München, am 25. Juni 1988. Im Europameisterschaftsfinale zwischen den Niederlanden und der Sowjetunion steht es nach 54 Minuten 1:0 für das Oranje-Team, als der ehemalige Ajax-Spieler und nun bei Milan aktive Marco van Basten mit einem fantastischen Volleyschuss Torwart Rinat Dassajev überwindet und das Spiel entscheidet. Die Flanke von der linken Seite kommt vom 37-jährigen Ajax-Mittelfeldakteur Arnold Muhren. Schon 15 Jahre zuvor, im März 1973, hatte Muhren mit Ajax Amsterdam im ebenfalls ausverkauften Münchner Olympiastadion gespielt.
Im Viertelfinal-Rückspiel des Europapokals der Landesmeister hatten die Holländer gegen Bayern München mit 1:2 verloren – ohne den verletzten Johan Cruyff, aber mit Muhrens älterem Bruder Gerrie. Da aber Ajax das Hinspiel durch Tore von Cruyff, Gerrie Muhren und zweimal Arie Haan mit 4:0 gewonnen hatte, reichte die knappe Niederlage allemal, um in die Vorschlussrunde zu kommen.
Den Bruder vor der Nase
Anfang der 70er Jahre saß Arnold Muhren bei Ajax noch meist auf der Bank, sein Bruder dagegen war im linken Mittelfeld dieser bereits legendären Mannschaft gesetzt. Gerrie Muhren war ein Linksfuß mit einem enormen Laufpensumund einer großartigen Technik. Nicht zuletzt er symbolisierte im späteren Halbfinale gegen Real Madrid die Überlegenheit der Ajax-Elf. Nach einem knappen 2:1 in Amsterdam bekam Gerrie Muhren im Rückspiel beim Stand von 0:0 von Wim Suurbier den Ball. Zum Erstaunen der Gegenspieler hielt Muhren das Spielgerät bestimmt zehnmal hoch: links, rechts, links, rechts, eine Demonstration wie auf dem Bolzplatz. 100 000 fanatische Zuschauer in der spanischen Hauptstadt waren auf einmal mucksmäuschenstill. Wenige Minuten später schoss Muhren das einzige Tor des Tages, womit Ajax Amsterdam zum dritten Mal in Folge das Finale im Europapokal der Landesmeister erreichte.
Jugend forsch plus alte Hasen
1969 war es, als Ajax in diesem bedeutendsten aller europäischen Wettbewerbe zum ersten Mal das Endspiel erreicht hatte. Damals musste Gerrie Muhren als Ersatzspieler mit ansehen, wie seine Mannschaft in Madrid gegen den AC Mailand mit 1:4 verlor – und das, obwohl Ajax mit Männern wie Piet Keizer und Johan Cruyff schon damals fußballerische Extraklasse verkörperte. Nach dem verlorenen Finale dankten einige ältere Kräfte ab und junge Spieler wie Ruud Krol, Arie Haan und eben Gerrie Muhren setzten sich in der ersten Elf durch. Trotz eines herausragendes Unterbaus aus der eigenen Jugend holte Trainer Rinus Michels noch die Mittelfeldspieler Nico Reinders und Johan Neeskens sowie mit Horst Blankenburg einen Abwehrrecken aus Deutschland nach Amsterdam. Mit diesen Transfers hatte der knüppelharte Michels – er nannte seine Spieler nicht beim Namen, sondern rief ihre Rückennummern – eine Weltklassemannschaft beisammen.
1970 wurde Ajax niederländischer Meister und stand in der folgenden Saison wieder im Landesmeister-Finale. Im Londoner Wembley-Stadion hatte Panathinaikos Athen beim 2:0‑Sieg der Holländer vor 100 000 Zuschauern (Tore durch Dick van Dijk und Arie Haan) nicht viel zu bestellen.
Hinten links, Rechtsaußen, Libero: Cruyff war überall
Kurz darauf unterschrieb Cruyff bei Ajax einen Siebenjahres-Vertrag bis 1978. Vor allem er, der 500 Meter vom Ajax-Stadion entfernt geboren wurde, verkörperte den „Totaalvoetbal“ von Rinus Michels. Im Spiel gegen Panathinaikos war Cruyff überall. Er spielte hinten links, Rechtsaußen oder auch Libero. Im Finale ein Jahr später in Rotterdam war der geniale Spielmacher ebenfalls auf dem ganzen Feld zu finden und steuerte zum 2:0-
Sieg über Inter Mailand auch noch beide Treffer bei. Im holländischen Nationalteam lief es zu der Zeit noch nicht rund. Obwohl Ajax Amsterdam 1972 die beste Vereinself der Welt stellte, konnten sich Cruyff und Co. nicht für die EM qualifizieren, die in Belgien stattfand. Dafür zog Ajax 1973, nach dem Viertelfinale gegen die Bayern und dem Halbfinale gegen Real, zum dritten Mal in Folge ins Europapokalfinale ein.
Er konnte nicht ohne Ajax, Ajax konnte nicht ohne ihn.
Vor erneut 100 000 Zuschauern in Belgrad spielte die folgende,
noch immer junge, aber dennoch erfahrene Mannschaft gegen Juventus: Heinz Stuy, Wim Suurbier, Horst Blankenburg, Barry Hulshoff, Ruud Krol, Arie Haan, Johan Neeskens, Gerrie Muhren, Johnny Rep, Johan Cruyff, Piet Keizer. Ajax erwischte einen Traumstart. In der vierten Minute köpfte Rep nach einer Flanke von Blankenburg das frühe Führungstor, das der einzige Treffer in einem schwachen Spiel blieb. Vielleicht auch deshalb hielt sich die Freude der Akteure im Vergleich zu den vorigen Titelgewinnen in Grenzen. Ein weiterer Grund war der schon länger schwelende Streit zwischen Johan Cruyff und einigen seiner Mitspieler. Bereits anlässlich des Auswärtsspiels beim FC Bayern hatte es Zoff gegeben.
Cruyffs Einfluss zu groß
Cruyff war wieder einmal verletzt, doch erst im Flugzeug hatten die Kollegen erfahren, dass er nicht in München dabei sein würde. Der Individualist Cruyff eckte bei seinen Mannschaftskameraden immer wieder an, weil er stets alles besser wusste und mit seiner Meinung hausieren ging. Der Einfluss des Spielführers war nicht zuletzt wegen des großen Medieninteresses am Mann mit der Nummer 14 riesengroß. Cruyff hatte den Linksaußen Piet Keizer 1972 als Kapitän abgelöst, allerdings nur für eine Saison. Als der neue Coach George Knobel sämtliche Spieler nach ihrem Favoriten für das Kapitänsamt fragte und die meisten Keizers Namen nannten, betrachtete Cruyff dies als Affront. Er entschloss sich, den Klub zu verlassen und erzwang einen Transfer zum FC Barcelona, der nun von Rinus Michels trainiert wurde.
Ohne Johan Cruyff scheiterte Ajax in der nächsten Europapokalsaison in der ersten Runde an ZSKA Sofia, auch bei der Vergabe der nationalen Titel ging das erfolgsverwöhnte Team leer aus. Derweil entwickelten sich die Dinge für Cruyff in Barcelona ebenfalls nicht nach Wunsch. Er konnte folglich nicht ohne Ajax und Ajax konnte nicht ohne ihn. Gerrie Muhren ist sich heute noch sicher: „Mit Johan hätten wir bestimmt noch einige Male den Europapokal gewonnen.“