Vor drei Jahren wollte Augsburgs André Hahn seine Fußballkarriere noch beenden. Jetzt steht er vor seinem ersten Länderspieleinsatz. Der steile Aufstieg eines Unterschätzten.
Machen wir uns nichts vor: Wir lieben die guten alten American-Dream-Geschichten. Große Erzählungen von Typen, die mal ganz unten waren und sich dann an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen haben. Geschichten von Männern, die sich auf eine Reise begeben, voller Gefahren und Risiken, voller Kitsch und diesem Gerede von Willen und Glauben. Geschichten von Männern wie Rocky Balboa, Johnny Cash, Jay Gatsby – oder André Hahn.
Der Augsburger spielt eine überragende Saison. Er hat zehn Tore für den FC Augsburg geschossen und fünf Treffer vorbereitet. Er schlug in der Hinrunde so viele Flanken wie kein anderer Spieler (65), er reißt über zwölf Kilometer pro Spiel ab und schaffte es in dieser Spielzeit auf die Höchstgeschwindigkeit von 35,4 Stundenkilometern. Damit ist er schneller als Pierre-Emerick Aubameyang oder Franck Ribery.
Marktwert im Herbst 2010: 150.000 Euro
Nun hat er etwas geschafft, das ihm niemand zugetraut hätte. Er ist vergangene Woche für die deutsche Nationalelf nominiert worden. Dabei kickte er vor dreieinhalb Jahren noch in der Regionalliga und dachte daran, seine Fußballschuhe an den Nagel zu hängen. Denn nichts klappte, wie es sich der damals 20-Jährige erhofft hatte. Im Herbst 2010 betrug sein Marktwert 150.000 Euro, heute liegt er bei 5 Millionen Euro.
Alles beginnt Ende der Neunziger in Otterndorf, einem 7000-Einwohner-Nest bei Cuxhaven. Sehenswürdigkeiten: Das Kranichhaus, das gelbe Barockgiebelhaus und die Lateinschule. Hahn wächst auf dem Familienhof Blink auf und spielt beim örtlichen TSV Otterndorf, bei dem sein Vater einst als Handballer aktiv war. Danach folgen Vereine, die klingen wie das „Who is who“ der regionalen Amateurszene – LTS Bremerhaven, Rot-Weiss Cuxhaven, FC Bremerhaven –, nur eben nicht nach großer weiter Fußballwelt.
Hahn ist technisch nicht der beste Spieler, doch er ist ein Kämpfer und kann laufen wie kein Zweiter. Jeden Tag geht er auf dem Deich joggen, auf der einen Seite die Elbmündung, auf der anderen Seite die Felder, die Reetdachhäuser, die Kuhweiden. Hahn träumt immer noch von der großen Bundesligakarriere, von dem Rocky-Balboa-Feeling, immer weiter, immer schneller, vorbei an all den Fans, „Eye of the Tiger“, und am Ende der große Sprung, die Faust im Himmel. Freeze.
Doch er spielt abseits der großen Bühnen, kaum Zuschauer, keine Scouts, keine Berater. Irgendwie schafft er es dennoch zu seinem Lieblingsklub, dem HSV, wenn auch nur in die zweite Mannschaft. Zwischen 2008 und 2010 bestreitet er 38 Regionalligaspiele, für mehr reicht es nicht. Von Technik und Taktik hat der junge Hahn keine Ahnung. „Bei uns im Dorf hatte ich nur hoch und weit kennengelernt“, sagte Hahn mal selbstkritisch der „Süddeutschen Zeitung“. In Hamburg kann er die Defizite nicht abbauen, denn die Trainer fördern andere Spieler, sie heißen Änis Ben-Hatira, Maximilian Beister oder Sidney Sam.
Vertragsauflösung bei Oberneuland
Also geht es weiter, doch nicht nach oben. Hahn beginnt beim FC Oberneuland, einem Regionalligistem, der in den letzten Jahren überregional vornehmlich durch die Verpflichtung von Ailton bekannt wurde. Hahn erzählt heute, dass er beim Bremer Stadtteilverein beinahe um einen Vertrag betteln muss. Und dass sich die Spieler manchmal zu siebt in ein Auto quetschen, um zum Training zu fahren. Der Verein ist finanziell klamm und kann die Benzinkosten nicht zahlen.
Auch in Oberneuland gelingt nicht viel, und der gelernte Autolackierer entscheidet sich, eine Ausbildung im Versicherungsbüro seines Vaters zu machen. Er kündigt im Herbst 2010 seinen Vertrag beim FC Oberneuland. Er will zwar noch bis zur Winterpause weiterspielen, doch der Fußballtraum scheint geplatzt.
