber auch zu hete­ro­gene Gruppen, die da zusam­men­sitzen.“ Tat­säch­lich hat nur ein ein­ziger Chant den Weg von der Welt­meis­ter­schaft in die Bun­des­liga gefunden, und das ist der Song Seven Nation Army“ der Rock­band White Stripes“. Ins Tur­nier gebracht wurde das Stück von den ita­lie­ni­schen Fans, zuerst gesungen wurde es aber in der Serie A von den Anhän­gern des AS Rom. Jetzt ist es auch in jedem zweiten deut­schen Sta­dion zu hören.

Solche Über­nahmen gibt es inzwi­schen häufig, was den Lie­dern nicht immer zuträg­lich ist. You’ll never walk alone“ wird mitt­ler­weile überall und so oft gespielt, dass der Schmacht­fetzen dabei ist, sein Cha­risma zu ver­lieren. Ein aktu­elles Bei­spiel aus der Bun­des­liga ist der Song So geh’n die…“ zur Melodie von (pardon!) Zehn kleine Neger­lein“, den die Fans des VfL Bochum für sich rekla­mieren. Erst­mals gesungen worden sein soll das inter­ak­tive Stück nach dem Sieg des VfL gegen Schalke zum Ende der letzten Saison. So geh’n die Schalker, die Schalker, die geh’n so…“ sang man darauf im Ruhr­sta­dion in gedämpfter Stimm­lage und gebückter Hal­tung, um dann bei der Zeile So geh’n die Bochumer!“ in ein for­sches Timbre zu wech­seln und aus­ge­lassen zu hüpfen. Mitt-ler­weile feiern aber auch Bie­le­felder oder Bremer so ihre Siege.

Viel­leicht ist dies ein Grund dafür, dass der Chant nicht zum Fan­ge­sang des Jahres“ gewählt worden ist. Die Aus­zeich­nung wird von der Deut­schen Aka­demie für Fuß­ball­kultur“ ver­geben, geur­teilt hat eine elf­köp­fige Exper­ten­jury aus Jour­na­listen, Fan­for­schern und Akti­visten. Witzig, spritzig, kämp­fe­risch und mit Pathos“ sollten die Songs sein, sagt Chris­toph Zitz­mann von der in Nürn­berg ansäs­sigen Aka­demie. Gewonnen hat das Schlumpf­lied“ der Anhänger von Mainz 05, die sich nun über 500 Liter Frei­bier freuen können, damit alle, die mit Inbrunst gesungen haben, auch davon pro­fi­tieren.“ Die Vor­auswahl traf die Aka­demie in Zusam­men­ar­beit mit der Web­site fan​ge​saenge​.de, einem kos­ten­losen Portal für Lieb­haber des Genres. Einer der Betreiber ist Sascha Kurth, der auch die Sän­ger­fibel Lieder aus der Kurve“ mit­ver­fasst hat. Wir sind die ein­zige unkom­mer­zi­elle Site in Europa, von Fans für Fans“, sagt Kurth nicht ohne Stolz. Der 30-Jäh­rige weiß viel, wenn nicht alles über die Fan­ge­sänge hier­zu­lande. Die Besten in Deutsch­land seien über die Jahre gesehen die Frank­furter, meint er, da ist man sich in der Szene auch weit­ge­hend einig“. Ein Geheim­tipp sei der Mob aus älteren Münchner Ultras, der bei den Spielen der Bayern-Ama­teure den Ton angibt: Die sind gesangs­tech­nisch unglaub­lich und singen 90 Minuten durch. Ich habe 130 Gesänge gezählt, davon 85 ver­schie­dene. Das muss Welt­re­kord sein.“

Einige davon finden sich auch auf fan​ge​saenge​.de, wie dort über­haupt ein rie­siger Fundus zum Down­load bereit steht, die ganze Palette der Emo­tionen. Vom mar­tia­li­schen Pathos der Cannstatter Jungs aus Stutt­gart („Unsere Farben sind weiß und rot, steh’n zusammen bis in den Tod“) bis zum Sar­kasmus der leid­ge­prüften Anhänger des 1. FC Köln: Jetzt steigen wir wieder auf, dann steigen wir wieder ab, dann wir wieder auf, und dann steigen wir wieder ab. Das finden wir lustig, weil wir bescheuert sind.“ Man­ches, was in der Kurve zum Besten gegeben wird, ist aber auch ein­fach nur gaga. So wollte einst ein irri­tierter Zuschauer im Sta­dion des LR Ahlen fol­genden Text gehört haben: Wir singen Trikot aus Marmor, Trikot aus Marmor…“ Knapper Kom­mentar in einem Fan­forum: Die hatten wohl ein Bier zu viel.“