Dieser Text erschien erstmals im Jahr 2010.
Je mehr man über die WM 1978 in Argentinien erfährt, desto klarer wird: Dieses Turnier hätte niemals stattfinden dürfen. Einer der Gründe ist ein freundlich aussehender Gebäudekomplex am nördlichen Ende der belebten Avenida del Libertador in Buenos Aires. Die Anlage liegt in unmittelbarer Nähe des River-Plate-Stadions, wo viele Spiele der Weltmeisterschaft ausgetragen wurden, unter anderem auch das Finale. In diesem Stadion haben Stars wie Mario Kempes, Osvaldo Ardiles und Leopoldo Luque das Publikum verzaubert. Die geradezu hysterischen, in Himmelblau gekleideten Heimfans schrien ihre Freude heraus, als die argentinische Mannschaft Tor um Tor schoss. Als Argentinien schließlich im Finale gegen Holland triumphierte, strömten Millionen Fans auf die Straßen, um den Sieg ihrer Elf mit einer nationalistischen Inbrunst zu feiern, wie man sie nie zuvor in der Geschichte des Spiels gesehen hatte.
Im besagten Gebäudekomplex an der Avenida sah die Lage derweil ganz anders aus. Die Anstalt ist vor kurzem nachträglich in eine Gedenkstätte umgewandelt worden, doch der ursprüngliche Name prangt noch immer an der Gebäudefront: Escuela de Mecánica de la Armada, kurz ESMA – die Marineakademie. Ein schmiedeeiserner Zaun, der wie eine Kinderzimmertapete mit Booten verziert ist, schmückt die von mächtigen Bäumen und neoklassizistischen Säulen gesäumte großzügige Zufahrt. Folgt man einer kleinen Seitenstraße, gelangt man zu einem L‑förmigen Gebäudeblock. Was sich hier in den späten 70ern abspielte, bietet Stoff für jede Menge Alpträume.
„Der Ball ist immer rein“
Diego Maradona war 1978 noch zu jung, um im WM-Aufgebot zu stehen. Doch Jahre später hat er einen einprägsamen Satz gebraucht, um die Integrität des Sports zu betonen. Er gab zu, viele Fehler gemacht zu haben, bestand aber darauf, dass der Fußball an sich unschuldig sei. Wie er es poetisch formulierte: „Der Ball ist immer rein.“ Die Weltmeisterschaft 1978 bewies jedoch das Gegenteil: Der Ball kann genauso gut blutverkrustet sein.
Im März 1976 ergriff das argentinische Militär nach einem weithin begrüßten Staatsstreich die Macht. Nach zwei Jahren andauernder Anarchie unter Präsidentin Isabel Perón glaubten die meisten Argentinier naiverweise, dass es von nun an nur noch bergauf gehen konnte. Eine Welle von Entführungen und Anschlägen der revolutionären Linken hatte einen bösartigen Gegenterror von rechts hervorgerufen. Verbrannte, von Kugeln durchsiebte Leichen säumten fast täglich die Straßen von Buenos Aires. 1975 hatte es 1500 politische Morde gegeben, doch nun sollte es noch viel schlimmer kommen. Argentinien hatte bereits reichlich Erfahrung mit Militärdiktaturen gesammelt. In der Vergangenheit hatte man Umstürzler lediglich eingesperrt, irgendwann waren sie wieder frei und kämpften weiter. Das neue Regime, unterstützt von der katholischen Kirche und ausgestattet mit einem ähnlichen Wertesystem wie die Nazis, hatte einen anderen Plan: die physische Vernichtung aller, die ihnen in die Quere kamen. Staatspräsident Jorge Rafael Videla eröffnete im Juni 1978 feierlich das Turnier und überreichte nach dem Finale den WM-Pokal. Drei Jahre zuvor hatte er die Philosophie der Regierung so beschrieben: „Es müssen in Argentinien so viele Menschen wie nötig sterben, damit das Land wieder sicher ist.“
Es gibt keine Worte, die die Gräueltaten beschreiben können
Niemand weiß genau, wie viele Menschen das Regime abschlachten ließ, bevor es 1983 nach dem verlorenen Falklandkrieg gestürzt wurde. Allgemein wird von 30.000 Toten gesprochen. Die ESMA wurde zum betriebsamsten der insgesamt 340 Konzentrationslager. Einer der sadistischsten Folterer nannte sich selbst „Menguele“, in Verehrung des berüchtigten Nazi-Arztes Dr. Mengele. Die Opfer wurden von Zivilpolizisten gebracht, nachdem sie brutal aus ihren Häusern geschleift worden waren. Unter Folter verrieten sie die Namen ihrer Gefährten, die dann ebenfalls entführt wurden. Bald waren beinahe alle 2000 Mitglieder der beiden stärksten linken Gruppierungen tot. Doch der Terror nahm kein Ende und richtete sich gegen eine immer länger werdende Liste von Gruppen: Gewerkschaftler, Studenten, Anwälte, Künstler, Schriftsteller, linksgerichtete Priester, Juden, Psychoanalytiker und Schulkinder. Teilweise wurden ganze Familien ausgelöscht.