Dann aber passiert etwas, das niemand so richtig erklären kann: Hahn brilliert.
Vielleicht rennt er das erste Mal los, ohne sich Gedanken darüber zu machen, dass er irgendwo ankommen muss. Er spielt, weil es ihm Spaß macht, ohne Druck, ohne Schwere, einfach so. Vielleicht ist es einfach auch nur das Glück, was ihm vorher gefehlt hat. Das Glück, endlich mal zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. So genau kann man das heute nicht mehr sagen.
Hahn trifft in den folgenden vier Spielen siebenmal – und wird über Nacht interessant für einige Drittligisten. Die TuS Koblenz wirbt um ihn, und Hahn sagt zu. Plötzlich nimmt die Karriere wieder Fahrt auf. Von Koblenz aus wechselt er zu Kickers Offenbach, und dann kommt in der Winterpause 2012/13 ein Anruf, der seine Welt komplett auf den Kopf stellt.
Hahn sitzt im Auto und ist für einige Sekunden sprachlos. Ist da wirklich Stefan Reuter am Apparat? Möchte der Manager des FC Augsburg tatsächlich, dass er, der gescheiterte Regionalligakicker, in der Bundesliga spielt?
Er rennt „wie ein Gestörter“
Wenige Wochen später, am 18. Januar 2013, steht er zum ersten Mal für den FC Augsburg auf dem Platz. Gegen Fortuna Düsseldorf darf er zwei Minuten ran. Bei seinem dritten Kurzeinsatz verdient er sich durch eine Torvorlage einen Startplatz für die nächste Partie. Und danach geht es nur noch aufwärts – sowohl für Hahn als auch für den FC Augsburg. Die Mannschaft schafft es, in den kommenden zwölf Spieltagen den sicher geglaubten Abstieg zu verhindern, auch weil Hahn auf der rechten Seite auf und abläuft „wie ein Gestörter“. Das findet jedenfalls sein Mitspieler Marvin Hitz.
Erstmals schauen die anderen Vereine, wer ihnen da durch die Lappen gegangen ist. Augsburgs Geschäftsführer Peter Bircks sagt später mal in der „Augsburger Allgemeinen“: „Ich weiß, dass es bei Eintracht Frankfurt ziemlich gekracht hat, weil dort keiner auf Hahn aufmerksam wurde, obwohl der praktisch vor der Haustür spielte.“
Doch Hahn hat zu dem Zeitpunkt nicht mal sein ganzes Potenzial abgerufen, es schlummert noch so viel mehr in dem Spieler, und spätestens am 26. Oktober 2013 kann es jeder sehen. Beim 1:2 gegen Bayer Leverkusen gelingt ihm ein Treffer, volley und aus vollem Lauf ins Eck, an den man sich noch in ein paar Jahren erinnern wird. Es ist der 26. Oktober 2013, exakt drei Jahre nachdem er seinen Vertrag mit dem FC Oberneuland aufgelöst hat.
Aktuell steht der FC Augsburg auf Rang 9, mit Tuchfühlung zu den internationalen Plätzen, und das vollkommen verdient. „Seine Entwicklung ist sensationell“, sagt Trainer Markus Weinzierl. Heute wird er bei größeren Vereinen gehandelt. Borussia Dortmund soll interessiert sein.
Nach Haller wieder ein Nationalspieler aus Augsburg
Vorige Woche bekommt Hahn erneut einen Anruf. Am anderen Ende meldet sich Hansi Flick, und dann ist es wieder einige Sekunden still. Hahn solle sich nächste Woche freihalten, denn er sei nominiert worden für das Länderspiel gegen Chile. Doch Hahn will das nicht so reht glauben. „Ich dachte, ich werde verarscht“, sagt er später. Doch als kurz danach die Gratulanten Stefan Reuter und Markus Weinzierl anrufen, realisiert er langsam, was gerade passiert ist. Über 50 Jahre, nachdem Helmut Haller erstmals für den DFB auflief, hat der FC Augsburg wieder einen Nationalspieler.
Man könnte sich Hahn nun vorstellen, wie er losrennt, durch die Augsburger Altstadt, vorbei an der Fuggerei und den Fans, und schließlich den Perlachturm hinauf, wo er springt und die Faust in die Luft streckt. Doch Hahn sitzt erstmal nur da. Dann beginnt er am ganzen Körper zu zittern.