Von den 4700 Männern, Frauen und Jugendlichen, welche die ESMA betraten, überlebten nur wenige. Der Begriff „Menschenrechtsverletzung“ reicht nicht aus, um dem Geschehen gerecht zu werden. Männliche Gefangene wurden oft gleich bei der Ankunft kastriert, Folter war allgegenwärtig – ob mit elektrischen Schlagstöcken, mit Hunden, durch Waterboarding oder Vergewaltigung. Es gibt keine Worte, die die Gräueltaten beschreiben können, die an weiblichen Gefangenen, insbesondere den schwangeren Frauen, begangen wurden. Die meisten Gefangenen wurden anschließend umgebracht, ihre Leichen zerteilt und vergraben oder auf dem Sportplatz verbrannt. Zur Zeit der Weltmeisterschaft hatte man sich eine neue Entsorgungsmethode ausgedacht: „Todesflüge“. Mit Drogen betäubte Gefangene wurden aus der Stadt ausgeflogen und bei lebendigem Leib in den Atlantik geworfen. Wenn Angehörige versuchten, Erkundigungen über den Verbleib ihrer Liebsten einzuholen, leugneten die Militärs jedes Wissen. Es hieß dann lediglich, die Leute seien desaparecidos, „Verschwundene“.
„Ich hatte aufgehört zu existieren“
Während der WM vermischten sich die Freudenschreie der Zuschauer mit den gewohnten Schreien hinter den Mauern der ESMA. Bizarrerweise wurden Gefangene zum Teil sogar eingeladen, sich mit ihren Peinigern Spiele anzuschauen. Am Abend des Finales betrat der Chef-Folterer Jorge „el tigre“ Acosta den Raum. Die Überlebende Graciela Daleo erinnert sich: „Er umarmte jeden Einzelnen von uns und rief: ›Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen!‹ Ich dachte, wenn er gewonnen hat, haben wir doch verloren. Wenn dies ein Sieg für ihn ist, ist es eine Niederlage für uns.“ Die Wachen befahlen dann einigen Gefangenen, in einen grünen Peugeot 504 einzusteigen, und Acosta fuhr mit ihnen durch die Massen, die frenetisch den Sieg Argentiniens feierten. Daleo fragte ihre Bewacher, ob sie aufstehen dürfe, und reckte ihren Kopf aus dem Autodach. „Ich stand auf und sah hinaus. Ich konnte nicht glauben, was ich sah. Ströme von Menschen, die sangen, tanzten und schrien. Ich begann zu weinen, weil ich wusste, dass es niemanden interessieren würde, wenn ich rief, dass ich eine Verschwundene sei. Das war der beste Beweis, dass ich aufgehört hatte zu existieren.“
An dieser Stelle könnte man vielleicht das Plädoyer gegen die Austragung der WM 1978 abschließen. Doch da war noch mehr. Der britische Journalist Brian Glanville, der sich ausführlich mit der Aufarbeitung des Turniers beschäftigt hat, schreibt: „Es gab schmutzige Geschäfte am Scheideweg, viele schmutzige Geschäfte.“ Der argentinische Journalist Ezequiel Fernández Moores behauptet: „Die WM 1978 war die offensichtlichste politische Manipulation im Sport seit den Olympischen Spielen 1936.“ Einfach ausgedrückt: Jene Männer, die Massenmorde planten und anordneten, planten auch das Turnier. Sie stellten sicher, dass es ihren Interessen diente, und manipulierten die WM, um das Ergebnis zu erzielen, was ihnen am besten in den Kram passte: Argentinien als Weltmeister. Immerhin hielt sich die Euphorie nach diesem Triumph länger als das diktatorische Regime. Es herrscht noch immer Uneinigkeit darüber, wie viel der Durchschnittsargentinier von den Vorgängen wusste und wie viel Mitschuld ihn trifft.